5.Kapitel

Am nächsten Morgen ging ich das erste Mal seit 2 Wochen wieder in die Schule. Ich zog eine schwarze Jeans und einen dunkelblauen Sweater an und band meine Haare zu einem Pferdeschwanz. Als ich mein Spiegelbild beim Vorbeigehen betrachtete, seufzte ich. Jede Eleganz war aus meiner Haltung verschwunden und meine Augen hatten das Leben verloren. So konnte das nicht weitergehen. Ich blieb stehen und richtete mich gerade auf. Schwach lächelte ich mich selber an. Es war keine große Veränderung, aber ein Fortschritt. Ich atmete tief durch. Ich musste endlich über das Geschehen hinwegkommen. Meine Trauer würde Estelle und Emma auch nicht zurückbringen. Ich packte meine Schultasche und lief runter in die Küche.
Meine Mutter sah auf, als ich die Küche betrat. Sie lächelte mich warm an und wandte sich wieder dem Herd zu. Ein köstlicher Duft lag in der Luft. Pfannkuchen. „Guten Morgen, Liebling.", begrüßte sie mich.
„Morgen.", murmelte ich und setzte mich an den Tisch.
Mom stellte mir einen Teller mit einem Pfannkuchen vor die Nase. „Danke, Mom."
Mom setzte sich mir gegenüber hin und spielte mit ihrer Tasse. Sie war nervös. Schließlich hob sie den Kopf. „Lou. Wegen gestern. Du darfst nicht denken, dass dein Vater und ich dich nicht lieben. Wir lieben dich, sehr sogar. Aber gestern war dein Vater nicht da und ich wollte David ungern allein daheim lassen. Aber wir lieben dich, Lou. Okay?", erklärte sie leise.
Ich sah auf und in ihren Augen konnte ich erkennen, dass sie ehrlich war. „Okay, Mom."
Sie lächelte.
Mein Vater betrat die Küche. Sein fröhliches Strahlen war ansteckend. „Guten Morgen.", begrüßte er uns warm. Er drückte mir einen Kuss auf die Haare und setzte sich neben mich. Mom lächelte ihn warm an.
Ich stand auf und räumte meinen Teller in die Spülmaschine. „Ich gehe dann mal.", verkündete ich gut gelaunt.
Dad sah mich verwundert an. „Wieso so gut gelaunt?", fragte er aufmerksam.
„Ich muss endlich aufhören der Vergangenheit nachzutrauern. Das würde auch nichts ändern.", antwortete ich entschlossen.
„Find ich gut.", meldete sich eine Stimme von der Tür zu Wort. Dort stand Mariella und grinste mich schief an. „Bist du fertig?", fragte sie mich.
Ich nickte.
„Super. Dann lass uns gehen.", schlug sie vor. Mariella griff nach meiner Hand und zog mich aus dem Raum.
„Bis später, Mädels.", riefen meine Eltern uns noch gleichzeitig hinterher.
Im Flur griff ich nach meinem Rucksack und folgte Mariella aus dem Haus. Schweigend liefen wir die Straßen entlang bis Mariella plötzlich das Schweigen brach. „Meinst du Es ist wirklich tot?"
Überrascht sah ich sie an. „Welche andere Erklärung gibt es? Sie kann niemals so lange unter Wasser überlebt haben."
Mariella sah mich fest an. „Diesen Wassermenschen atmen auch Unterwasser. Du weißt nicht, zu was sie noch imstande sind."
Zweifelnd runzelte ich die Stirn. „Vielleicht sind es einfach nur Taucher, die Spaß daran haben, Leute umzubringen?"
Mariella seufzte. „Ja, vielleicht. Aber ich glaube, dass da mehr dahinter steckt.", beharrte sie.
Ich antwortete nicht. Ich hatte diese Dinger gesehen. Natürlich konnten das keine Taucher gewesen sein, aber vielleicht hatte mir damals auch einfach nur mein Verstand einen Streich gespielt. Schließlich war ich in Lebensgefahr gewesen. Menschen, die unter Wasser atmen konnten und vielleicht noch mehr konnten? War da nicht zu viel Fantasie im Spiel? Andererseits machte das mit den Tauchern noch weniger Sinn. Welchen Nutzen konnten sie darin sehen, Leute zu ermorden. Vielleicht war es auch einfach die Hoffnung daran, dass Estelle und Emma noch lebten, die mich dazu brachte, über Mariellas Gedanken nachzudenken. Vielleicht konnte man sie noch retten?

...

