Kapitel 9

Mit offenem Mund starrte Lotte ihre Schwester an, und wusste nicht was sie sagen sollte. Doch da ging es ihr wie Mina. 

"Hab ich tatsächlich ja gesagt?" Sie wusste, dass diese Frage rhetorischer Natur war, doch für Mina fühlte es sich noch immer unwirklich an.

"Jap, du hast dich gerade zu MEINER Verabredung eingeladen, naja um fair zu sein - eigentlich war es Lasse." Offensichtlich hatte Lotte ihre Stimme wieder gefunden. Was war ihr nur in den Sinn gekommen, Lasse's Einladung anzunehmen? Am Samstag war sie mit Cal verabredet. Wie hatte sie diese Einladung nun also zu deuten? Mochte dieser rotlockige Mann sie etwa? Offensichtlich schon. Unerwartet durchflutete sie diese Erkenntnis mit einem angenehm warmen Gefühl, dass Mina noch weniger zu deuten vermochte, als die Aktion von Lasse vor wenigen Minuten. 

"Du bist ein ganz schlimmer Finger, Mina. Weißt du das eigentlich? Ein ganz schlimmer Finger."

Mina wandte sich ihrer Schwester zu, deren Grinsen ihr vermutlich schon Krämpfe verursachte. 

"Wo wolltet ihr denn heute Abend hin? Und darf ich fragen, wieso ich eigentlich erst von einem quasi fremden Mann davon erfahre, dass meine kleine Schwester ein Date hat?" 

Nun war es Lotte, die eingeschüchtert dran stand, und ihre Schultern unschuldig nach oben zog. 

"Iiiich hätte es dir gesagt. Nur nicht heute." Lotte's Stimme kam einem Piepsen gleich. 

"Ich erzähl dir alles du Äffchen. Und du verschweigst mir so etwas?" Das war wirklich die Wahrheit. Jedes kleinste Detail ihres Lebens teilte sie ihrer Schwester mit, und dann passierte etwas in ihrem Leben, und dennoch hielt es Lotte nicht für nötig, ihrer Schwester davon zu erzählen. 

"Weißt du, ich will doch nicht erzählen, dass er ein toller Typ ist und mich da emotional schon total reinsteigern, und am Schluss stellt sich raus, dass er ein super Vollidiot ist. Dann erzähl ich erst lieber nichts, um mir im Nachhinein in der schlimmen Version die Blamage vor dir oder sonst wem zu ersparen. Und wenn er tatsächlich klasse sein sollte, hätte ich dir sofort davon berichtet." 

Zugegeben, das war mehr als einleuchtend. Doch kam sich Mina jetzt auch etwas naiv vor. Sie konnte nichts für sich behalten, und wenn einmal etwas passierte, musste sie das jemandem mitteilen. Da konnte sie nicht ewig warten und schweigen. In diesem Punkt waren die beiden Schwestern einfach komplett unterschiedlich. 

"Gut, jetzt wo wir das geklärt hätten, würde ich gerne wissen, wo unser Date heute Abend denn stattfindet." Bei dem Wort Date deutete Mina Gänsefüßchen in der Luft an, um dem Ganzen den drastischen Unterton zu nehmen. 

"Ach, nichts besonderes. Marko hat eine Bar vorgeschlagen, ich glaube, die heißt Schlachthaus. Ist wohl einmal tatsächlich ein Schlachthaus gewesen, und die neuen Besitzer haben den Namen einfach beibehalten." 

