3
In dieser Nacht schlief ich so gut wie schon lange nicht mehr. Deswegen machte es mir auch nichts aus, dass ich schon in den frühen Morgenstunden von Hopes Geschrei geweckt wurde.
Langsam richtete ich mich auf und sah mich um. Nicht weit von mir entdeckte ich den kleinen Jungen in den Armen seiner Mutter Amy, die versuchte ihn zu beruhigen, damit die anderen noch weiterschlafen konnten. Obwohl es noch sehr früh war, drang bereits Tageslicht in die Höhle. Abgesehen von den Wachen schliefen noch alle. Ich schlüpfte aus meinem Schlafsack und schlich hinüber zu Amy und Hope. Als ich vor ihr in die Hocke ging und ihr ins Gesicht blickte, sah ich die tiefen Ringe unter ihren Augen. Der Kleine hatte sie wohl die ganze Nacht auf Trab gehalten.
»Komm, ich nehme ihn dir ab. Dann kannst du noch etwas schlafen.«
»Dankeschön, mein Schatz. Lieb von dir.«
Ich nahm ihr Hope aus dem Arm, der daraufhin vergnügt anfing zu quietschen.
»Shhh, mein Kleiner. Du willst die anderen doch nicht wecken«, flüsterte ich. Verdutzt sah mich der kleine Junge an. Ich ging mit ihm nach draußen, damit der Rest der Gruppe noch etwas die Ruhe genießen konnten und setzte mich mit ihm auf einen kleinen Felsen, der noch nicht von der Morgensonne erhitzt war. Ich liebte es, draußen an der frischen Luft zu sein. Gerade in den frühen Morgenstunden, wenn die Sonne langsam die Dunkelheit vertrieb und die Temperaturen noch auf einem erträglichen Level waren.
Hope beobachtete seine Umgebung ganz genau. An jedem neuen Ort saugte er die Eindrücke in sich auf. Ein neugieriges Kerlchen und auch so süß mit seinen rosigen Bäckchen, den blonden Locken und den blauen Augen. Verträumt sah ich ihn an.
»Du weißt, dass ich dich lieb habe, oder?«
Hope gluckste nur. Eine Antwort hatte ich sowieso nicht erwartet, aber es stimmte. Ich liebte diesen kleinen Jungen in meinen Armen abgöttisch. Ich hatte geholfen ihn auf die Welt zu bringen und das war wahrlich kein Zuckerschlecken gewesen. Denn auch wenn ich durch mein Medizinstudium auf eine Geburt vorbereitet sein sollte, sah das Ganze in der Praxis völlig anders aus. Selbst wenn man in einem vollständig ausgerüsteten Krankenhaus ein Kind zur Welt brachte, konnte es zu Komplikationen kommen. Doch in der heutigen Zeit war es eine richtige Herausforderung. Klar wurden schon immer Kinder geboren und früher gab es den ganzen medizinischen Schnickschnack auch nicht, aber die Menschen waren nun mal verwöhnt. Niemand konnte mehr mit den einfachsten Dingen auskommen. Alles musste immer besser, größer und schneller werden. Dennoch hatte es ein simpler Grippevirus geschafft, fast die ganze Menschheit auszurotten. Das hat bestimmt niemand kommen sehen. Am Höhepunkt der menschlichen Technologie wurde so ein winziger Organismus unterschätzt und der Menschheit zum Verhängnis.
Alles hatte er zunichtegemacht. Wirklich alles. Zuerst wurden nur ein paar Geschäfte und Restaurants geschlossen. Dann fielen am College immer mehr Vorlesungen aus, weil die Dozenten erkrankten. Irgendwann gab es in der Mensa kaum noch etwas zu essen. Nicht nur, weil es an Köchen und anderem Personal mangelte, sondern auch, weil kaum noch Waren geliefert werden konnten. Die ganze Infrastruktur war zusammengebrochen. Es gab niemanden mehr, der die Ernte von den Feldern oder Bäumen holte. Niemand konnte die Lebensmittel in die Geschäfte bringen. Niemand die Waren in den Fabriken verarbeiten.
Ich seufzte leise auf. Leider lernt man diese Dinge erst zu schätzen, wenn man sie verloren hat.
Wie dumm wir doch waren.
Wie oft haben meine Freundinnen und ich über unser Leben gemeckert? Immer wieder hatten wir an Kleinigkeiten etwas auszusetzen.
Die neue Bluse passte zu keiner Hose. Der süße Typ von Freitagabend hatte noch nicht angerufen. Der Professor hatte die Hausarbeit unfair bewertet. Wie naiv ich doch gewesen war. Ein kleines, dummes, naives Mädchen. Ich schüttelte den Kopf über den Gedanken an mein vergangenes Ich. Denn selbst die kleinen Dinge, die mich damals gestört hatten, kamen mir heute ziemlich unbedeutend vor.
Abgesehen von Mom’s Tod. Wie könnte das jemals unbedeutend sein? Rückblickend wäre ihr Tod ein triftiger Grund gewesen, sich zu beklagen und zu jammern. Seltsamerweise habe ich das nie getan. Nur meine engsten Freunde hatten davon gewusst und auch sie kannten nicht alle Details. Sie starb als ich elf Jahre alt war an den Folgen einer schweren Erkrankung. Mein Vater hatte mich danach allein großgezogen. Hatte mir alles ermöglicht, damit ich mir meinen Herzenswunsch erfüllen konnte – in Harvard Medizin zu studieren. Dad hatte das vollbracht. Mehr wusste keiner. Auch heute nicht. Wie ich mich fühlte, ging niemanden etwas an. Aber Mom fehlte mir so sehr. Jeden Tag aufs Neue. Wenigstens mir selbst gegenüber konnte ich es zugeben.
