Kapitel 7
Viel zu schnell war das Wochenende wieder vorbei gewesen, und etwas traurig schwelgte Mina in ihren Erinnerungen.
Der Samstag war einfach erste Sahne gewesen. Sie spürte noch immer das Kribbeln im Bauch, wenn sie daran dachte, dass sie Cal getroffen hatte. Auch wenn sie sich nicht lange unterhalten hatten, hatte es ihr unglaublich gut gefallen. Leider hatte er schon früh gehen müssen, da er zusammen mit den anderen Black Hawks im Mannschaftsbus angereist war, und sie nicht zu spät losfahren wollten. So hatte sie sich, wenn auch nur ungern, von ihm verabschiedet. Und das tatsächlich mit einer kurzen Umarmung. Bei dem Gedanken an das Gefühl seiner Arme um ihren Oberkörper wurden ihre Beine wieder ganz schwach. Tatsache war: Sie war ihm verfallen. Mina mochte sich selbst nicht dafür, denn der einzige Grund, weshalb sie ihn so anziehend fand, war sein Äußeres. Immerhin kannten sie sich kaum, also konnte es auch nicht an seinem Charakter liegen. Sie fand ihn einfach nur wahnsinnig attraktiv.
Den Sonntag hatte sie gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Schwester auf dem gemütlichen Sofa in ihrem bereits weihnachtlich geschmückten Wohnzimmer verbracht. Immerhin war es schon der zweite Advent gewesen. Sie hatte mit Lotte gefühlt eine Tonne Plätzchen gebacken, die sie nun auch den Kindern im Kindergarten zum Naschen mitbringen konnte.
Eine Kokosmakrone essend, saß sie um 6:45 Uhr an diesem Montag Morgen in der Küche, und schaute das erste Mal seit Samstag auf ihr Handy. Aus Angst, Cal hätte etwas geschrieben, das sie nicht lesen wollte, hatte sich Mina nicht getraut, auf ihr Handy zu sehen.
Am Abend zuvor hatte sie das noch mit Lotte ausführlich diskutiert, doch war sie bei ihrer Meinung geblieben: Am Wochenende nicht mehr auf's Handy schauen, für den Fall, dass er geschrieben hat, dass er sie nicht mehr sehen möchte. Klar, sie hätte vielleicht Gewissheit gehabt, doch so hatte sie wenigstens einen Tag mit schönen Gedanken an Cal gehabt.
Etwas erstaunt stellte sie jedoch fest, dass Cal gar nichts geschrieben hatte. Gut, vielleicht war sie auch zu aufdringlich gewesen. Kurz nachdem er die Eishalle am Samstag verlassen hatte, hatte sie ihm noch ein 'Komm gut nach Hause' geschrieben, aber war das tatsächlich so aufdringlich? Enttäuscht über seine ausgebliebene Reaktion, ging Mina auf die einzige Social Media App, die sie hatte, und konnte wenigstens hier nicht über ausbleibende Reaktionen klagen. Besonders zwei Benachrichtigen stachen ihr dabei ins Auge. Ein Like und ein Kommentar zu ihrem Bild vom Samstag, auf dem Lotte, Ida und sie selbst zu sehen waren. Ein Schmunzeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie daran dachte, wie schön sie diesen Moment empfunden hatte. Es war nichts hochtrabendes gewesen, einfach nur ihre Schwester, eine Freundin und sie selbst. Und dennoch hatte sie sich selten zufriedener gefühlt.
Sowohl das Herzchen, als auch der Kommentar waren von einem Profil mit dem Namen: LasseHatKlasse. Auf dem Profilbild konnte sie nicht sehen, wer das war, da man nur eine Person in weiter Entfernung erahnen konnte, die auf einem Fels stand. Doch bei dem Namen Lasse huschten ihre Gedanken automatisch zu Ida's rothaarigem Bruder. Konnte es tatsächlich der Onkel von Luna sein?
Ihre Vermutung bestätigte sich, als sie seinen Kommentar las.
'Willkommen im Club der amerikanischen Eisenbahn-Schienenleger des 19. Jahrhunderts ;)'
Das konnte nur Lasse Schormann sein, da es genau derselbe Wortlaut war, den Mina am Samstag in seiner Gegenwart verwendet hatte. Etwas verwirrt las sie sich die wenigen Worte erneut durch, bis sich ein Gedanke immer und immer wieder in den Vordergrund drängte. Wie hatte er sie gefunden? So weit sie wusste, hatte weder Ida, noch sonst jemand den sie beide kannten, diese App. Und eigentlich war es auch nur Ida, die sie und Lasse beide kannten. Ihre Augen weiteten sich, als ihr eine Erklärung hierfür kam. Lasse hatte bewusst nach ihr gesucht. Er hatte sich sogar ihren Nachnamen gemerkt. Aber wieso?
