Kapitel 3

Das Gute am unendlichen Selbstmitleid ist, dass es nur noch linear nach oben gehen kann. Und genau das passierte. Es ging aufwärts. Nein, es erfasste mich kein Traktorstrahl und zog mich in unser Raumschiff. Mal abgesehen davon, dass es so etwas Altertümliches wie einen Traktorstrahl gar nicht mehr gibt. Die Gefahr, in unerwünschten Einzelteilen am Zielpunkt anzukommen, hat man nie ganz ausschließen können. Deshalb solltest du auf jeden Fall zu flüchten versuchen, wenn du so einen sonderbaren hellen Strahl vom Himmel auf dich herabkommen siehst. Dann handelt es sich nämlich um eine noch nicht sehr weit entwickelte Spezies, die dich an Bord ihres Stellarkreuzers zu holen versucht. Immerhin giltst du für sie als noch unterentwickelter und somit interessant für Forschungszwecke. Und denen ist es egal, ob du in einem Stück oder in mehreren Teilen ankommst. Vielleicht finden sie es sogar besser, wenn du in Kleinteilen eintriffst, dann sparen sie sich wertvolle Zeit beim Sezieren. 

Na, wie auch immer, das widerfuhr mir nicht. Denn das wäre zweifelsfrei noch schlimmer als mein aktuelles Selbstmitleid und keine lineare Aufwärtskurve, das wäre nur ein neues Horrorszenario und eigentlich sogar noch schlimmer als eine Apokalypse. Denn bei einer Apokalypse besteht immerhin die geringe Chance, dass ich persönlich gar nicht betroffen bin oder getroffen werde. 

Was passiert ist: ein Nachrichteneingang. Genau jetzt. Während ich mich schon in mein schreckliches Schicksal ergeben habe. Denn mal ehrlich. Weißt du, wie du auf einem primitiven Planeten zu Fuß Tausende von Kilometern zurücklegen sollst? Mir fällt da spontan gar nichts ein. In diesen stinkenden Fahrgeräten nehmen sie nur Menschen mit Zetteln oder Währung mit. Beides habe ich nicht. Also kann ich diese Art der Fortbewegung schon mal ausschließen. Eine andere kenne ich nicht, selbst wenn es die geben sollte. 

Ja, das ist mir jetzt echt eine Lehre. Ab heute werde ich auf jeden Fall in Weltenkunde besser aufpassen. Und ich werde mich auf den Planeten, auf den ich reise, besser vorbereiten. Denn nie, nie, nie wieder will ich rote Pünktchen bekommen, die scheußlich jucken. Und ich will auch nicht ohne eine sichere Unterkunft den Tag überleben müssen. Ich hätte in meine Tasche ein Überlebenspaket mit einem Hydrozelt einpacken sollen. Das filtert die Luft der schädlichen Umgebung für einen ausgewogenen Schlaf. So ein Hydrozelt gibt es in allen möglichen Varianten, je nachdem, auf welchen Planeten man reist. Es muss rein äußerlich wie die Zelte auf dem jeweiligen Planeten aussehen, weist aber innen unsere erstklassige Technik auf. Man muss nur aufpassen, dass kein Planetenbewohner aus Versehen hineingelangt. Wie man einem primitiven Wesen die High-Tech-Technologie erklären soll, weiß ich nicht. So etwas kommt erst im letzten Schuljahr dran, von dem ich noch ein paar Jahre entfernt bin. 

Merkst du, dass ich vom Thema abschweife? Das liegt eindeutig an der unsauberen Luft, die hier alles überschwemmt. Da kann das Gehirn nicht mehr ordentlich arbeiten. Wieso haben die mich auf diesen gehirngefährlichen Planeten für eine Facharbeit geschickt? Das grenzt ja schon an mutwillige Sabotage! Einen Angriff gegen den diplomatischen Status meiner Eltern, so nach dem Motto: Wenn ihr nicht kooperiert, werden wir das Gehirn eures Sohnes zersetzen. Du verstehst, was ich meine, oder? 

Egal, zurück zum Signalton. Der Galaxie sei Dank, befinde ich mich bereits in einer menschenlosen Gegend und kann ohne Gefahr das Modul aktivieren. Dieses Mal kommt mein Vater ziemlich klar rüber. Ein Bild gibt es zwar nicht, doch die Sprachübertragung ist nahezu knisterfrei. 

„Astron, bist du beim Institut? Wir können dich noch immer nicht orten." 

