10 - Von Pommes und Ferienhäusern

Am nächsten Morgen wache ich mit fürchterlichen Kopfschmerzen auf. Das Fotoalbum, das viele schöne Momente von Heather und mir festhält, liegt noch immer neben mir.

Damit ich nicht erneut in meinen eigenen Tränenfluten zu ertrinken drohe, klappe ich das Album zu und quäle mich danach aus dem Bett.

Nach wie vor ist es ein merkwürdiges Gefühl, ohne Heather in den Tag zu starten. Wann immer ich morgens ihre Stimme gehört oder ihr ansteckendes Strahlen gesehen habe, hatte ich direkt gute Laune.

Das fehlt mir. Sehr sogar!

Im Schnelldurchlauf mache ich mich für die Uni fertig und breche dann zu meiner ersten Vorlesung auf.

Zu meiner großen Überraschung scheint Alex heute krank zu sein, denn ich erkenne seinen braunen Haarschopf nirgends zwischen den anderen Studenten. Auch wenn es gemein klingt, bin ich froh, dass er nicht in der Universität ist, denn so habe ich wenigstens meine Ruhe vor ihm und seinen endlosen Monologen.

Die Vorlesungen und Seminare rauschen wie im Flug an mir vorbei. Ehe ich mich versehe, zeigt meine Armbanduhr halb vier am Nachmittag an.

Normalerweise würde ich mich jetzt noch in der Bibliothek verschanzen, um Lehrinhalte nachzuarbeiten, doch heute schlage ich ausnahmsweise einen anderen Weg ein.

Mit schnellen Schritten und gestrafften Schultern überquere ich den Campus. Schon aus der Ferne erkenne ich die Shadows, die Dove dabei zuschauen, wie sie einen Trick auf ihrem Skateboard vorführt.

Zum Glück kann sie bei dem Sprung, den sie macht, ihr Gleichgewicht halten, und fällt nicht hin.

Ein weiteres Mal hätte ich auch keine Lust dazu gehabt, den Rettungswagen zu rufen ...

Begleitet von meinem rasenden Herzen betrete ich wenig später den Skatepark. Leider steht das Glück heute nicht mehr auf meiner Seite, denn alle Shadows drehen ihre Köpfe in meine Richtung. Besonders stechend und unangenehm empfinde ich den Blick von Devin.

Niemals hätte ich erwartet, dass ausgerechnet er zu der kriminellsten Gang von ganz Black County zählt.

„Hey Kleine!", brüllt mir Devin keine zwei Sekunden später entgegen. „Schön, dich wiederzusehen."

Automatisch versteife ich mich. Jetzt, wo ich weiß, wie gefährlich Devin wirklich ist, möchte ich mich einfach nur von ihm fernhalten.

Dass Len ein guter Freund von ihm ist, gestaltet die ganze Sache etwas schwieriger als geplant.

Während mich Dove und die anderen fünf Shadows bloß kurz mit skeptischen Blicken bedenken, kommen Len und Devin geradewegs auf mich zugelaufen. Ich kann sehen, dass sich die beiden unterhalten, aber leider verstehe ich nicht, worüber sie sprechen.

Etwa über mich?

Hoffentlich nicht!

Innerlich bete ich, dass Len Devin nichts von mir erzählt. Ich weiß, dass sie befreundet sind - scheinbar sogar sehr gut - aber mein Leben geht Devin nichts an.

Alles, was ich Len anvertraue, soll auch bei ihm bleiben und nicht in ganz Black County die Runde drehen.

Kaum ist dieser Gedankengang verpufft, kommen Devin und Len vor mir zum Stehen. Beide Männer haben ein Grinsen auf den Lippen - Lens wirkt echt, das von Devin schüchtert mich ein.

Wenn ich der Erzählung von Mike meinen Glauben schenken kann, was ich definitiv tue, dann ist Devin unberechenbar.