Mina nickte nur, während sie nervös an einem ihrer Knöpfe an ihrem Ärmel herumspielte. Die Situation kam ihr irgendwie unwirklich vor. Die letzten zwei Jahre hatte sie gelebt wie ein Einsiedlerkrebs. Kein Mann hatte sich nach ihr umgedreht, sie nach ihrer Nummer gefragt, sie im Club angesprochen. Gut, dafür hätte sie einmal das Haus verlassen müssen in ihrer freien Zeit, und nicht vor dem Fernseh sitzen und sich alte Folgen von Full House anschauen dürfen. Doch zu ihrem Leidwesen hatte ihr Onkel Jesse einfach schon immer gefallen, da kam kaum ein Mann an ihren  Kindheitsschwarm heran. Und jetzt passierte ihr so etwas. Was dachte sich das Universum nur dabei? War das ein abgekartetes Spiel des Schicksals? Das einzige, was Mina wusste, war, dass sie nicht wusste, weshalb nun auf einmal gleich zwei Männer mit ihr ausgehen wollten. Also müsste sie es auf sich zukommen lassen. 

Einige Stunden später stand Mina vor ihrem riesigen Kleiderschrank, der nun irgendwie doch viel zu klein war. Denn offensichtlich befand sich darin kein einziges Teil, dass sie nun gerne anziehen würde. Gemeinsam mit Lotte grübelte sie schon seit gut 30 Minuten, was nun passend für den Abend wäre, doch egal was Lotte ihrer älteren Schwester präsentierte, Mina hatte immer etwas zu motzen, was Lotte so langsam zum verzweifeln brachte. Gerade hatte sie ihr eine schwarze Skinny Jeans und ein schwarzes Spitzenoberteil herausgesucht, Minas Blick jedoch ließ nichts Gutes verheißen. 

"Naa, ich weiß nicht. Spitze? Das ist zu kalt. Es ist Winter. Außerdem bekomm ich das sicher nicht über den hier gezogen." Mina's Worte brachten Lotte zur Weißglut, während sie ihrer Schwester den Gips vor's Gesicht hielt. 

"Wir sitzen ja nicht draußen im Freien, Herrgott Mina! Was hast du denn? Reiß dich zusammen und nimm irgendwas. Und wenn du nicht ruhig bist, quetsche ich dich in dein Kürbiskostüm, dass du im Kindergarten bei der Erntedankfeier getragen hast!" 

Verwundert über Lottes Ansage, riss Mina ihre Augen weit auf, und blickte Lotte entsetzt an. 

"Das würdest du nicht wagen." 

Das Grinsen der blonden Schwester verriet nichts Gutes, und so seufzte Mina, ehe sie zielstrebig in ihrem Schrank nach etwas bestimmten suchte. 

Lotte hatte gut reden. Es war egal was sie anzog, es sah einfach gut aus. Sie war groß, hatte lange Beine, war schlank, und hatte kein furchtbares Doppelkinn, wenn sie nach unten blickte, nicht so wie Mina. Gut, jede Frau hatte wohl so ihre Problemzonen, und seien wir einmal ehrlich - es wäre ja fast langweilig, wenn wir nicht irgendwo an unserem Körper ein Stelle finden würden, die wir zusammenquetschen könnten, damit es ja als überschüssiges Fett zu werten war. Doch an Mina's Schwester gab es ihrer Meinung nach nichts auszusetzen. Auch für die Verabredung hatte sie eigentlich nichts besonderes angezogen. Sie trug eine weite schwarze Hose, und eine dunkelgrüne Bluse, die an den Handgelenken mit einer weißen Spitzenborte verziert war. Und sie sah umwerfend aus. 

Genau das war der Grund für ihre Unsicherheit bezüglich der Klamottenwahl. Egal was sie tragen würde, setzte sie sich, so hatte sie sofort ihre unliebsamen Speckröllchen am Bauch, und ihre Schenkel - davon wollte sie gar nicht erst anfangen. 

Also entschied sie sich für ihren beigefarbenen Strickpulli und eine schwarze Jeans. Mit ihren Chelsea Boots dazu würde sie zwar aussehen, als würde sie in Australien Schafe schären, doch das war ihr nun auch egal. Sie musste sich wohlfühlen, sonst hätte sie den ganzen Abend über ein komisches Gefühl in sich. 

"Na also, geht doch. War das jetzt so schwer?" Lotte konnte aber auch nur rummeckern. 