Da er ihr nun um eine unerklärliche Tat voraus war, stellte sie ihm nun eine Freundschaftsanfrage, die er jedoch erst bestätigen musste. Da konnte sie also nur abwarten. Nichtsdestotrotz musste sie etwas auf seine Aussage kommentieren.
'Wie? Es gibt kein Aufnahmeritual?' Mal sehen, was er darauf antworten würde.
"So ihr lieben. Dann dürft ihr jetzt wieder rein gehen, eure dicken Jacken und Stiefel ausziehen, und dann trinken wir eine schöne Tasse heiße Schokolade." Voller Begeisterung wollten die Kinder gerade losbrüllen, aber das durften sie im Stall nicht. Und so legte Mina ihren Zeigefinger vor ihre Lippen und machte für alle hörbar "pssssst", so dass alle Kinder es ihr nach machten.
Die letzte Stunde hatten alle gemeinsam im Stall die Weihnachtsdekoration angebracht. Sie hatten grüne Tannenzweige im ganzen Stall und selbstgebastelte Girlanden aufgehängt, damit es die Kühe über Weihnachten auch schön hatten. Mina und Vivi waren nicht überrascht gewesen, als Luna, Svenja und Oskar vor ihnen gestanden, und sie förmlich darum gebettelt hatten, es den Kühen und Alpakas auch schön machen zu dürfen. Für heute hatten sie nur den Kuhstall geschafft, morgen würden es dann auch die Alpakas schön haben. Die Kinder hatten sich, nachdem Mina und ihre Mutter die Erlaubnis gegeben hatten, sofort in die Künstlerecke gesetzt und fleißig gebastelt. So waren sie nun sogar schon vor der Mittagszeit fertig geworden.
Als Mina gemeinsam mit Vivi, Frederike und den Kindern das Kindergartengebäude betrat, duftete es bereits nach heißer Schokolade und Zimt Brötchen. Alex und Susanne waren mit ein paar der Kinder drinnen geblieben, denen es draußen zu kalt war, oder keine Lust gehabt hatten zu basteln. Dafür wollten sie unbedingt etwas in der Küche machen, was Susanne, die eigentlich gelernte Konditorin war, nur zu gerne übernommen hatte.
"Ohhhh das riecht herrlich", stellte Johanna, eines der Vorschulkinder, freudestrahlend fest.
Nachdem alle ihre Stallklamotten ausgezogen und ihre Hände gewaschen hatten, setzten sich alle Kinder an den großen, runden Esszimmertisch.
Wie immer gab es auch ein paar Nachzügler, die des öfteren Spirenzchen machten, und nicht gleich so wollten wie sie sollten.
"Oskar, ziehst du bitte deine Hausschuhe an?" Noch immer saß er auf der weißen Holzbank, vor ihm standen seine Schuhe, doch er ließ nur seine Füße baumeln, und presste seine Lippen zu einem schmalen Strich aufeinander.
"Freundchen, die Diskussion haben wir jedes Mal. Du bleibst hier sitzen, bis du deine Schuhe an hast, und erst dann darfst du an den Tisch sitzen." Gerade als sich Mina umdrehen wollte, um in den Gemeinschaftsraum zu gehen, sah sie aus dem Augenwinkel heraus, wie sich der kleine, braunhaarige Junge die grünen Rennschuhautos anzog, und dann schnell aufsprang. "Und wir rennen nicht im Flur." Ach, wem machte sie sich denn was vor? Er wusste, dass es etwas leckeres zu Essen und Trinken gab. Natürlich musste er rennen.
"Aber wenn ich es euch doch sage, ER hat zuerst MIR geschrieben." Verzweifelt versuchte Mina gemeinsam mit Vivi, Susanne und Alex die Situation zwischen ihr und Cal zu analysieren. Alle drei hingen seit einer Viertelstunde gebannt an ihren Lippen, während sie von Samstagabend berichtet hatte. Keine der drei hatte ihr glauben wollen, dass Cal tatsächlich der Kerl war, mit dem sie am vergangenen Freitag noch geschrieben hatte, doch nachdem sie ihnen die Nachrichten gezeigt hatte, waren alle drei einfach sprachlos, und grinsten wie Honigkuchenpferde.
"Ich versteh einfach nicht, weshalb er sich jetzt nicht mehr meldet. Ich meine, ich habe ihm doch lediglich geschrieben, dass er gut Heim kommen soll."