„Hey Piper", begrüßt mich Len schließlich. „Um ehrlich zu sein habe ich heute gar nicht mit dir gerechnet."

Bevor ich ihm antworten kann, mischt sich auch schon Devin ein. „Überhaupt kein Problem. Für süße Lebensretterinnen ist immer ein Platz in unseren Reihen frei." Im Einklang mit seinen Worten leckt er sich einmal gierig über die Lippen und zwinkert mir zu.

‚Igitt!'

Am liebsten würde ich mich vor lauter Ekel schütteln, aber stattdessen zwinge ich mich zu einem höflichen Lächeln. „Das ist nett, danke", schiebe ich hinterher.

Mir ist selbst bewusst, dass ich Devin ignorieren sollte, doch das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Unhöflich zu sein ist eine Eigenschaft, die ich nicht vertreten möchte.

„Also dann, Piper ..." Devin betont meinen Namen, als wäre ich ein Außerirdischer. „Was führt dich zu uns?"

Mein Blick landet auf Len. Seine verschiedenfarbigen Augen mustern mich aufmerksam und beginnen zu funkeln, als sie sich mit meinen Pupillen verhaken.

Erfreulicherweise sind seine Iriden nicht glasig oder rot unterlaufen, was bedeutet, dass er keinen Alkohol getrunken hat.

Ob er wohl doch intuitiv damit gerechnet hat, dass ich erneut seine Hilfe brauchen könnte?

Irgendwie fühlt sich der Gedanke, dass Len auf mich gewartet hat, schön an. Mein Herz wird warm und mein Bauch kribbelt wie eine Brausetablette.

Da mich diese neuartigen Gefühle überfordern, schüttele ich kaum merklich den Kopf, ehe ich sage: „Ich möchte mit Len sprechen."

„Schade", seufzt Devin wie aus der Pistole geschossen. „Ich dachte schon, du wärst meinetwegen hergekommen, Kleine."

Darauf weiß ich nichts zu erwidern. Zum Glück ist das aber auch nicht nötig, denn Devin klopft Len freundschaftlich auf die Schulter, zwinkert mir nochmal zu und verschwindet dann in die Richtung der anderen Shadows.

Sofort atme ich erleichtert die angehaltene Luft aus.

In Devins Anwesenheit habe ich mich alles andere als wohl gefühlt. Je weiter er aus meinem Blickfeld verschwindet, umso mehr Ruhe kehrt in meinem Körper ein.

„Du möchtest also mit mir sprechen?", lenkt Len meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Was ist los, Piper?"

Ein Blick in Lens besorgte Augen genügt und schon verpufft mein Anliegen zu Staub.

Es war eine blöde Idee, herzukommen.

Ich kann nicht ständig von Len erwarten, dass er mir rund um die Uhr bei der Suche nach Heather hilft. Er hat schließlich auch ein eigenes Leben.

„Ach, weißt du was? Das hat sich schon erledigt", sage ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Tut mir leid, dass ich dich gestört habe."

Eigentlich möchte ich auf dem Absatz kehrt machen und so schnell wie möglich von dem Skatepark hasten, doch Len hält mich vorsichtig am Handgelenk zurück. Die Stelle, die er mit seinen warmen Fingern berührt, lodert direkt wie ein Feuer.

„Jedes Mal, wenn du mich anschaust, erkenne ich Angst in deinen Augen, Piper. Ich dachte, ich hätte dir mittlerweile bewiesen, dass du mir vertrauen kannst. Bitte sei ehrlich zu mir. Mehr verlange ich gar nicht. Warum bist du hergekommen?"

Lens Worte schlagen wie eine Bombe in meinem Herzen ein und hinterlassen dort ein Chaos aus unzähligen Gefühlsfetzen.

Es tut mir unfassbar leid, dass er mir meine Furcht so offensichtlich ansehen kann.

Len ist ein guter Mensch. Er hat es nicht verdient, dass ihm die Menschen mit Angst gegenübertreten.