Beim Gedanken an meine Mutter traten mir Tränen in die Augen. Ich schluckte sie hinunter und blickte erneut zu Hope, der inzwischen eingeschlafen war. Mit der rechten Hand hielt er eine meiner Haarsträhnen fest. Das tat er oft, wenn ich ihn in den Armen hielt.
Für dieses Kind würde ich alles tun. Ich würde alles tun, um ihn und seine Geschwister, Chase und Leslie, zu beschützen. Er sollte nicht dasselbe durchmachen wie ich. Auch wenn seine Chancen deutlich schlechter standen als meine. Aber daran wollte ich nicht denken.
Ich versuchte die negativen Gefühle zu verdrängen. Amy und Peter hatten ihrem Sohn nicht umsonst diesen albernen Namen gegeben. Ich fand es anfangs kitschig, aber es war ja nicht meine Entscheidung gewesen. Mittlerweile musste ich zugeben, dass der Name zu ihm passte – und auch zu unserer Gesamtsituation. Für gewöhnlich war Hope eher ein weiblicher Vorname. Doch seine Eltern hatten den Namen schon vor der Geburt festgelegt, ohne das Geschlecht ihres Babys zu kennen. Ihnen war klar, dass die Wahrscheinlichkeit für ein Mädchen deutlich geringer war als die für männlichen Nachwuchs. In Krisenzeiten wurden schon immer mehr Jungen geboren. So will es die Natur. Und so gab uns dieser kleine Junge die Hoffnung, die wir so dringend brauchten.
Besonders heute war ich voller Hoffnung. Wenn Eric den Brunnen reparieren konnte, würden wir uns hier in L.A. niederlassen. Ich war aufgeregt und konnte es kaum erwarten aufzubrechen.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Kurz vor sieben. Um acht Uhr wollten wir uns auf den Weg machen. Ich genoss noch ein paar Minuten die sanfte Brise, die mir um die Nase wehte, bevor ich langsam und vorsichtig aufstand, um Hope nicht zu wecken. Ich ging zurück in die Höhle, wo ich auf Chase und Peter traf, die gerade beim Frühstück saßen. Peter nahm mir Hope ab, der einfach weiterschlief.
»Setz dich und iss etwas. Ihr habt einen harten Tag vor euch«, flüsterte Peter.
»Danke«, meinte ich nur und folgte seiner Anweisung.
»Wann darf ich eigentlich auch mal mit auf eine Erkundungsmission, Dad?«, ereiferte sich Chase.
»Wenn heute alles gut läuft, gar nicht«, kam die harsche Antwort seines Vaters.
Es war offensichtlich, dass ihm Chase‘ Motivation nicht gefiel. Das war nur verständlich – er hatte Angst um seinen Sohn. Chase war in seinen Augen noch nicht so weit, auch wenn er für sein Alter schon recht reif war. Zwangsläufig, wenn man unsere Situation bedachte. Eine Wachschicht traute Peter seinem ältesten Sohn durchaus zu. Alles darüber hinaus versuchte er noch von ihm fernzuhalten. Doch bald würde Chase nicht nur mehr Verantwortung übernehmen wollen, sondern auch müssen, selbst wenn das seinem Vater nicht gefiel. So war nun mal die grausame Realität.
»Och man, Dad. Ich will doch einfach nur helfen.«
Peter sah mich fragend an. Jetzt sollte ich also diese Entscheidung treffen. Na toll.
»Die Gegend ist sauber und wir könnten zusätzliche Hände und Augen gut gebrauchen. Ich pass auf ihn auf.«
Peter sah mich dankbar an und nickte. Chase war völlig aus dem Häuschen.
»Beruhige dich«, sagte ich.
»Du wirst auf Sam hören. Sie hat das Kommando. Lass mich das nicht bereuen«, wies Peter seinen Sohn an.
»Natürlich nicht, Dad. Danke! Ich packe meine Sachen.« Mit diesen Worten sprang er auf und lief davon.
»Er wird seine Sache gut machen.«
»Ja, das denke ich auch. Aber er ist mein Sohn und ich mache mir nun mal Sorgen um ihn. Da ist es egal, ob er fünfzehn oder fünfunddreißig ist.«
Ich legte Peter beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich werde mein Bestes geben, um ihn zu beschützen.«
Peter nahm meine Hand und drückte sie leicht. »Ich weiß. Ich vertraue dir.«
Ich wurde rot. »Danke.« Mehr brachte ich nicht heraus. Es rührte mich, dass er so großes Vertrauen in mich hatte. Wir kannten uns gerade mal ein Jahr.
»Ich muss los.«
»Passt auf euch auf.«
Ich nickte und ging zu David und Eric. Jetzt musste ich den beiden erstmal beibringen, dass Chase mit uns kommen würde. Immerhin bedeutete dies noch mehr Verantwortung für uns.
Erstaunlicherweise reagierten sie ganz gelassen.
»Der Kleine packt das«, meinte Eric überzeugt.
»Ich denke auch, dass es für ihn an der Zeit ist,« meinte David. »Die früheren Altersgrenzen gelten halt nicht mehr.«
»Trotzdem sollten wir gut auf ihn aufpassen«, erwiderte ich mit Nachdruck.
»Wir müssen immer gut aufeinander aufpassen, egal wie alt wir sind«, sagte David lächelnd, aber es erreichte seine Augen nicht. Unser Gespräch von letzter Nacht schien ihn immer noch zu beschäftigen.
»Gut, abgemacht. Wir passen alle gegenseitig aufeinander auf. Und jetzt lasst uns gehen, bevor es zu spät wird und wir von der Sonne gebraten werden.« Ich nahm meinen Rucksack und verließ die Höhle. Die drei jungen Männer folgten mir.
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