Perfekt frisiert, dick angezogen und etwas aufgeregt saßen die beiden Schwestern im Auto auf dem Weg zum besagten 'Schlachthaus'. Lotte durfte fahren, da Mina mit nur einem Arm immer noch nicht fahren durfte, dafür war sie fürs Navigieren zuständig. Etwas entfernt parkte Lotte den Wagen, so dass sie in den fünf Minuten, die sie noch bis zur vereinbarten Zeit hatten, in Ruhe zum Eingang des Schlachthaus laufen konnten. 

"Und, aufgeregt?", wollte Mina wissen, und grinste ihre Schwester an. Lotte nickte einmal. 

"Oh ja, ziemlich sogar. Liegt aber gar nicht wirklich so sehr an der Verabredung, sondern mehr an der Tatsache, dass du und Lasse auch noch dabei sind. Das ist schon irgendwie merkwürdig." 

"Quatsch, das wird witzig. Die zwei können sich schätzungsweise gut leiden, von wem außer Marko hätte Lasse sonst von eurer Verabredung erfahren sollen." 

Gerade als Lotte noch etwas hatte sagen wollen, kamen ihnen von vorne zwei großgewachsene Männer entgegen, die sich auf den zweiten Blick als die beiden Eishockeyspieler herausstellten. Marko winkte den beiden Frauen zu, während er in der rechten Hand noch eine Zigarette hatte. 

Würg, das konnte Mina absolut nicht leiden. Ihre jüngere Schwester hingegen hatte für rauchende Männer tatsächlich etwas übrig. Mina vermutete ja, dass es daran lag, dass Lotte als kleines Mädchen ein großer James Dean Fan war, den man selten ohne eine Zigarette in der Hand gesehen hatte. Erstaunlicherweise ähnelte Marko dem Schauspieler tatsächlich ein wenig. Er trug ein längeren schwarzen Mantel, und seine Haare hatte er sich etwas nach hinten gekämmt, jedoch nicht so, dass es irgendwie schmierig ausgesehen hätte. 

Nachdem Mina die Verabredung ihrer Schwester beäugt hatte, ließ sie ihren Blick zu ihrer eigenen wandern. Lasse hatte seine Haare offen, trug eine gelbe Strickmütze, und einen grünen Parka. Und Mina müsste blind sein, um nicht zu erkennen, wie gut er aussah. Ein Grinsen schien sich in sein Gesicht gebrannt zu haben, denn er lächelte auch noch, als sie vor den beiden Männern zu stehen kamen.

Verunsichert wie ein Erstklässler am ersten Schultag stand Mina vor Lasse, da sie nicht wusste, wie sie ihn begrüßen sollte. Die Hand geben? Nein, sie war doch keine 85 Jahre alt. Umarmen? Das mochte sie überhaupt nicht, wenn man sich nicht tatsächlich schon kannte. Die Hände, oder in Minas Fall eine Hand, peinlich in die Jackentasche stecken, und auf den Füßen hin und her wippen? Das klang nach einer plausiblen Übergangshandlung. Offensichtlich schien es Lasse genauso zu gehen, denn er machte genau das selbe. Marko und Lotte hatten sich kurz zur Begrüßung umarmt, und blickten nun verwirrt zu den beiden anderen. 

"In Ordnung die Damen, das war nun genug der Starrerei. Lasst uns reingehen." Bei Marko's Worten musste Lotte lachen, Lasse hingegen verpasste ihm einen Schlag gegen die Schulter. 

Gentlemanlike ließen Marko und Lasse die Schwestern zuerst hineingehen. Von Außen schien das Schlachthaus etwas unscheinbar, mit der Backsteinfassade, und dem schlichten Holzschild über der Tür. 

