11 - Von Wäldern und Umarmungen

Möglichst unauffällig wische ich mir mit dem Ärmel meines Pullovers über die Lider.

Es ist mir unangenehm, zu weinen, wenn sich Len in meiner unmittelbaren Nähe befindet.

Ein Mann wie er, der einer Gang angehört, wertet Tränen bestimmt als ein Zeichen der Schwäche.

Zum Glück scheint Len meinen kleinen Gefühlsausbruch nicht zu bemerken, denn er schaltet den Motor aus und fragt mich danach: „Sind wir hier richtig?"

„J-Ja", krächze ich mit zittriger Stimme. „Wir waren als Kinder oft hier. Es gibt ein paar versteckte Orte im Wald, die Heather besonders gern mochte. Am besten schauen wir dort zuerst nach."

Bevor mir die Erinnerungen an meine Schwester erneut Tränen in die Augen treiben können, schnalle ich mich ab und steige dann aus dem Wagen. Len tut es mir gleich.

Da wir eine Stunde Autofahrt hinter uns haben, sind die Temperaturen gefallen. Dicke Wolken hängen am Himmel und kündigen Regen an. Zusätzlich pfeift ein kalter Wind durch die Luft, der mich fröstelnd über die Arme reiben lässt.

„Ist dir kalt, Piper?" Len mustert mich besorgt von der Seite. Im Gegensatz zu mir trägt er nicht nur einen Pullover, sondern zusätzlich eine gefütterte Jeansjacke.

Ich muss zugeben, dass Len verboten gut aussieht.

Normalerweise gefallen mir Piercings und Tattoos bei Männern nicht, aber Len bildet scheinbar eine Ausnahme. Seine Erscheinung gleicht einem Kunstwerk.

Ich bin so abgelenkt von Lens funkelnden Augen, dass ich vergesse, ihm zu antworten. Erst als er erneut meinen Namen nennt, schüttele ich mich und murmele leise: „Nein, schon gut."

Dass das gelogen ist, verraten sowohl meine Stimme als auch mein bebender Körper.

Len seufzt einmal. „Ich weiß, dass wir uns noch nicht lange kennen, aber du kannst ehrlich zu mir sein, Piper. Du musst und sollst dich in meiner Gegenwart nicht verstellen, okay?"

Auch wenn es mir schwerfällt, nicke ich zögerlich.

„Gut", lächelt Len. „Dann frage ich dich einfach nochmal: Ist dir kalt, Piper?"

Damit habe ich nicht gerechnet. Len ist hartnäckiger als erwartet.

Bisher haben mir die Menschen meine Lügen immer geglaubt. Niemand hat sich je die Mühe gemacht, hinter meine Maske zu schauen.

Ich atme einmal tief durch, ehe ich Len entschlossen in die verschiedenfarbigen Iriden blicke. „Ja, mir ist ein bisschen kalt."

Um ehrlich zu sein, fühlt es sich gut an, das zu sagen, was ich denke. Es ist, als würde eine kleine Last von meinen Schultern abfallen.

Auch Len scheint mit meiner Antwort zufrieden zu sein, denn ein sanftes Lächeln umspielt nun seine Mundwinkel. „Na siehst du ... War doch gar nicht so schwierig, oder?", neckt er mich, indem er mir einmal zuzwinkert.

Was Len dann macht, lässt mich überrascht die Luft einziehen.

Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt zieht er sich seine Jeansjacke aus und hält mir diese entgegen. Noch bevor ich meinen Mund öffnen kann, um zu protestieren, schmunzelt er: „Ein Nein akzeptiere ich nicht."

Wieder einmal kostet es mich all meine Kraft, über meinen eigenen Schatten zu springen. Mit rasendem Herzen nehme ich Lens Jacke an und streife mir diese über. Sofort strömt mir sein Pfefferminzgeruch in die Nase.

Am liebsten würde ich einmal wohlig seufzen, doch ich beiße mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge.

Oh man ... Das wäre echt peinlich geworden!

Um meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, frage ich an Len gewandt: „Sollen wir jetzt mit der Suche nach meiner Schwester anfangen? Nicht, dass es gleich zu dunkel wird ..."

Sofort nickt Len. „Du kennst dich hier besser aus als ich. Ich folge dir einfach."

„Okay."

Begleitet von einem unangenehmen Ziehen in der Magengrube steuere ich den riesigen Wald an, der sich ringsherum um das Ferienhaus erstreckt.

Als Heather und ich noch jung waren, waren wir meistens am See oder auf einem Spielplatz, der sich auf einer kleinen Lichtung befindet.

