Kapitel 1

Die meisten Geschichten fangen mit einem wunderbaren Tag an. Das Wetter ist perfekt. Alle sind glücklich und zufrieden. Es ist idyllisch – eben genau so ein Tag, wie ihn jeder erleben möchte. 

Und dann passiert etwas. 

Etwas absolut Unerwartetes. 

Urplötzlich. 

Etwas unvorstellbar Schönes lässt jeden den Atem anhalten. Sofort erfasst einen ein Glücksgefühl unaussprechlichen Maßes. Mit einem Mal ist alles noch perfekter, noch wunderbarer und man möchte am liebsten tanzen, singen, jubilieren – alles zugleich. 

Oder das genaue Gegenteil geschieht. 

Keine Herz-Schmerz-Glückseligkeitsgeschichte. 

Ein Unglück apokalyptischen Ausmaßes bricht über das Universum herein. Und nur du bist in der Lage, mit unbekannten, frisch zu entdeckenden heroischen Kräften deine Heimat, deinen Planeten, ja sogar die gesamte Galaxie zu retten. Und es muss dir gelingen. Es wird dir gelingen. Oder vielleicht doch nicht? 

Wieso ich mich so genau damit auskenne? Obwohl bei mir nichts dergleichen geschieht? Ich bin Sternenreisender und habe darum jede Menge Zeit, zu lesen. 

Sternenreisender, wow, was für ein galaktischer Beruf, wirst du vielleicht denken. Aber halt! Ich habe mir das nicht ausgesucht. Meine Eltern sind Diplomaten. Sie reisen von Planet zu Planet, wo eben diplomatische Verhandlungen nötig sind. Und ich reise mit. Das ist unspektakulär. Um nicht zu sagen: langweilig. 

Bei mir fehlt also der harmonische Anfang, der von einem besonderen Ereignis durchbrochen wird. 

Nehmen wir mal meine Situation jetzt, in genau diesem Moment. Ich stehe an einer Haltestelle. Ja, es gibt tatsächlich noch einige Zivilisationen, die haben für ihre Fahrgeräte gekennzeichnete Haltestellen. So ganz kapiert habe ich das System nicht, denn ihre Fahrgeräte halten auch an nicht gekennzeichneten Stellen. Vielleicht kommt das Thema ja in einer späteren Lerneinheit über primitive Kulturen dran. 

Also, ich stehe hier und warte darauf, dass ich abgeholt werde. Es ist ein trübes Wetter, so ein Zwischending zwischen „heute soll es regnen" und „grauer Nebel ist auch was Feines". Ich trage die landestypische Stoffkleidung, die allmählich klamm wird. Wieso die Menschen hier Stoffe tragen, die Feuchtigkeit aufsaugen, ist auch so ein Ding, das ich nicht verstehe. Aber du verstehst sicher, um was es mir geht, oder? Es ist keine Idylle, die durch irgendwas unterbrochen wird. Es ist einfach ein langweiliger Tag, trübes Wetter, ungeeignete Kleidung und eine Haltestelle, bei der sich nichts tut. Da gibt es nichts Spektakuläres, aber auch nichts Gewöhnliches, das durch ein Superereignis aus dem Gleichgewicht geraten könnte. Oder glaubst du ernsthaft, dass jetzt ein blendender Sonnenstrahl jeden feuchten Tropfen aus meiner Stoffkleidung zieht? Nein? Ich auch nicht! Genauso wenig glaube ich, dass ein Meteoritenschauer nur wenige Meter von mir entfernt runterprasseln wird, um den Weltuntergang für alle Lebewesen hier einzuleiten. Und ich bin dann natürlich der Einzige, der alles rettet. Ich wäre der Held, kein schnöder Sternenreisender, der im Gepäck seiner Diplomateneltern mitgeschleppt wird. Schön wär's. Da würde ich als Erstes dafür sorgen, dass niemand mehr Stoffkleidung tragen muss! 

Statt all dieser exorbitanten, intergalaktischen Fantasien bin ich doch nur ein Anhängsel meiner Eltern. Zu jung, um allein zu leben, aber zu alt, um es noch spannend zu finden. Und mittlerweile zu genervt, weil ich noch immer an dieser blöden Haltestelle herumstehe. Bis auf irgendein Fahrgerät, das mal alle paar Minuten vorbeiqualmt, ist nichts los. Dazu habe ich mir auch schon eine Notiz gemacht: Wie funktionieren die Fahrgeräte auf der Erde? Wieso qualmen die? 