In der Schule war es ungewohnt still. Ich schätzte, dass ich mich niemals daran gewöhnen können würde, dass der Platz neben mir leer war. Keine Zettel, keine Witze, keine Emma. Die mitleidigen Blicke meiner Mitschüler halfen nicht. Schon seitdem ich die Schule betreten hatte, waren alle Augen auf mir gelegen. Mariella hatte meine Hand genommen und die offensichtlichen Starrer angeblafft. Aber es änderte nichts. Die Schule war leer ohne Emma. Während der Doppelstunde Bio fasste ich einen Entschluss. Ich würde mehr herausfinden. Es konnte nicht sein, dass keine Wasserleichen gefunden wurden und die Menschen trotzdem tot waren. Irgendwas ging hier vor sich. Und ich war bereit es herauszufinden.

...

Nach der Schule traf ich mich mit Mariella. Sie wartete vor der Schule auf mich.
Gut gelaunt wollte sie loslaufen, doch ich hielt sie fest. „Ich habe nachgedacht. Und ich denke wir sollten  uns über die Vorfälle informieren. Vielleicht entdecken wir ja etwas, dass uns hilft herauszufinden, worum es geht.", platzte ich heraus.
Mariella lächelte. „Und ich hab mich schon gefragt, ob wir überhaupt verwandt sind. Komm, lass uns zur Bücherei gehen. Vielleicht finden wir ein Buch über die Vorfälle vor ein paar Jahren.", schlug Mariella vor.
Die Bücherei befand sich direkt neben der Schule, weswegen wir schon 5 Minuten später in der Geschichtsabteilung nach interessanten Büchern suchten. Gedankenverloren strich ich über die Buchrücken. Es würde ewig dauern, etwas zu finden. Diese Abteilung war sehr groß.
Als könnte sie meine Gedanken lesen, kam Frau Schmitt um die Ecke. Ihre bereits ergrauten Haare machten sie älter als sie war, denn in Wirklichkeit war sie noch unter 50. Ihre türkisen Augen leuchteten warm und die Lachfältchen in ihrem Gesicht waren tief. Sie ging leicht gebeugt und trug eine Brille. Frau Schmitt kannte sich hier besser aus als jeder andere. „Kann ich euch helfen?", fragte sie freundlich und zwinkerte mir zu.
Ich war häufiger hier, sie kannte mich bereits. Mariella war in Gedanken versunken und hörte nicht zu, also antwortete ich ihr. „Wir suchen Bücher über diese Meertypen. Ereignisaufzeichnungen oder Bilder oder einfach Informationen.", entgegnete ich sachlich.
Frau Schmitt runzelte die Stirn und musterte mich scharf. „Warum wollt ihr mehr über sowas wissen?", fragte sie.
Nervös ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen.
Misstrauisch ging ich innerlich auf Alarmbereitschaft. Frau Schmitt wurde nervös? Was war los? „Ach für die Schule und so. Ist ja nicht schlecht, sich zu informieren, oder?", log ich und zwang mich zu einem unbeschwerten Lächeln.
Seufzend sah sie mich an. „Verkauf mich nicht für dumm. Du willst herausfinden, was mit deiner Schwester und deiner Freundin passiert ist."
Damit traf sie genau ins Schwarze. Zögernd kam sie einen Schritt auf mich zu und legte mir die Hände auf die Schulter. „Du musst vorsichtig sein. Das letzte Mal hat sich ein Mädchen darüber informiert und wurde am Tag danach in das Meer gerissen. Tu nichts Unüberlegtes und halte dich vom Strand fern. Ich denke nicht, dass es diese Typen interessiert, wie viel du weißt. Allein schon der Versuch mehr herauszufinden, kann dich möglicherweise auf ihre Abschusslinie setzen.", warnte sie mich leise.
Ich schnaubte. „Woher sollen sie wissen, dass ich nachforsche. Diese Typen sind unmöglich Taucher, ich habe sie gesehen. Sie leben im Wasser, was bedeutet, dass sie hier am Land nichts machen können.", warf ich ein.
Eindringlich sah sie mich an. „Louana. Diese Menschen, oder was sie auch immer sind, leben und atmen unter Wasser. Du solltest ihre Möglichkeiten nicht so schnell einschränken, wenn du fast nichts über sie weißt, findest du nicht?", entgegnete die Bibliothekarin.
Ich schwieg. Sie hatte Recht. Es war unmöglich, zu sagen, zu was diese Dinger fähig waren. „Wie dem auch sei. Komm mit. Es gibt ein paar Bücher über die Geschehnisse vor ein paar Jahren. Auch einige Autoren haben Legenden und Vermutungen darüber in Bücher geschrieben.", erzählte Frau Schmitt wieder ganz geschäftlich.
Ich folgte ihr in einen weit hinten liegenden Teil der Bibliothek. Mariella folgte uns lautlos. Scheinbar war sie doch noch ein bisschen bei mir gewesen. Vor einem Regal blieb die Bibliothekarin stehen. Die Bücher waren allesamt dick und sie sahen wertvoll aus. „Die zwei untersten Reihen sind Erzählungen, Berichte und Zeitungsartikelsammlungen von vor ein paar Jahren. Die restlichen Reihen sind Legenden und Vermutungen verschiedener Autoren. Ich persönlich würde euch den italienischen Autor Andrea Costa. Seine Werke hier sind auf Deutsch übersetzt worden. Es ist ein ziemlich dickes Buch, aber sehr informativ und mit begründeten Vermutungen.", erklärte sie.
Ich lächelte dankbar. „Vielen Dank!"
„Nicht dafür, Louana. Das ist mein Job.", meinte sie.
Ihre Stimme klang resigniert. War es so schlimm, Bibliothekarin zu sein? Frau Schmitt huschte davon und ließ uns allein. Mariella sah mich an. „Ich fang mit den untersten Reihen an. Schau du dir diesen Andre Küste oder so genauer an.", forderte sie mich auf.
Ich musste grinsen. „Er heißt Andrea Costa, Ella. Das ist ein italienischer Name.", verbesserte ich sie lachend.
Mariella stimmte in mein Lachen mit ein. Manchmal war sie schon echt kalt und zickig, aber im Herzen war sie eine warme und offene Person.
Sie als große Schwester zu haben, war ein Geschenk. Plötzlich wurde sie wieder ernst. „Klingt es doof, wenn ich dir sage, dass ich froh bin, dass diese Typen nur Es und nicht dich erwischt haben?", fragte sie leise.
Fest umarmte ich sie. „Nein. Ich bin auch froh, dass du nicht dabei warst.", flüsterte ich. Mariella und ich hatten als Kinder viele Gemeinsamkeiten gehabt. Sie hatte Tiere geliebt, ich hatte Tiere geliebt. Wir waren beide geritten und hatten beide Hip-Hop getanzt. Wir sahen uns sogar ähnlicher als die anderen Geschwisterpaare in unserer Familie. Abgesehen von den Augen und der Form unserer Haare natürlich. Mariella und ich hatten als Kinder sogar ähnliche Charakterzüge und Verhaltensweisen gehabt. Aber mit der Zeit war ich etwas ruhiger und sie wilder geworden und so hatten wir uns unbewusst auseinandergelebt.
Meine Schwester schob mich von sich und räusperte sich. „Wir sollten weiter recherchieren.", überspielte sie den emotionalen Moment.
So war Mariella. Gefühle zeigen war nicht ihre Stärke und solche Momente waren für sie unangenehm. Schnell widmeten wir uns wieder den Büchern. Ich zog den dicken Band von Andrea Costa aus dem Regal und zog mich in die Ecke auf einen Sessel zurück. Der Einband war in einem braunen Farbton gehalten mit schwarzen Schnörkeln und Kreisen. „Die Menschen der See" stand in großen weißen Druckbuchstaben darauf. Neugierig schlug ich das Buch auf. Die höchstens 10 Jahre waren an dem Buch vorbeigegangen wie 100. Die Seiten waren vergilbt und der Buchrücken wies deutliche Schäden auf. Interessiert las ich das Vorwort.

