1 - Von Autos und Skateboards
Dass das Leben nicht einfach ist, habe ich schon oft am eigenen Leib erfahren müssen. Um ehrlich zu sein sogar öfter, als mir lieb ist.
Manchmal waren es nur winzige Kieselsteine, die mir in den Weg gelegt wurden, manchmal riesige Felsbrocken.
Aber ganz egal, welches Hindernis mir das Leben erschwert hat, irgendwie habe ich es immer geschafft, diese Hürde zu überwinden.
Ich weiß, dass mich einige Menschen deshalb als Kämpferin bezeichnen würden, aber das bin ich nicht. Ich versuche einfach nur in dieser Welt, die voller Ungerechtigkeit steckt, zu überleben.
Ein leises Seufzen entflieht meinen Lippen, als ich das Unigebäude verlasse und von der frischen Nachmittagsluft in Empfang genommen werde.
Vereinzelte Sonnenstrahlen kämpfen sich gerade durch die Wolkendecke, Vögel zwitschern miteinander um die Wette und der Geruch von Lavendelblüten hüllt mich in einen Schleier der Zufriedenheit.
Es ist schade, dass dieser schöne Frühlingstag in wenigen Stunden ein Ende findet und ich meine Zeit damit verbringen musste, in der stickigen Universitätsbibliothek zu hocken.
Der Großteil der anderen Studenten ist bei dem sommerlichen Wetter vermutlich an einen See gefahren und hat die Vorlesungen gegen eine Runde Beachvolleyball getauscht, doch ich hätte das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren können.
Da ich ein Stipendium erhalten habe, fühle ich mich dazu verpflichtet, jeden Tag zu lernen und alles dafür zu tun, um am Ende des Semesters meine Klausuren mit Bestnoten zu bestehen.
Für mich ist die Möglichkeit, an einer renommierten Universität zu studieren, nicht selbstverständlich.
„Soll ich dich mitnehmen, Piper? Dann kann ich dir auch mein neues Auto zeigen. Du glaubst gar nicht, wie wahnsinnig cool das aussieht!", reißt mich plötzlich die Stimme von meinem Kommilitonen Alex in die Realität zurück.
Alex studiert genauso wie ich Grundschullehramt. Seit wir uns vor etwa zwei Jahren bei einer Infoveranstaltung kennengelernt haben, dackelt er mir wie ein treudoofes Hündchen hinterher.
Auch wenn es unfair klingt, würde ich Alex auf keinen Fall als einen Freund bezeichnen. Manchmal lernen wir zusammen in der Bibliothek oder holen uns gemeinsam in der Mensa unser Mittagessen, aber ansonsten versuche ich ihn bestmöglich auf Abstand zu halten.
Ich weiß, dass Alex es nicht böse meint, allerdings ist er sehr anstrengend. Ständig redet er nur über sich selbst oder seine Wertgegenstände, die er größtenteils von seinen reichen Eltern geschenkt bekommt.
Auf Dauer sind sein Gerede und seine Selbstverliebtheit echt nicht zu ertragen!
Außerdem bin ich ein Mensch, der lieber allein ist. Wie mir meine Vergangenheit mehr als nur einmal gezeigt hat, kann ich mich sowieso auf niemanden verlassen.
„Nein danke, Alex", lehne ich schließlich das Angebot meines Kommilitonen ab. „Das ist wirklich nicht nötig. Ich fahre mit der S-Bahn."
Tatsächlich bilde ich mir ein, einen Funken Enttäuschung in Alex' mintgrünen Augen zu erkennen. Er schüttelt sich einmal, ehe er sich wieder sein typisches Zahnpastagrinsen auf die Lippen zwingt und dann sagt: „Na schön. Ich begleite dich aber noch zu der Haltestelle, okay?"
Da ich Alex nicht erneut vor den Kopf stoßen möchte, nicke ich. Natürlich wäre es mir deutlich lieber, wenn er auf dem Absatz kehrtmachen und zu seinem neuen Auto stolzieren würde, doch ich bringe es nicht über das Herz, so unfreundlich zu sein.