Zuerst steuern wir den See an. Auf dem Weg dorthin begegnen wir vereinzelten Wanderern, doch von Heather fehlt jede Spur.

Auch am See können wir sie nicht finden.

Obwohl meine Hoffnung langsam schwindet, versuche ich optimistisch zu bleiben. Nur weil Heather den See als Kind lieber mochte, bedeutet das nicht, dass sie nicht auch auf dem Spielplatz sein kann.

Mit Len an meiner Seite durchforste ich den Wald. Da ich emotional einem Wrack gleiche, fällt es mir schwer, die Schönheit dieses Ortes zu bewundern.

Am Wegesrand erstrecken sich bunte Blumen, die einen süßen Duft versprühen. Bäume ragen bis in die Wolkenspitzen hinauf und bieten vielen Singvögeln einen Platz zur Erholung.

Immer wieder huschen Eichhörnchen vor unseren Füßen her, um ihre Nüsse im Laub zu verstecken. Selbst Rehe finden sich zwischen blühenden Sträuchern wieder.

Müsste ich nicht dauerhaft an das Verschwinden von Heather denken, dann könnte ich hier sicherlich hervorragend zur Ruhe kommen.

„Da vorne ist der Spielplatz", murmele ich nach einer Weile aufgeregt.

Automatisch verschnellern Len und ich unsere Schritte. Hoffnung steigt in mir auf und verwandelt mein Herz in einen pulsierenden Presslufthammer.

Ob Heather wohl wirklich hier ist? Ich wünsche es mir!

Wie eigentlich immer in den vergangenen Wochen rammt mir das Schicksal auch dieses Mal wieder ein Messer in den Rücken, denn Heather ist nicht auf dem Spielplatz anzutreffen. Außer zwei Rentnern, die es sich mit einer Decke auf einer Bank bequem gemacht haben, ist dort niemand.

Ich spüre, wie Tränen in meinen Augen aufsteigen und wie mein Herz in Verzweiflung ertränkt wird. Zusätzlich klammert sich die Furcht um meine Seele und lässt jegliche Farben aus meiner Welt verschwinden.

Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.

Zu Boden sinken und meinen Tränen freien Lauf lassen?

Len hat glücklicherweise eine andere Idee. „Wir sollten zurück zu dem Ferienhaus gehen und uns dort umschauen. Wenn ich mich nicht irre, hat im Inneren sogar Licht gebrannt."

Bei diesen Worten wird die Hoffnung erneut in meinem Herzen entflammt.

Direkt greife ich nach Lens Arm und ziehe ihn in die Richtung des Ferienhauses. Auf dem ganzen Weg lasse ich sein Handgelenk nicht los, sodass mein Körper von angenehmer Wärme geflutet wird.

Len folgt mir schweigend.

Ich bin ihm unheimlich dankbar dafür, dass er mir so treu zur Seite steht. Ohne seine Unterstützung hätte ich meine Schwester schon längst aufgegeben.

Nach einer Viertelstunde haben wir das Ferienhaus, in dem ich einen Großteil meiner Kindheit verbracht habe, erreicht. Wie Len gesagt hat, brennt im Inneren ein Licht. Außerdem steigt Qualm aus dem Schornstein auf und es riecht nach frischen Bratkartoffeln.

„Sollen wir einfach klingeln und fragen, ob Heather da ist?", möchte ich unsicher von Len wissen.

„Nein", überrascht mich mein Gegenüber mit seiner Antwort. „Lass uns zuerst im Garten nachschauen. Ich glaube, ich habe da gerade Stimmen gehört."

Ohne auch nur eine einzige Sekunde zu zögern, setze ich mich in Bewegung und steuere den Garten an.

Was ich dort sehe, rührt mich zu Tränen.

Zwei kleine Mädchen, die kaum älter als sechs Jahre alt sein können, wirbeln gemeinsam über die Grünfläche. Ihr kindliches Lachen erfüllt die Luft wie eine harmonische Melodie der Unbeschwertheit.

Je länger ich die beiden Mädchen beobachte, umso mehr erkenne ich Heather und mich in ihnen wieder.

Als unsere Erzeugerin damals das Abendessen vorbereitet hat, sind Heather und ich auch jedes Mal durch den Garten getobt. Meistens haben wir uns vorgestellt, Geheimagentinnen zu sein und die Welt vor einer bösen Zombieapokalypse zu beschützen.

Eine einzelne Träne kullert bei dieser Erinnerung über meine Wange.