Die Situation überforderte sie. Als wäre es der Heilige Gral, hatte sie ihre Handy vor sich liegen, den Chatverlauf mit Steve#91 geöffnet.
"Und ich sag's dir nochmal: Er hatte einfach noch keine Zeit um aufs Handy zu schauen. Es ist Vorweihnachtszeit, er war mit seinen Kumpels im Bus, dann am Sonntag vielleicht bei seiner Familie oder Freunden… Verzweiflung ist hier nicht angebracht, junge Dame." Junge Dame, pf. Susanne hatte gut reden. Seit 25 Jahren war sie mit ihrem zauberhaften Mann Roland verheiratet. Mit 20 hatten sie geheiratet, nachdem sie schon seit ihrem 15. Lebensjahr zusammen gewesen waren.
"Ach komm, Mina. Der schreibt schon noch. Und wenn nicht - hat er dich nicht verdient." Alex' Aufmunterungsversuch in allen Ehren, aber das konnte sie nicht überzeugen. Möglicherweise war sie doch einfach hässlich. Vielleicht auch zu dick? Mit einer Kleidergröße 42 war sie nicht gerade schlank, aber bis jetzt hatte sie sich immer ganz wohl gefühlt. Er war Sportler. Da wäre jemand wie Alex passender für ihn. Sie war 1,80 Meter groß, hatte Beine bis zum Himmel, und wunderschönes, schokobraunes Haar, das perfekt mit ihren moosgrünen Augen harmonierte.
"Womöglich findet er mich einfach gruselig."
Genervt atmeten die drei gleichzeitig aus.
Bevor sie jedoch noch etwas sagen konnten, kam Johanna zu ihnen, um ihnen zu zeigen, dass sie schon etwas schreiben konnte.
"Oh wow, Johanna! Das ist super. Weißt du denn auch, was da steht?" Vivi schaute sich begeistert das Blatt an, auf dem, soweit Mina es sagen konnte, fast das gesamte Alphabet spiegelverkehrt drauf geschrieben stand. Mina notierte sich das, in dem Beobachtungsbogen, den sie momentan vor allem für die Vorschulkinder ausfüllten. Die fünfjährige Johanna war aber schon sehr weit für ihr Alter. Dass die Buchstaben spiegelverkehrt geschrieben wurden, war etwas, das häufiger vorkam, aber sie konnte tatsächlich schon die Namen von einigen Kindern und auch von den Erzieherinnen schreiben.
"Ganz ehrlich, Mina. Wenn er dich so furchtbar finden würde, hätte er dir am Samstag gar nicht geschrieben, oder hätte eine Ausrede erfunden, um nicht noch mit dir reden zu müssen. Er hätte dir nicht auch noch was zu trinken spendiert", nahm Alex erneut den Versuch auf, Mina zu beschwichtigen.
"Und was ist, wenn er meinen Charakter gruselig fand?", erwiderte Mina auf Alex' Aussage.
"Mina, schau einfach Mal auf dein Handy." Susannes Worte verwirrten sie, doch tat sie was ihr befohlen wurde, und augenblicklich stand ihr Herz kurz still.
"Er hat gerade geschrieben." Mina starrte erschrocken auf die Benachrichtigung auf ihrem Handy.
"Ja komm, jetzt ließ vor war er geschrieben hat!"
Alex schob ihr das Handy entgegen, und nickte ihr aufmunternd zu.
Gerade als sie die Nachricht öffnen wollte, zögerte sie.
"Und was ist, wenn er…" Der Satz blieb ihr im Hals stecken, als Vivi ihr auf einmal das Handy aus der Hand gerissen, das Sperrmuster in Form eines M's auf ihrem Bildschirm - ja sehr kreativ - gezeichnet, und dann die Nachricht geöffnet hatte.
"Steve#91 schreibt: Hey Mina, tut mir Leid, dass ich erst jetzt schreibe, aber ich hab mein Handy am Samstag Abend im Auto eines Eishockeykollegen liegen lassen, und ich hab es erst heute Morgen wieder zurückbekommen.
Ich bin noch gut Heim gekommen, du hoffentlich auch? Warst du denn noch lange da? Hoffe, du hast einen tollen Start in die Woche. Gruß, Cal."
"Ja siehst du. Völlig umsonst Sorgen gemacht. Jetzt kann ich endlich in die Mittagspause gehen. Ich schick dann deine Mutter wieder zu euch." Damit verabschiedete sich Susanne.
Mina freute sich über die Nachricht, doch irgendwie hatte sie auch ein komisches Gefühl.
