IV
„Dich hat es aber lange von hier fern gehalten", triezte mich Tom.
Er stand mit verschränkten Armen vor mir und sah mich kritisch an. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und berührten sich fast. Die Lippen waren zu einer feinen Linie zusammengepresst. Er wollte sein Geld haben. Dafür respektiere ich ihn.
„Hier." Ich warf ihm einen Bündel Scheine zu. Geld, dass ich im Bestattungsinstitut verdient hatte - meine Haupteinkommensquelle.
Sofort hellte sich seine Mine auf und Tom griff nach den Scheinen. Er zählte sie zweimal durch, bevor er mich mit einer Geste einlud, mich zu setzen. Mit einem Brummen nahm ich Platz und stützte die Arme auf den Tresen.
„Was hättest du denn gerne? Ich habe Bloody Mary, Bloody Sue, Bloody Gabriele und ganz exotisch Bloody Anastasia. Ich sag dir, die Russen haben einen ganz eigenen Geschmack." Tom grinste mich breit an. Er war einer dieser Menschen, die über seine eigenen Witze lachte.
„Das Übliche", brummte ich missmutig.
Mir waren diese Albereien zuwider. Ich wollte in Ruhe trinken, für einen Moment meine Sorgen und den Durst vergessen und wieder gehen.
Tom zuckte mit den Schultern und stellte mir ein Glas mit dunkler Flüssigkeit hin. Ich ergriff es und setzte es an meine Lippen. Die Flüssigkeit rann mir in den Mund und ich behielt sie für einen Moment dort, bevor ich sie genüsslich meine brennende Kehle hinunterlaufen ließ. Angenehme Wärme rann mir den Hals hinunter und taute mich von innen auf.
„Und was gibt es Neues in der Welt der Vampire?", fragte ich ihn desinteressiert.
Heute wollte ich nicht reden. Ich wollte zuhören. Meine Woche war ein einziges Trauerspiel gewesen und ich hatte nichts zu erzählen. Tom beugte sich über den Tresen und fing bedächtig an zu sprechen.
„Eins der Mädchen, das Jerry angeschleppt hatte, hat's nicht geschafft. Wir sind deswegen in Aufruhr, weil ihr Vater dicke mit dem hiesigen Polizeidezernat ist. Sie würden uns zwar niemals als das enttarnen, was wir sind. Aber sie könnten dahinter kommen, dass wir sein kleines Töchterchen auf dem Gewissen haben. Und du weißt, was passiert, wenn einer von uns hinter Gittern sitzt."
Tom sah mich bedeutungsvoll an. Ich wusste was er meinte. Es kam nicht selten vor, dass ein Blutsauger erwischt und verknackt wurde. Jeder einzelne starb in Haft. Entweder durch Selbstmord oder durch Mord getarnt als Selbstmord, angezettelt von dem obersten Vampirrat. Ich hasste sie.
Sie waren so alt wie die Zeit selbst. Sie zwangen uns Regeln auf, nach denen wir leben mussten. Sie waren dazu da, im Schatten der Menschen zu existieren. Wer gegen das Gesetz verstieß, wurde nicht selten bei lebendigem Leibe verbrannt. Man hätte uns auch einfach erschießen, oder die Kehle durchschneiden können. Doch es war seit den dunklen Tagen Tradition, daher hielten wir es auch im einundzwanzigsten Jahrhundert so. Wie primitiv!
Die Tür hinter mir wurde laut aufgestoßen und jemand begann grell zu kreischen.
„Was habt ihr Beth angetan? Was habt ihr mit ihr gemacht? Ich weiß, dass ihr es gewesen seid!"
Ich drehte mich neugierig um und war im nächsten Moment wie erstarrt. Dieses runde Gesicht und diese matschbraunen Haare erkannte ich sofort. Es war sie! Meine Unbekannte Schönheit.
Bumm bumm.