Ich atme ein letztes Mal tief durch, ehe ich mich dazu zwinge, Len die Wahrheit zu sagen. „Mir ist gestern Abend eine Idee gekommen, wo meine Schwester sein könnte ..." Trotz Lens vorheriger Bitte schaffe ich es nicht, meinen Satz zu Ende zu führen.

Bestimmt gibt es eine Busverbindung, mit der ich nach Rocky Village gelangen könnte. Die Dauer ist dabei nebensächlich, schließlich geht es um meine Schwester.

Während ich fieberhaft darüber nachdenke, ob es in der Nähe des Ferienhauses eine Bushaltestelle gibt, sagt Len zu mir: „Das ist toll, Piper. Nur leider erklärt das immer noch nicht, warum du hier bist."

Langsam hebe ich meinen Kopf. Lens Augen funkeln mir wie winzige Sterne entgegen.

Ich kann ihm ansehen, dass er ganz genau weiß, mit welcher Intension ich ihn aufgesucht habe. Statt mir jedoch sofort seine Hilfe anzubieten oder zu verwehren, möchte er mich aus der Reserve locken.

Es kostet mich all meine Überwindung, Len zu fragen: „Hilfst du mir?"

Ein paar Sekunden schaut mich der Shadow bloß eindringlich an, ehe ein zufriedenes Lächeln an seinen Mundwinkeln zupft. „Natürlich helfe ich dir. Das habe ich ja schließlich versprochen." Len macht eine kurze Pause, bevor er hinzufügt: „Aber nur unter einer Bedingung!"

Jetzt werde ich hellhörig.

Angst und Misstrauen kriechen in meinen Körper zurück und nisten sich wie ein Bienenschwarm unter meiner Seele ein.

Habe ich Len etwa falsch eingeschätzt? Zeigt er mir erst jetzt sein wahres Gesicht?

Gedanklich male ich mir bereits aus, wie mich Len dazu zwingt, Drogen an Minderjährige zu verkaufen oder an einem illegalen Straßenkampf teilzunehmen.

Wie eigentlich immer, kommt es am Ende aber ganz anders.

„Bevor wir damit anfangen, deine Schwester zu suchen, gehen wir etwas essen", nennt Len seine Bedingung. „Nimm es mir nicht übel, Piper, aber du hast in den letzten Tagen sehr viel Gewicht verloren. Ich möchte nicht, dass du dich vor lauter Kummer zu Tode hungerst."

Ich kann nicht verhindern, dass mein Herz stehenbleibt. Zusätzlich bilden sich brennende Tränen in meinen Augen, die ich nur mit Mühe und Not zurückhalten kann.

Len ist der erste Mensch, der nicht bloß meine äußere Hülle sieht. Er sieht auch das, was hinter meiner Fassade schlummert.

Einerseits macht es mir Angst, dass er mich wie ein offenes Buch lesen kann, aber andererseits fühle ich mich durch seine Aufmerksamkeit und Fürsorge zum ersten Mal wertgeschätzt.

Len ist anders. Er ist besonders für mich.

„Was sagst du?", reißt mich mein Gegenüber einen Atemzug später in die Realität zurück. „Haben wir einen Deal?"

Ohne zu zögern greife ich nach Lens ausgestreckter Hand, schüttele diese und murmele dann leise: „Deal!"

Kurz strahlt mich Len noch wie ein Honigkuchenpferd an, ehe er mich zu seinem dunkelblauen Golf führt, der an der Hauptstraße steht. Nachdem wir uns beide angeschnallt haben, fädelt sich Len in den Stadtverkehr ein und lenkt das Auto zu einem nahegelegenen McDonald's.

Eigentlich kann ich Fastfood überhaupt nichts abgewinnen, aber Heather und Len zuliebe werde ich wenigstens eine Kleinigkeit essen.

Wenn ich mal genauer darüber nachdenke, dann habe ich das letzte Mal gestern Morgen etwas gegessen. Ein Brot mit Käse und Marmelade. Das wars.