Allgemein versuche ich es den Menschen um mich herum immer recht zu machen, wodurch meine eigenen Bedürfnisse oftmals in den Hintergrund rücken.
Aber das ist okay. Ich bin es schließlich nicht anders gewohnt.
Gemeinsam mit Alex, der schon wieder über die tollen Felgen seines neuen Autos spricht, bahne ich mir einen Weg über den Campus. Da es für den späten Nachmittag noch relativ warm ist, sitzen die meisten Studenten in kleinen Grüppchen hier draußen und lernen zusammen oder unterhalten sich.
„Hast du eigentlich auch ein eigenes Auto?", erkundigt sich Alex irgendwann neugierig bei mir. „Falls nicht, kann ich dir gerne Tipps geben. Mein Cousin dritten Grades arbeitet in einem Autohaus von Porsche. Er würde dir bestimmt einen guten Preis machen."
Es kostet mich all meine Kraft, nicht entsetzt die Augen aufzureißen.
Mit meinem Nebenjob als Kellnerin schaffe ich es gerade so, nicht jeden Tag mit dem gleichen T-Shirt herumlaufen zu müssen. Ein Porsche ist demnach so weit für mich entfernt, wie die Sterne von der Erde. Abgesehen davon brauche ich kein Auto - erst recht keinen überteuerten Sportwagen.
Ohne einen Führerschein gestaltet sich das sowieso ziemlich schwierig ...
„Danke für das Angebot", bemühe ich mich um ein freundliches Lächeln. „Ich werde darüber nachdenken, okay?"
Wie erhofft nickt Alex zufrieden und verfällt danach wieder einem ewig andauernden Monolog.
Eigentlich müsste Alex Professor an der Universität werden und kein Grundschullehrer. Als Professor könnte er nämlich 90 Minuten lang ohne Punkt und Komma reden.
Kaum ist dieser Gedankengang vollendet, verlassen Alex und ich das Campusgelände. Ohne es kontrollieren zu können, schweift mein Blick zu dem Skatepark, der auf der linken Seite an den Campus angrenzt.
Wie jeden Tag hockt eine Gruppe von acht jungen Erwachsenen in dem Park. Sie sitzen auf ihren Skateboards, hören laut Musik und helfen ihren Gehirnzellen mit unzähligen Alkoholflaschen beim Absterben.
Seit ungefähr einem Jahr traut sich niemand mehr, den Skatepark zu betreten, weil die Shadows - der Gangname der acht Personen - den Park für sich beanspruchen.
Warum sich nicht einmal die Polizei einschaltet?
Ich habe keine Ahnung.
Soweit ich weiß, wurden die Shadows schon mit mehreren Einbrüchen, Diebstählen und Gewalttaten in Verbindung gebracht. Zur Rechenschaft gezogen wurde noch nie jemand von ihnen.
Normalerweise schenke ich Gerüchten und Vorurteilen nicht so schnell meinen Glauben, aber um die Shadows mache ich jedes Mal einen riesigen Bogen.
Sicher ist sicher!
„Ganz schön bitter, dass sich diese Versager nur Skateboards und keine Autos leisten können, oder?", möchte Alex auf einmal von mir wissen. Scheinbar ist er meinem Blick gefolgt, denn seine mintgrünen Augen fokussieren nun ebenfalls den Skatepark.
Da ich nicht weiß, was ich auf solch eine niveaulose Frage antworten soll, schweige ich.
Mir ist natürlich bewusst, dass ich Alex in seiner Ausdrucks- und Denkweise korrigieren könnte, aber das traue ich mich nicht.
„Na ja, ist auch egal", zuckt Alex wenige Sekunden später teilnahmslos mit den Schultern. „Soll dieses Gesindel halt mit ihren albernen Boards glücklich werden ..."
Im Einklang mit Alex' Worten wandert meine Aufmerksamkeit zurück zu den Shadows.
Die Shadows setzen sich aus zwei Mädchen und sechs Jungs zusammen, die ich allesamt auf Anfang 20 schätzen würde. Ich wünschte, ich würde niemanden von ihnen persönlich kennen, aber leider ist dem nicht so.