Verdammt, habe ich gedacht, es geht linear aufwärts? Wieso können sie mich immer noch nicht orten? „Nein, Dad, ich habe einen sicheren Ort gesucht, wo garantiert keine Terraner herumlaufen." 

„Ah, gut, ja das erklärt es sicherlich." 

Ich runzle die Stirn. Was soll das erklären? Dass ich kein Bild habe? Dass die Tonübertragung auch noch nicht perfekt ist? Das wäre mir absolut neu, dass unsere Kommunikationssysteme zwar durch das Weltall übertragen, jedoch an ein paar terrestrischen Häuserwänden scheitern. Aber wenn er meint ... Vielleicht sollte ich den geschützten Bereich verlassen und durch dieses nieselige graue Wetter gehen. Sehen wird mich hier sowieso keiner. Und falls doch, dann führe ich eben Selbstgespräche. 

Mir fällt ein, dass die Terraner gar nicht so rückständig sind wie die Bewohner von Zephyr. Ich glaube, die haben hier sogar schon Funkeinheiten, die ohne Kabel Sprache und Bilder übertragen können. Zumindest in einem begrenzten Bereich. Dazu nutzen sie kleine externe Kästen, also portable Module, die einen ähnlichen Dienst wie unsere implantierten Module verrichten. 

„Astron, geh bitte zu einer freien Fläche, wo wirklich nichts um dich herum ist." Dads Stimme klingt metallisch und noch immer besorgt. Beruhigen kann mich das leider nicht. „Wir versuchen jetzt etwas anderes. Ich bin in unserer Botschaft in Südamerika. Über ganz Europa liegt ein sonderbarer atmosphärischer Nebel. Laut unseren Berechnungen kommt er vom Ozean und zieht allmählich über das gesamte Land." 

Ein atmosphärischer Nebel? Mein Vater weiß aber schon, dass es so etwas gar nicht gibt? Das sagen die Wissenschaftler doch immer, wenn sie ein Phänomen beobachten, das sie nicht zuordnen können. Und warum sollte ein Nebel, der vom Ozean herüberzieht, hier in Mainz sein? 

Vorsichtshalber krame ich aus meiner Tasche den Datenstick und docke ihn an mein Modul an. Die Landkarte zeigt eindrucksvoll, dass zwischen Mainz und dem Ozean noch Frankreich, Großbritannien und Irland liegen. Bis also vom Ozean irgendwas bis zu mir geströmt wäre, hätten das unsere Wissenschaftler auf jeden Fall früh genug entdeckt, um mich vorher zu retten. Mal abgesehen von der Tatsache, dass mein Vater in Südamerika ist und nicht Spanien. Also ist Spanien ebenfalls unter diesem Nebelschleier verborgen. Bei allen Galaxien, musste sich diese atmosphärische Störung ausgerechnet den heutigen Tag auswählen? 

„Hast du eine freie Fläche gefunden?" 

„Nein, Dad, noch nicht", erwidere ich. Natürlich erzähle ich ihm nicht, dass ich erst einmal meinen Standort und den Ozean angeschaut habe. Er scheint ja nicht zu merken, ob ich mich bewege oder nicht. Aber sicher ist es sinnvoll, wenn ich so schnell wie möglich zu einer freien Fläche komme. Ich will ja nach Hause. Da ist es echt egal, wo die Terraner ihre Wasserflächen haben. So weit will ich ja nicht laufen, dass ich in den Ozean stürzen könnte. 

Als ich losmarschiere, komme ich sehr schnell an meine Belastbarkeitsgrenze. Nicht, was meine sportliche Leistungsfähigkeit betrifft, sondern meine mentale Ausdauer. Eine wirklich freie Fläche gibt es nicht. Nirgends. Mainz ist zugebaut. Kannst du dir das vorstellen? Es gibt wirklich keine komplett freie Fläche. Irgendwas steht da immer herum. Entweder Häuser oder Metallbehälter oder Säulen oder auch Bäume. Ja, Bäume sind den Terranern wohl sehr wichtig. Kein Wunder, dass sie sich entschieden haben, sie als primären Informationsspeicher zu wählen. Aber das hilft mir gar nicht. So ganz und gar überhaupt nicht. 

„Dad, es gibt ein Problem. Hier gibt es nirgends eine freie Fläche. Ich bin mitten in einem Überlebenszentrum der Terraner. Und ich weiß nicht, wie lange ich brauche, um es zu verlassen." 