"Willst du ihm schreiben? Oder darf ich das machen?" Vivi's Frage riss die Rothaarige aus ihren Gedanken, doch bevor Vivi noch irgendetwas fieses hätte schreiben können, hatte Mina sich ihr Handy mit den Worten - "Ach gib schon her!" - zurückerobert.
"Kommt das blöd wenn ich jetzt nicht gleich schreibe? Ich mach das heute Abend. Ich will nicht so verzweifelt wirken, als würde ich die ganze Zeit über meinem Handy sitzen, und nur darauf warten, dass er sich meldet."
Vivi und Alex starrten sie entgeistert an. "Aber genau das tust du doch, du verrückte Frau!"
Alex' Worte ließen Mina schmunzeln. Sie hatte Recht.
"Na gut, das wisst ihr, aber er muss das ja nicht wissen."
Auch am späten Abend lag Mina noch wach, und sie wusste nicht, ob sie ihm schreiben sollte. Gut, er hatte ihr geantwortet, und er hatte sein Handy nicht gehabt, aber das konnte auch einfach nur eine billige Ausrede sein. Die Nachricht von ihm ließ sich auch nach dem tausendsten Mal noch distanziert, und sie glaubte, dass es ihn nicht wirklich interessierte, ob sie gut in die Woche gestartet war.
Sie entschloss sich dazu, ihm an diesem Abend nicht mehr zu schreiben, und das auf den nächsten Tag zu verschieben. Stattdessen fand sie es auf einmal ganz wichtig zu erfahren, ob Lasse ihre Freundschaftsanfrage bestätigt hatte.
Ein Blick auf ihre 'Abonniert-Liste' zeigte ihr, dass die Zahl von 72 auf 73 gestiegen war, ebenso hatte sie einen Abonnenten mehr. Es war tatsächlich Lasse, dem das zuzuschreiben war.
Bevor sie sich den zweiten Kommentar, den er unter ihr Bild geschrieben hatte, durchlas, machte sie etwas, was wohl jede emanzipierte, selbstsichere und kluge Frau des 21. Jahrhunderts heute so tat - sie stalkte sein Profil. Traurig stellte sie jedoch fest, dass sein Profil noch langweiliger war als ihr eigenes. Gerade einmal zwei Fotos waren auf seinem Profil, und das erste zeigte nicht einmal ihn, sondern einen süßen, schwarz-weißen Hund.
Das zweite Bild war da schon interessanter. Mit ihren Adleraugen versuchte sie, jedes noch so unscheinbare Detail wahrzunehmen, wobei ihr sofort das Datum auffiel. Das Bild hatte er erst vor vier Stunden hochgeladen. Darauf zu sehen war Lasse, er trug ein grünes Hemd, das er bis zu den Ellenbogen hochgeschlagen hatte. Er saß an einem unglaublich schönen Tisch, der einmal längs der Platte in der Mitte durch einen handbreiten Epoxidharzfluß getrennt wurde. So etwas schönes hatte sie selten gesehen. Hatte Lasse diesen Tisch gemacht? Dann war er wohl Schreiner. Das Bild verdiente definitiv ein Herz. Länger als sie eigentlich wollte, schaute sie sich das Bild, beziehungsweise eher den Mann auf dem Bild an. Er lächelte nicht in die Kamera, nein. Stolz hatte er seinen Blick auf die Platte gerichtet. Das Grinsen zeigte seine weißen und geraden Zähne, die nahezu perfekt aussahen. Durch das Grinsen kräuselte sich seine Nase, die sowieso schon viel zu niedlich aussah, da sie nicht gerade und nicht zu groß war. Die runde Brille tat ihr übriges. Sein grünes Hemd spannte sich über seine Schultern, legte ein wenig die Sicht auf sein Schlüsselbein frei. Die wilde Lockenmähne hatte er zu einem Dutt gebunden, und hinter seinem rechten Ohr steckte ein grüner Bleistift, den sie auf diesem Foto ganz besonders würdigte. Es war dieses kleine Schreibutensil, das Lasse noch mehr Ausstrahlung verlieh. Wenn das überhaupt noch möglich war.
Lediglich ein Wort setzte sie unter dieses Bild, und Mina hoffte, er würde wissen, dass es dem Tisch galt.
Nun wollte sie aber endlich wissen, was Lasse unter ihr Bild kommentiert hatte.
'Doch, das hast du schon bestanden. Betti's Teufels-Schokolade mit Schuss. Deine Tränen waren Opfer genug.'
Seine Antwort ließ Mina auflachen. Irgendwie hatte sie schon mit so etwas gerechnet.
Während sie überlegte, was sie darauf nun antworten sollte, klappten der Rothaarigen immer wieder die Augen zu, bis sie schließlich mit dem Handy in der Hand eingeschlafen war.
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