Dove Harrington, eine junge Frau, die heutzutage nur noch aus Haut und Knochen besteht, war in der Grundschule eine gute Freundin von mir. Damals hatte sie noch keine pinken Strähnchen in den Haaren und auch die Bauchtasche, in der sich Drogen bis zum Abwinken befinden, hat nicht zu ihrem täglichen Outfit gehört.
Dove und ich haben in unserer Kindheit viel Zeit miteinander verbracht. Wir hatten sogar Freundschaftsketten und eine Geheimsprache, die nur wir beide kannten.
Kurz vor der fünften Klasse ist Dove dann mit ihren Eltern weggezogen. Da ich keine Ahnung hatte, in welcher Stadt sie sich ein neues Leben aufgebaut haben, haben wir den Kontakt zueinander verloren.
Als ich Dove vor zwei Jahren zufällig in der Innenstadt von Black County über den Weg gelaufen bin, war die Überraschung riesig. Leider bestand für Dove aber kein Interesse daran, sich über die vergangenen Jahre auszutauschen, sodass sich unsere Wege erneut getrennt haben.
Auch wenn ich Dove gerne helfen würde, dem Teufelskreislauf namens Alkohol und Drogen zu entfliehen, weiß ich, dass sie diese Hilfe nicht annehmen würde. Vermutlich ist Dove schon so tief gefallen, dass ein Entkommen für sie ausweglos erscheint.
Begleitet von einem Kopfschütteln, um meine Gedanken in die hintersten Ecken meines Gedächtnisses zu verbannen, wende ich meinen Blick von den Shadows ab. Solange sie mich in Ruhe lassen, können sie meinetwegen den Skatepark weiterhin für ihre Trinkeskapaden in Anspruch nehmen.
Mir soll es egal sein, wie sie ihre Freizeit verbringen.
„Sicher, dass ich dich nicht mit dem Auto nach Hause bringen soll?", hakt Alex ein weiteres Mal nach, als wir den Bahnsteig erreicht haben. „Das wäre wirklich kein Problem für mich. Weil du es bist, müsstest du mir auch kein Spritgeld geben, Piper."
‚Wie gnädig', denke ich mir spöttisch.
Ob Alex überhaupt bewusst ist, was er da gerade gesagt hat? Vermutlich nicht.
Am liebsten würde ich meine Gedanken laut aussprechen, aber natürlich tue ich das nicht. Mit einem bemüht freundlichen Lächeln sage ich an Alex gewandt: „Danke. Beim nächsten Mal vielleicht."
Zum Glück fährt in diesem Moment die S-Bahn ein, sodass ich nicht noch länger ein erzwungenes Gespräch am Laufen halten muss.
Im Gegensatz zu mir sieht Alex traurig aus, als sein Blick auf den roten Wagons landet. „Komm gut zu Hause an und pass auf dich auf, ja?"
Ein wenig überrumpelt, weil ich Alex noch nie zuvor so besorgt gesehen habe, nicke ich. Dann husche ich schnell in die S-Bahn und lasse mich auf einem freien Platz am Fenster nieder.
Endlich kann ich einen Haken hinter diesen anstrengenden und kräftezehrenden Tag setzen. Die Tatsache, dass ich in etwas mehr als zwölf Stunden erneut in den stickigen Räumen der Universität hocken werde, verdränge ich für den Moment.
Es dauert noch ein paar Sekunden, bis sich die S-Bahn ruckelnd in Bewegung setzt. Alex steht unverändert am Bahnsteig und winkt mir zum Abschied zu.
Da ich nicht unhöflich sein möchte, erwidere ich seine Geste schnell, bevor die S-Bahn aus seinem Blickfeld verschwindet.
Wie jeden Tag fährt die Bahn an dem Skatepark vorbei, sodass sich meine Aufmerksamkeit wie von selbst auf die Shadows richtet.