Ich möchte die Glasperle gerade wegwischen, da richtet sich auf einmal die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen auf Len und mich. Kurz schauen sie sich verunsichert an, ehe sie mit ihren kurzen Beinchen zum Gartenzaun gelaufen kommen.

„Wer seid ihr?", möchte das Mädchen mit den blonden Engelslocken wissen. Ihre Schwester versteckt sich hinter ihr und lugt immer wieder für ein paar Sekunden über ihre Schulter.

„Das ist Piper und ich bin Len." Mein Begleiter lächelt die beiden Mädchen freundlich an. „Und wer seid ihr?"

„Das dürfen wir nicht verraten. Mama sagt immer, dass wir fremden Menschen nicht unseren Namen geben sollen."

Perplex starre ich das kleine Mädchen an. Sie erinnert mich ziemlich stark an mich selbst.

„Dann habt ihr eine sehr schlaue Mama", übernimmt Len erneut den Part des Antwortens. „Seid ihr nur mit eurer Mama hier oder ist zufällig noch eine Freundin, die Heather heißt, zu Besuch?"

Ich bin fasziniert, wie gut Len mit den beiden Mädchen umgeht. Man merkt, dass sie ihm vertrauen, denn sie schauen ihn aus funkelnden Augen an.

Normalerweise bin ich im Umgang mit Kindern überhaupt nicht schüchtern - andernfalls müsste ich auch dringend meinen Studiengang wechseln - doch jetzt gerade fällt es mir unfassbar schwer, mit den Mädchen zu sprechen.

Sie erinnern mich zu sehr an Heather und mich selbst.

Alles hier ruft Gedanken an damals hervor.

An die Zeiten, in denen noch alles gut war - wenn nicht sogar perfekt.

Während sich Len noch ein paar Minuten mit den beiden Mädchen unterhält, taumele ich langsam einige Schritte zurück. Meine Kehle schnürt sich zu und mir wird schwindelig.

Ohne es kontrollieren zu können, brechen die Staudämme in meinen Augen und gewähren den Tränen somit Zugang an die Freiheit.

Es tut weh, nicht zu wissen, wo sich meine geliebte Schwester gerade befindet. Ob sie in Sicherheit ist oder nicht ...

Ich habe Angst um sie. Sehr große Angst sogar!

Verzweifelte Schluchzer entfliehen meinen Lippen und schwirren wie verlorene Hoffnungsschimmer zum Himmelszelt empor. Mit jeder Sekunde nehmen die Kälte und die Dunkelheit um mich herum an Größe zu.

Ich fühle mich furchtbar allein und hilflos.

Wie soll ich es jemals schaffen, ohne Heather weiterzuleben?

Noch bevor ich eine Antwort auf diese Frage erlange, schiebt sich plötzlich Len in mein verschwommenes Blickfeld. Sobald er mein tränenüberströmtes Gesicht sieht, reißt er besorgt die Augen auf.

„Piper ...", murmelt er überfordert.

Eigentlich rechne ich damit, dass er nun Behauptungen über eine sorgenfreie Zukunft mit Heather und mir aufstellen wird, doch entgegen meinen Erwartungen tut er das nicht.

Wie immer steckt Len voller Überraschungen.

„D-Darf ich dich umarmen?" Len klingt unsicher. „Ich möchte dir nicht zu nahetreten, aber manchmal kann eine Umarmung Wunder bewirken."

Statt ihm zu antworten, breite ich einfach nur meine Arme aus. Zwei Sekunden später klammere ich mich wie eine Ertrinkende an Lens Oberkörper fest und vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge.

Der Schmerz, der wie ein Feuer in meinem Herzen pulsiert, bringt mich noch um den Verstand.

Ich muss mir endlich meinen ganzen Kummer von der Seele sprechen. Nur so werde ich es schaffen, auch künftig nicht die Hoffnung zu verlieren.

Außerdem bin ich es Len schuldig, ihm die ganze Wahrheit zu sagen.

Jetzt ist der perfekte Moment dafür gekommen.

„Heather ... Sie hat eine psychische Beeinträchtigung", beginne ich leise. Obwohl mein Körper noch immer von unkontrollierbaren Schluchzern geschüttelt wird, klingt meine Stimme ungewöhnlich ruhig. „Sie ... Sie hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung."

Ich merke, wie sich Len zunehmend mehr anspannt. Trotzdem bemüht er sich, mir weiterhin beruhigend über den Rücken zu streichen.