Ich schreibe dieses Buch aufgrund von merkwürdigen Geschehnissen. Vor wenigen Wochen hat Italien fast all seine Bewohner verloren. Ich bin schon 70 Jahre alt, weswegen mir Auswandern sinnlos vorkam. Vor allem werden dieser Meergestalten wohl kaum Gefallen an einem alten gebrechlichen Mann finden. Ich schreibe dieses Buch auch, um festzuhalten was ich gesehen habe, denn selbst so ein alter Mann wie ich es bin, kann noch nachforschen und kombinieren. Was ich gesehen habe, wird mir kaum jemand glauben. Liest du dieses Buch vielleicht gerade, weil du nach Märchen suchst? Oder bist du ehrlich interessiert, an dem was ich denke? Was ich weiß, ist nur der Anfang, ich denke, dass es mehr zu wissen gibt, aber meine Tage sind gezählt, deswegen kann ich mich nur auf das Wesentliche konzentrieren. Italien ist Opfer eines mächtigen Elements geworden. Dieses Buch widmet sich dem Wasser. Und auch wenn es nicht so scheint, so glaube mir dennoch, dass das Wasser gefährlicher ist, als wir es ahnen können. Wir sind ihre Hoffnung, aber sie sind unser Untergang. So lese, was ich geschrieben habe, und vielleicht wirst du diese Intrigen aufdecken und damit beenden, was ich einst begonnen habe. Viel Glück, dein Andrea Costa.

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