Ein großgewachsener Junge mit blonden Locken und tätowierten Armen zeigt seinen Freunden gerade einen Trick auf seinem Board. Weil er vermutlich schon mehrere Liter Alkohol intus hat, kann er sein Gleichgewicht nicht halten und schlägt auf dem Asphalt auf.
Erschrocken halte ich die Luft an.
Kurz befürchte ich, dass er sich ernsthaft verletzt haben könnte, doch er rappelt sich wieder auf die Beine und schnappt sich gleich danach eine Bierflasche, die neben ihm auf dem Boden steht.
Ist das sein Ernst?!
Ich spüre, wie ich wütend werde. Wie kann man nur so leichtsinnig sein? Ich verstehe das nicht!
Begleitet von dem Zorn, der mir wie ein Schatten im Nacken sitzt, starre ich so lange zu dem Lockenkopf, bis sich riesige Tannen und Sträucher in mein Sichtfeld schieben.
Zum Glück dauert die Fahrt mit der S-Bahn nicht lange, sodass ich mich nach ungefähr zehn Minuten an der frischen Luft abreagieren kann.
Für mich ist es überhaupt nicht verständlich, wie man sein Leben einfach so wegwerfen kann. Ich hatte es in der Vergangenheit auch nicht immer leicht, aber ich habe es trotzdem irgendwie geschafft, nicht in die Dunkelheit abzurutschen.
Auf dem ganzen Nachhauseweg kreisen meine Gedanken noch um den Lockenkopf mit den tätowierten Armen.
Bestimmt hat er jetzt schon wieder so viel neuen Alkohol getrunken, dass er sich gar nicht mehr an seinen Sturz erinnern kann.
Wütend darüber, dass einige Menschen die Chance auf ein normales Leben achtlos mit den Füßen treten, fische ich den Wohnungsschlüssel aus meinem Rucksack.
Wie schon seit einigen Wochen klemmt die Eingangstür, sodass ich mich mit der Schulter dagegen werfen muss, damit sie sich öffnet. Auch der Aufzug, der ziemlich hilfreich ist, wenn man im siebten Stock wohnt, ist mal wieder defekt.
Wofür zahle ich eigentlich Miete, wenn sowieso immer alles kaputt ist?
Da ich mich bloß unnötig über etwas aufrege, auf das ich keinen Einfluss nehmen kann, atme ich einmal tief durch. Ich muss mich beruhigen, bevor ich meine schlechte Laune an Heather auslasse. Das hat sie nämlich nicht verdient.
Bemüht, an etwas Schönes zu denken, erklimme ich die vielen Treppenstufen, die in den siebten Stock hinaufführen. Zwischendurch begegne ich ein paar anderen Anwohnern, die ich mit einem freundlichen Lächeln oder einem Kopfnicken grüße.
Vor der Wohnungstür angekommen, muss ich mich kurz auf meinen Oberschenkeln abstützen, um nach Luft zu ringen. Ich sollte dringend mit Ausdauersport anfangen, sonst kollabiere ich irgendwann auf dem Weg zu meiner Wohnung.
Ein paar Sekunden dauert es noch, bis sich mein rasender Herzschlag wieder reguliert hat. Dann sperre ich die Tür auf und rufe mit einem fröhlichen Grinsen: „Heather?! Ich bin wieder zu Hause!"
Mit ausgebreiteten Armen stelle ich mich in den Türrahmen und warte darauf, dass meine Schwester in den Flur geeilt kommt, um mich zu begrüßen.
Sekunden verstreichen und verwandeln sich in Minuten, doch von Heather fehlt jede Spur.
Seltsam ... Normalerweise ist sie immer vor mir zu Hause und kann es kaum erwarten, mich wiederzusehen.
„Heather?!", rufe ich erneut, dieses Mal mit einem Hauch Panik in der Stimme.
Nachdem keine Antwort folgt, lasse ich die Tür geräuschvoll ins Schloss fallen und suche die gesamte Wohnung nach meiner Schwester ab. Ich schaue in jede Ecke und unter jeden Gegenstand, aber Heather ist nirgends zu finden.
Verdammt! Was mache ich denn jetzt bloß?
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