Das erste was Mina im Inneren wahrnahm, war der holzige Geruch und das warme Licht. Die Wände waren verkleidet mit naturbelassenen Holzpaneelen, an einer Seite hing sogar ein riesiger Longhornschädel, und aus den Lautsprechern klang in angemessener Lautstärke irgendein Gitarrenstück, das perfekt zu dem Interieur passte. Eine große Treppe führte in einen zweiten Stock, der wie ein Balkon über den unteren Raum ragte, und gesäumt wurde von einem schönen Geländer. In der Mitte des unteren Raumes stand an der Wand, die dem Eingang gegenüber lag, ein altmodischer Holzofen, der das ganze noch heimelicher wirken ließ.

"Das sieht echt klasse aus…", staunte Mina, und ließ ihren Blick weiter durch die Räumlichkeiten wandern. 

"Wenn ihr mich kurz entschuldigt, ich muss kurz jemandem hallo sagen." Mina nickte kurz, und schaute sich dann weiter um. So spät war es noch gar nicht, und trotzdem war es hier so sehr voll. Es waren tatsächlich so einige Plätze belegt, es gab hier aber auch viele verschiedene Sitzmöglichkeiten. Da gab es zum einen die gemütliche Ecke beim Holzofen, mit braunen Ledersesseln und kleinen Beistelltischen, aber auch größere wunderschöne Tische, die aus ganzen Holzstämmen gefertigt waren. Lasse war zur Theke gelaufen, und lehnte sich nun über den Tresen. 

"Was macht er denn?", wollte Lotte wissen, und bekam von Marko umgehend eine Antwort. 

"Oh, er kennt den Besitzer des Ladens, hat ihm wohl mit seiner Einrichtung geholfen. Die meisten Sachen hier drin sind von ihm."

Marko sagte das so beiläufig, als wäre es nichts, dabei war Mina sprachlos. Die Möbel gefielen ihr unheimlich gut, sie waren speziell und hatten einen enormen Wiedererkennungswert. 

Kurz darauf kam Lasse zu der Gruppe zurück. 

"So, wir können nach oben, wenn ihr wollt. Oder wir setzen uns nach hinten an den Ofen, was ich bevorzuge, aber lasst euch nicht von mir beeinflussen." 

Noch bevor Mina darüber nachdenken konnte, stimmte sie Lasse's Vorschlag zu, und lief einfach einmal durch den Raum. Wie sie ihre Schwester kannte, würde Lotte sowieso irgendwann frieren, dann war es gut, wenn man in der Nähe des warmen Ofens saß. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sich die restlichen drei zu Mina gesellt hatten, und sich Lasse direkt den Sessel zu Minas Linken beanspruchte. Entspannt ließ sie sich auf den braunen Ledersessel fallen, und zog sich dann etwas umständlich ihre dicke Jacke aus, was sich mit dem Gips immer wieder als Herausforderung entpuppte. 

"Moment, ich helf dir." Lasse hatte ohne zu warten die Ärmel ergriffen, und konnte es so Mina locker über den Arm ziehen.

"Danke, dass du mich vor der Peinlichkeit bewahrt hast, wie ein unfähiger Entfesselungskünstler in der Jacke hängen zu bleiben", erwiderte sie, und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. 

"Keine Ursache", antworte Lasse schlicht, ehe auch er sich endlich setzte, und Minas, sowie seine eigene Jacke, neben sich auf einen der Holzstämme legte. 

Mina hatte sich währenddessen wieder dem Bestaunen der Inneneinrichtung gewidmet, sie konnte gar nicht wirklich aufhören. Die kleinen Tische vor und neben ihnen, waren kleine Unikate. Einzelne Holzsstämme, die teilweise ausgesägt oder dunkel lasiert worden waren. 

"Darf ich mal fragen, welche Stücke hier drin von deinen künstlerischen Händen geschaffen wurden?" 

Unverhohlen schaute Mina Lasse an, der sich offensichtlich sehr über das unterschwellige Kompliment freute, und sich für die Antwort in seinem Sessel etwas aufrichtete. 

"So ziemlich alles hier drin." 

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