„Sie kann ihre Gefühle nicht kontrollieren. Dadurch entstehen Spannungszustände, die Heather als unerträglich schmerzhaft beschreibt. Sie versucht diesen Zustand zu ändern, indem sie sich selbst verletzt oder sich absichtlich Gefahren aussetzt. Einmal ist sie zum Beispiel über die Leitplanke auf der Autobahn balanciert und-" Ich breche ab. Die Erinnerung daran, wie ich Heather im Krankenhaus auf der Intensivstation besuchen und um ihr Leben fürchten musste, ist zu schmerzhaft.

„Die ständigen Gefühls- und Selbstwertschwankungen sind nicht nur für Heather, sondern auch für mich eine echte Belastung. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, die eigene Schwester bewusstlos im Badezimmer zu finden, weil sie sich die Pulsadern aufschlitzen wollte."

Unkontrollierbare Schluchzer, die immer lauter werden, entfliehen meiner Kehle. Ich kralle mich stärker in dem Saum von Lens Pullover fest und drücke mein Gesicht enger in seine Halsbeuge.

Es tut so weh. So unfassbar weh ...

„Meine Eltern sind nicht mit Heathers Borderline-Störung zurechtgekommen. Anfangs haben sie noch versucht, ihr zu helfen, doch irgendwann haben sie meine Schwester einfach aufgegeben. Als ich sechzehn Jahre alt war, haben sie mir Geld für eine Wohnung gegeben, damit Heather und ich ihnen nicht mehr zur Last fallen. Seitdem sorgen ihre Pflegerin Anastasia und ich für Heather."

Vermutlich kann mir Len überhaupt nicht folgen, doch er schweigt. Statt mich mit Nachfragen zu bombardieren, hält er mich fest umschlossen in seinen Armen und zeigt mir somit, dass er für mich da ist.

Nicht nur jetzt, sondern auch in der Zukunft.

„Bis heute wissen wir nicht, wodurch die Störung entstanden ist. Heather war damals bei einem Mitschüler zu Hause. Sie mussten gemeinsam ein Referat für die High School vorbereiten. Nach diesem Tag hat sich Heather verändert. Ihre Psychologen und Ärzte gehen davon aus, dass Heather sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren haben muss, doch bis heute weigert sie sich, über die Geschehnisse jenen Tages zu sprechen. Ich würde ihr so gerne helfen, Len, oder zumindest den Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, aber Heather gibt mir überhaupt keine Anhaltspunkte."

Vorsichtig löse ich mich von Len. Die Tränen haben meine Brillengläser so sehr beschlagen, dass ich sein Gesicht nicht richtig erkennen kann.

„90 Prozent der Betroffenen können nach zehn Jahren mehr oder weniger geheilt werden. Sie haben zwar weiterhin noch Einschränkungen im Leben, aber wenigstens lässt die Selbstverletzung nach", erzähle ich weiter. „Heathers Diagnose wurde vor etwas mehr als sechs Jahren gestellt. Ich bete täglich zu Gott, dass sie bald von diesem schrecklichen Fluch befreit wird."

Ich spüre, wie mir Len näherkommt. Ganz langsam platziert er seine Hände an meinen Wangen und streicht mir dann die brennenden Tränen von der Haut.

„Ganz ehrlich, Piper?", wispert er so leise gegen meine Lippen, dass sich eine Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitet. „Du bist der stärkste Mensch, dem ich jemals begegnet bin."

Daraufhin schließt mich Len erneut in seine Arme.

Sekunden verstreichen und werden zu Minuten. Minuten verwandeln sich letztendlich zu Stunden der Unendlichkeit.

Wir stehen einfach nur vor dem Ferienhaus und liegen einander in den Armen. Kein einziges Wort verlässt unsere Lippen, aber das ist auch gar nicht nötig.

Len und ich verstehen uns auch so.

Erst als die ersten Regentropfen vom Himmel fallen, löse ich mich von Len.

Da schwirren eigentlich so viele Wörter durch meinen Kopf, die ich ihm sagen möchte, doch ich schaffe es nicht, sie zu sinnvollen Sätzen zusammenzufügen.

Mein Dank gegenüber Len ist nicht in Worte zu fassen.

„Lass uns fahren, Piper", murmelt Len. „Morgen suchen wir weiter, okay?"

Ich nicke. Zu mehr bin ich gerade nicht in der Lage.

Obwohl ich traurig sein sollte, dass wir Heather nicht gefunden haben, verspüre ich einen Funken Erleichterung.

Erleichterung, weil ich endlich nicht mehr allein bin.

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