Ein leises Knistern deutet an, dass mein Vater etwas sagen will. Doch seine Antwort bleibt aus. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Ein kalter Schauer rieselt mir den Rücken hinunter. Er wird mich doch jetzt nicht hier stehen lassen? Bevor ich endgültig in Panik gerate, vergrößere ich die Karte von Mainz. Ich lasse mir nicht nur meinen Standort anzeigen, sondern auch die größte freie Fläche, die es in meiner näheren Umgebung gibt. Erleichtert atme ich auf. Es gibt doch so etwas, wo scheinbar nichts, aber auch wirklich gar nichts herumsteht. Wenn ich zügig laufe, kann ich in zwanzig Minuten da sein. Das klingt doch ganz gut. Zwanzig Minuten in einem atmosphärischen Nebel ist besser als eine ganze Nacht oder sogar tagelang in so was. Atmosphärischer Nebel, also echt, mir geht das nicht aus dem Kopf. Die sollten mal hierher kommen und sich das Wetter ansehen. Da ist kein Nebel, da ist nur so ein nieseliger Niederschlag. Ich runzle die Stirn, während ich mit weiten Schritten losmarschiere. Vielleicht sollte ich als Nebenfach Meteorologie nehmen, nicht, dass die unter Nebel was anderes verstehen als ich. 

„Dad, falls du mich hörst", versuche ich erneut Kontakt aufzunehmen, „ich habe eine freie Fläche gefunden. Ich bin auf dem Weg dahin. In etwa ..." Ich prüfe noch einmal die Entfernung. „... achtzehn Minuten bin ich da." 

Wieder dieses Knistern, ohne dass eine Stimme erklingt. Der kalte Schauer rinnt jetzt nicht nur über meinen Rücken. Der durchdringt jetzt jede Zelle meines Körpers. Da spüre ich nicht mal mehr das Jucken dieser scheußlichen roten Punkte. Und ich werde schneller. Jede Minute scheint zu zählen. Wirklich jede, das kannst du mir glauben! Ich beeile mich so sehr, dass mein Atem keuchend und irgendwie leise fiepend aus meiner Kehle strömt. Fiepend? Ja, du hörst es schon ganz richtig. Ich fiepe! Das muss mit dem atmosphärischen Nebel zusammenhängen. Vielleicht hab ich mich zu früh darüber lustig gemacht. Wer weiß denn schon, was alles in dieser terrestrischen Luft herumschwirrt? Und jetzt auch noch vom Ozean herüberströmt? Ich will es gar nicht wissen. Ich will hier nur noch weg. Wenn mich das nächste Mal ein Dozent auf einen unterentwickelten Planeten für eine Facharbeit schicken will, lehne ich ab unter Berufung auf meine diplomatische Immunität und rechtliche Souveränität. Die können mich alle mal gern haben! Ich bin Astron, ein Sternenreisender! Und garantiert kein Entwicklungshelfer! 

Auch wenn mein fiepender Atem mich furchtbar nervt, werde ich nicht langsamer. Ein rascher Check: Noch zehn Minuten bis zum Ziel. Wieso sehe ich es denn dann nicht? Warum gibt es hier noch immer viel zu viele Häuser? Müssten die nicht so langsam weniger werden? Oder haben die Terraner genau zwischen all den Häusern einen Kahlschlag gemacht? Zuzutrauen ist es ihnen. 

„Dad, noch fünf Minuten, dann bin ich am Zielort. Ich hoffe, ihr könnt mich dort orten. Leider habe ich keine Funkverbindung, also ich meine, ich höre dich nicht. Da ist nur ein Knistern und Knacken." Kann sein, dass er mich ebenfalls nur als Knistern und Knacken hört, aber ich spreche ja auch mehr für mich selbst und meine innere Beruhigung. Was würdest du denn tun, wenn du völlig allein auf einem fremden Planeten gestrandet bist und merkst, wie dein Körper und dein Verstand sich langsam zersetzen? Hey, ich fiepe! Das sagt doch schon alles! 

So gern ich noch einen Schritt schneller gehen möchte, ich kann nicht mehr. Irgendwo ist bei mir auch mal Ende. Und das kommt sogar sehr plötzlich. Denn die fünf Minuten sind rum. Und die freie Fläche direkt vor mir. Es gibt nur ein Problem: Ein mehrere Meter hoher Maschenzaun trennt mich von ihr. 

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