Ich seufze genervt auf und unterdrücke den Impuls, durch meine blonden Haare zu fahren. Sie sind nass. Oder zumindest ziemlich feucht. Diese unangenehme Feuchtigkeit brauche ich nicht auch noch an meinen Fingern. 

Kein Traktorstrahl erfasst mich. Kein Flugmobil kurvt vorbei, um mich zu einem anderen Treffpunkt zu bringen. Nicht einmal der Transponder meiner Eltern beamt mich zurück in unser Raumschiff, auf dem ich mich umziehen könnte. 

Langsam werde ich doch ungeduldig. Irgendwas stimmt hier nicht. Mal abgesehen von der klammen Kleidung und meinen frierenden Fingern. Nebenbei bemerkt friert meine Nase auch. Und meine Ohren. Eigentlich alles, was nicht durch geeignete Fasern geschützt ist. Sehr zu meinem Unwillen spüre ich, wie mein Körper anfängt, zu zittern. Auch das noch! Ich hätte mich nie darauf einlassen dürfen, terrestrische Informationsspeicher zu begutachten, um darüber eine Facharbeit zu schreiben. Auf der Erde benutzen sie tatsächlich noch Bäume, um ihre Gedanken niederzuschreiben. Na gut, keine Bäume, sondern Papier, das sie aus Bäumen gewinnen. Dass sie dabei extreme Rohstoffverschwendung betreiben, sollen wir wohlwollend übersehen. Die sind hier eben noch nicht so weit. 

Meine Haut fängt an zu jucken. Was ist bloß in diesen schrecklichen Fasern drin? Hoffentlich beherbergen sie keine Zwischenwirte. Da kann die Kleidung galaktisch oft im Raumschiff gecheckt worden sein, wenn hier auf dem Planeten Lebewesen herumschwirren, die wasseraufsaugende Fasern lieben. Bereits bei dem Gedanken wird mir schlecht. Also besser nicht dran denken. 

Beim Universum, ich bin kein kleines Kind mehr! Ich sollte mich nicht so anstellen. 

Dennoch hoffe ich, dass ich bald abgeholt werde. Für heute habe ich von der Erde echt genug gesehen und gespürt. Das kannst du mir glauben. 

Und schon wieder kommt so ein stinkendes Fahrgerät herangeruckelt. Die dunkelgrauen Nebelschwaden, die aus einem Rohr hinten herauskommen, können gar nicht gesund sein. Wieso haben mich meine Eltern ohne Atemmaske hierhergeschickt? Da ist das Jucken noch das geringste Problem. Wenn meine Lunge verseucht ist, kann meine verätzte Haut auch nichts mehr verschlimmern. 

Das Fahrgerät hat mich fast erreicht, da höre ich den leisen Signalton. Automatisch greife ich an meinen linken Handrücken, um das Modul zu aktivieren. Bevor ich es erreiche, halte ich inne. Ich weiß ja nicht, ob es eine Holo-Nachricht ist. Vor Einheimischen dürfen wir unsere Spezialausrüstung nicht benutzen. Es könnte sie verwirren, im schlimmsten Fall zu Tode schocken. Obwohl ein schneller Tod sicherlich Gnade wäre. Ich will lieber nicht wissen, wie lange meine Körperzellen regenerieren müssen, bis sie den Dreck dieser Welt losgeworden sind. 

Der Signalton wird stärker. Nur dieses dämliche Fahrgerät nicht. Ich wende mich ab und gehe ein paar Schritte von der Haltestelle weg. Möglichst unauffällig berühre ich meinen Handrücken und hoffe, dass es keine Holo-Nachricht ist. 

Glück gehabt! Es ist keine. 

„Astron, wo bist du?" 

Was für eine selten dämliche Frage. „Am vereinbarten Treffpunkt", stoße ich knurrig hervor und unterdrücke den Impuls, mit den Augen zu rollen. 

„Nein, da bist du nicht." 

Wie bitte? Was, bei allen Galaxien, meint meine Mom denn damit? Natürlich stehe ich an der Haltestelle. Okay, jetzt nicht mehr exakt dort. Aber auf jeden Fall noch in nächster Nähe, dass sie mich orten können müsste. 

„Doch", erwidere ich mit fester Stimme. Immerhin bin ich absolut sicher, dass ich recht habe. „Ich bin nur ein paar Meter zur Seite gegangen, damit niemand sieht, wie ich den Transmitter aktiviere." 

„Astron, beim galaktischen Quasar", meine Mom klingt leider genauso überzeugt wie ich, „du bist nicht dort. Also, wo bist du?" 

Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie sich erneut ein qualmendes Fahrgerät nähert. Kommt es mir nur so vor, oder tauchen diese stinkenden Dinger häufiger auf? 

„Mom, aktiviere einfach den LED-Chip. Dann siehst du doch, wo ich stehe." 

Vielleicht klinge ich ein wenig zu gereizt. Zumindest höre ich ihr verärgertes Schnauben. Die Hintergrundgeräusche sind leicht verzerrt. Schließlich antwortet sie. Und diese Antwort läuft mir wie ein kalter Schauer über den Rücken. Nicht nur, weil ihre Stimme abgehackt und metallisch klingt. 

„Wir können deinen Chip nicht erfassen." 

Verdammt! Das würde bedeuten, dass sie mich nicht zurück aufs Raumschiff holen können. Nur wo soll ich dann hin? Mir graut vor dem Gedanken, irgendwo auf dieser Welt einen Schlafplatz suchen zu müssen. Ich habe noch nie außerhalb meiner High-Tech-Umgebung geschlafen! Das ist kein Abenteuer mehr. Das ist ein Höllentrip! 

Plötzlich sehe ich überall kleine Würmchen herumkriechen und winzige Insekten durch die Luft schwirren. Wie sie auf mich zukommen, auf meiner feuchtklammen Haut Halt finden und in jede Pore einzudringen versuchen. Automatisch greife ich an meine Nase. Ich brauche meinen Helm, eine Atemmaske, irgendetwas, das Nase, Mund und Augen schützt. Hastig fasse ich an meine Ohren. Die sind auch ein perfekter Zugang zu meinem Gehirn. Sind vielleicht schon irgendwelche terrestrischen Lebewesen in mich eingedrungen und zersetzen bereits meinen Verstand? 

„... Geduld ... in der Atmosphäre ... justiert die Module neu ... warten." 

Wenn meine Haare durch die Feuchtigkeit nicht immer mehr zusammen kleben würden, stünden sie jetzt vor Schreck ab. 

„Mom, was ist da los? Ich kann dich nicht richtig verstehen. Mom, ihr holt mich doch hier ab? Mom?" 

Da ist kein gereizter Tonfall mehr. Der ist mir irgendwie abhandengekommen. Meine Augen erfassen schon das nächste Fahrgerät. Es ist größer und höher als die vorherigen. Unbewusst folge ich ihm mit meinen Blicken und sehe, wie es bei dem Metallschild stehenbleibt. Türen öffnen sich und jemand steigt aus. Er öffnet ein Teil in seiner Hand und hält es sich über den Kopf. Trotz meines Schockzustandes formt sich das Wort „Regenschirm" in meinen Gedanken. Hinter der Person schließen sich die Türen und das Fahrgerät rollt langsam wieder an. Die Person hastet davon. Klar, bei dem Wetter steht bestimmt niemand freiwillig hier draußen herum. Nur ich. 

„Astron? Astron! Sag was, kannst du mich hören?" 

Die Stimme von Dad klingt an mein Ohr. Wenn sogar er bei meiner Mom ist, scheint es wirklich ein ernstes Problem zu geben. Oder vielleicht doch nicht? Es dauert noch einen Augenblick, bevor mein wahrscheinlich halb zerfressener Verstand realisiert, dass die Stimme weder abgehackt noch metallisch klingt. Also haben die Techniker Fortschritte gemacht. Oder? 

„Dad? Holt ihr mich jetzt?" 

„Astron, du musst jetzt ganz ruhig bleiben." Nein, bloß nicht diesen Satz! Es ist also viel schlimmer, als ich gedacht habe. In Gedanken verfluche ich diese Facharbeit und wünsche sie in die tiefsten Tiefen des Universums und das letzte aller Schwarzen Löcher. „Es gibt unerwartete Störungen. Du musst vorübergehend zurück zu dem Gebäude gehen, wo du dich über die Informationsspeicher informiert hast ..." 

„Dad", fange ich an, doch er spricht einfach weiter. 

„Tu einfach so, als ob du noch etwas für deine Facharbeit brauchst. Ich weiß, du kannst das ..." 

„Dad!" 

„Und in der Zwischenzeit suchen wir nach einer Möglichkeit, um dich wohlbehalten zurück an Bord zu holen. Sei tapfer, mein Sohn." 

Die Verbindung wird mit einem leichten Knacken unterbrochen. 

„Dad", flüstere ich und seufze, „das Gebäude ist abgeschlossen und wird erst morgen früh wieder geöffnet." 

Ich schaue hoch zum Himmel, der grau und düster über mir schwebt. Und ich habe keine Ahnung, wohin ich nun gehen soll. 

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