Ich muss unbedingt wieder geregelte Mahlzeiten zu mir nehmen, denn ich möchte mich auf keinen Fall - wie Len gesagt hat - zu Tode hungern.

In dem kleinen Imbiss angekommen, der fürchterlich nach billigem Fleisch riecht, bestellt uns Len drei Portionen Pommes und eine Cola. Obwohl ich mich dagegen zu wehren versuche, bezahlt er am Ende unser Essen.

„Danke", murmele ich, während wir Seite an Seite zu seinem Auto schlendern. „Du hättest mich aber wirklich nicht einladen müssen."

„Ich weiß." Das ist alles, was Len sagt.

Sobald wir zehn Minuten später die Pommes aufgegessen und die Cola geleert haben, nenne ich Len die Adresse des Ferienhauses. Das Navi auf seinem Handy kündigt eine einstündige Fahrt an.

Na super ... Worüber soll ich mich denn so lange mit Len unterhalten? Leider bin ich verdammt schlecht darin, eine Konversation zu starten.

Glücklicherweise nimmt Len die Zügel in die Hand, denn nach ein paar Minuten des Schweigens möchte er vorsichtig von mir wissen: „Warum bist du dir eigentlich so sicher, dass deine Schwester nicht freiwillig gegangen ist? Sie ist schließlich neunzehn Jahre alt. Es wäre doch gut möglich, dass sie einen geheimen Freund hat, bei dem sie übernachtet, oder?"

Ich schlucke schwer.

Das hier ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Len von Heathers psychischer Beeinträchtigung zu erzählen.

Auch wenn Len Antworten verdient hat, blocke ich seine Frage ab, indem ich sage: „Ich weiß es halt einfach."

Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Len daraufhin seine Stirn in tiefe Furchen legt. „Steckt deine Schwester vielleicht in Schwierigkeiten? Falsche Freunde oder Verbindungen zu Kriminellen?", hakt er wenige Sekunden später nach.

Mit jedem Wort, das Lens Lippen verlässt, wächst das Unbehagen in meinem Bauch. Er soll aufhören, so viele Fragen zu stellen! Ich bin noch nicht bereit dazu, die ganze Wahrheit über Heather offenzulegen.

„Nein", antworte ich kurz angebunden.

Heather hat ein gutes Herz. Außerdem ist Anastasia dafür da, um sie von Schwierigkeiten fernzuhalten.

„Was ist mit euren Eltern?", gibt Len zu meinem Bedauern keine Ruhe. „Hast du dort schon mal nach ihr geschaut?"

Lange halte ich diese Fragerei nicht mehr aus. Len streut Benzin in Wunden, die noch nicht verheilt sind. Wenn ich nicht aufpasse, fangen diese Wunden jeden Moment Feuer.

„Lass uns bitte einfach zu dem Ferienhaus fahren, ja?", flehe ich Len mit zittriger Stimme an. „Ich kenne meine Schwester am besten."

„Okay", lenkt Len sofort ein. Reue und ein Funken Enttäuschung schwingen dabei in seinem Unterton mit.

Auf der restlichen Autofahrt wechseln wir kein Wort mehr miteinander. Die Stimmung ist angespannt und bedrückt. Immer wieder erwische ich Len dabei, wie er seinen Mund öffnet, ihn dann aber wieder schließt.

Vermutlich sollte ich diejenige sein, die ein Gespräch beginnt, doch mir fällt beim besten Willen kein Thema ein.

Nach ungefähr einer Stunde erreichen wir endlich unser Ziel: Das Ferienhaus, in dem Heather und ich in unserer Kindheit sehr viel Zeit miteinander verbracht haben.

Nach so vielen Jahren wieder hier zu sein, weckt alte Gefühle in meinem Herzen. Gefühle, von denen ich geglaubt habe, sie wären schon längst erloschen.

Und ohne es kontrollieren zu können, lösen sich die ersten Tränen aus meinen Augen.

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