Ich fiel fast vom Hocker, konnte mich aber gerade noch an dem Tresen festhalten, bevor ich mitsamt Stuhl zu Boden gesegelt wäre. Mit wurde schwindelig, doch ich konnte mich aufrecht halten.
Aufgewühlt stand sie mitten im Raum und brach in Tränen aus. Es war anscheinend ihre Freundin gewesen, die Jeremias auf dem Gewissen hatte. Sie schlug ihre Hände vor dem Kopf zusammen und ihr Körper begann zu zittern.
„Shit. Wir müssen sie aus dem Weg schaffen", zischte Tom hinter mir.
Nein! Sie durfte nicht sterben. Aus allen Ecken strömten die Vampire langsam und gefährlich auf sie zu. Doch die Schönheit schien es nicht zu bemerken. Zu sehr war sie mit ihrer Trauer beschäftigt.
„Was habt ihr ihr bloß angetan", schluchzte sie in ihre Hände.
Bevor jemand etwas sagen konnte, war ich zu ihr gestürmt und hatte sie in den Arm genommen.
Bumm bumm!
Durch meinen Körper ging ein Stromstoß und ich wäre fast mit ihr zusammen hingefallen. Doch mir gelang es, das Unglück abzuwenden und ich stolperte bloß einen Schritt zurück. Sie sah mich wütend aus ihren braunen Augen an und stieß mich von sich.
„Lass mich los!", brüllte sie mir zu.
Um mich herum traten die anderen immer näher. Ich sah den dicken Henry, den Barkeeper Tom, den Frauenhelden Jeremias und viele andere, die ich nicht beim Namen nennen konnte. Sie hatten alle ihre Zähne gebleckt und starrten gefährlich hungrig dieses arme Ding an.
„Halt!", hörte ich mich sagen.
Ich hab die Arme und versuchte die Meute von ihr fernzuhalten. Überraschenderweise hörten sie auf mich und blieben stehen. Ein Dutzend funkelnder Augenpaare sahen mich an und ich schluckte schwer.
„Ich kümmere mich darum", sagte ich mit festerer Stimme, als ich es mir in diesem Moment zugetraut hätte.
„Wie, Ryder?", fragte mich Jeremias mit kaltem Unterton, der selbst mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Lass das meine Sorge sein."
Bevor jemand etwas erwidern konnte, umfasste ich die noch immer bebenden Schultern der Brünetten und verließ mit ihr zusammen die Spelunke. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter und ich zuckte überrascht zurück. So viel Nähe war ich nicht gewohnt. Es schnürte mir die Kehle zu.
Wo sollte ich nun mit ihr hin? Ich hatte keinen anderen Zufluchtsort als Toms Bar und meine winzige Wohnung. Zu ihr wollte ich nicht. Dann würde sie herausfinden, dass ich ihr gefolgt war und mich als gefährlichen Stalker abstempeln. Bevor ich mich entschied, blieb ich noch einen Moment im Trockenen stehen. Der Regen war zu seiner Höchstform aufgefahren und prasselte nun in Strömen auf die Erde nieder. Draußen sollten wir uns nicht zu lange aufhalten, außer ich wollte, dass sie sich eine Grippe einfing. Also musste es meine Wohnung sein.
Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg. Die ersten Schritte schwankten wir leicht hin und her. Mit ihrem zusätzlichen Gewicht hatte ich nicht gerechnet und verlor regelmäßig das Gleichgeweicht. Doch nach wenigen Metern hatte ich mich gefangen und konnte uns durch die Menschenmasse manövrieren.
Ich war erstaunt, dass uns die Menschen auf einmal Platz machten. Ich wurde weder zur Seite gestoßen, noch geschubst oder angerempelt. Fühlte es sich so an, beachtet zu werden? Es war eine ganz neue Erfahrung für mich.
Noch immer bebte das bezaubernde Wesen neben mir und ich hielt sie ganz fest im Arm. Ich versuchte ihr Sicherheit zu vermitteln. Ob es mir gelang, konnte ich nicht sagen, doch ich hoffte es inbrünstig.
Wörter: 2083
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