Kapitel 6
Sicht Lasse
"Leute, das war ein klasse Spiel. Ich weiß nicht, was euch angetrieben hat, aber was es auch war - bewahrt es euch für die nächsten Spiele!"
Big, unser Trainer, dessen Name eigentlich Markus war, applaudierte uns, und lief einmal durch den Gang, den die zwei Bänke, auf denen wir Spieler saßen, bildeten, und klopfte uns auf die Schultern. Marko neben mir zog scharf die Luft durch seine Zähne, die er schmerzverzerrt aufeinander presste.
"Du siehst heute echt scheiße aus, Marko." Trotz der vielen Prellungen, hatte ich noch Sinn für Humor, was man von meinem Teamkameraden nicht sagen konnte.
"Lasse, das Kompliment kann ich nur zurückgeben."
Das Lachen konnte ich nicht unterdrücken, aber besser wäre es gewesen. Der Schmerz ließ mich aufstöhnen, und ich versuchte das Stechen in meiner Seite zu ignorieren, so gut es eben ging.
"Lasse, da hast heute ganz schön was abbekommen. Und darf ich fragen: Weshalb hast du dich vorhin mit Stevenson angelegt? Ich meine, nicht dass es ein Großteil der Hawks nicht verdient hätte, aber sind wir mal ehrlich : der Typ hatte heute erst sein zweites Spiel gegen uns."
Etwas verständnislos schaute Marko mich an, aber ich wich seinem Blick aus.
"Er hat etwas gesagt, dass mich nicht gerade erfreut hat." Mehr musste er nicht wissen.
Um ehrlich zu sein, wusste ich selbst nicht, weshalb mich Stevensons Worte so wütend gemacht hatten, doch es war nun einmal so.
"Ich vermute, du wirst mir nicht verraten, was er gesagt hat?" Marko war neugieriger als meine kleinen Nichten, und er würde vermutlich nicht locker lassen, ehe ich mit der Antwort rausrückte. Aber ich war gerade nicht in der Laune ihm davon zu erzählen.
Deshalb schüttelte ich nur den Kopf, ehe ich mich nach unten beugte, um meine Schlittschuhe auszuziehen, und gleich darauf meine schwarzen Stiefel über meine Füße zu ziehen. Den Rest würde ich erstmal anlassen.
"So, ich geh dann Mal nach draußen. Kommst du mit?"
Während ich aufgestanden war, hatte sich Marko auf die ungemütliche Holzbank gelegt, und ließ seine langen Gliedmaßen auf den Boden nach unten hängen.
"Ne, ich muss mich kurz regenerieren. Außerdem wartet auf mich da draußen keine Horde wildgewordener kleiner Mädchen. Also hop hop, du wirst erwartet."
"Spinner", verabschiedete ich mich von ihm, während ich mir meine Haare zu einem Dutt knotete, und dann meine gelbe Strickmütze, die mir Lily zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, aufsetzte.
Etwas kraftlos stieß ich die schwere Schwingtür auf, und atmete einmal tief ein, um den Gestank von Männerschweiß aus meiner Nase zu bekommen. Sofort kamen Leute auf mich zugestürmt, um mir zum gewonnen Spiel zu gratulieren, doch meine Augen wanderten auf der Suche nach einer bestimmten Person durch die ganze Halle, bis ich den Rotschopf schließlich gefunden hatte. Ihre Begleitung jedoch stach mir ins Auge, und sofort sank meine Laune in den Keller. Was machte der Kerl nur bei Mina? Vielleicht kannten sie sich ja. Doch das glaubte ich ehrlich gesagt nicht. Soweit ich wusste, war er erst seit vier Monaten in Deutschland, aber natürlich war es trotzdem nicht unmöglich.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich schließlich zu dem Tisch meiner Schwester durchringen konnte, an den Mina mit Stevenson gegangen war. Sie hustete gerade wie wild, und ich wusste sofort, dass es an Betti's Heißer Schokolade mit Schuss liegen musste, denn so ging es mir auch jedes Mal auf's neue. Mit einem Lächeln trat ich neben meine Schwester.
"Wie viel Rum hat die Frau da rein gekippt?"
In Minas Augen sammelten sich bereits Tränen, und ich sah, wie sie erneut gegen den Hustenreiz ankämpfte.
"Betti ist da immer ziemlich großzügig, vermutlich ist es mehr Rum als sonst etwas."
Meine Worte ließen alle vier aufhören, und während ich aus dem Augenwinkel heraus sah, dass Mina mich anschaute, lag mein Blick auf Stevenson, der so wenig erfreut war mich zu sehen, wie ich erfreut war ihn zu sehen.
Es blieb noch ein paar Sekunden still, bevor meine kleine, ältere Schwester dieses unangenehme Schweigen durchbrach.
"Mein Brüderlein… gut hast du heute gespielt! Ich sag's dir, Lily hat sich für dich fast die Kehle aus dem Leib geschrien! Und Mina hättest du Mal hören sollten… hat sich angehört wie Papa, wenn er fast ausgeflippt ist."
So so so, das klang doch auf jeden Fall Mal interessant.
"Ach echt? Wie ein fluchender, betrunkener Postkutscher im 19. Jahrhundert also? Mina, das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut."
Damit, dass ich das Wort direkt an sie richtete, hatte sie ganz offensichtlich nicht gerechnet. Weit aufgerissen waren ihre knopfrunden, hellbraunen Augen, mit denen sie mich nun taxierte. Völlig unverhohlen erwiderte sie meinen Blick, und schien auch nicht einzucknicken. Ich hingegen ließ meinen Blick weiter über ihr Gesicht schweifen, an das ich seit gestern immer zu denken musste.
Ihre Stirn war übersät mit kleinen Sommersprossen, von denen der untere Teil ihres Gesichtes offensichtlich verschont geblieben war. Ihre Lippen waren nicht zu klein, und nicht zu groß, und sahen unglaublich weich aus. Und ihre Augen erst. Die Iris war von einem solch hellen Braun, dass es fast aussah wie klarer Bernstein, den ich früher als Kind am Strand von Rügen aufgesammelt hatte. Leider verhinderte ihre große Brille eine klare Sicht auf diese schönen Augen, doch gleichzeitig rundete dieses Plastikgestell ihr Gesicht auch irgendwie ab. Es passte zu ihr, und ließ sie noch niedlicher wirken. Und das, obwohl sie vermutlich alles andere als niedlich genannt werden wollte.
"Nein, meine Flüche gingen mehr in die Richtung - amerikanischer Eisenbahn-Schienenleger des 19. Jahrhunderts." Ihr linker Mundwinkel deutete ein Schmunzeln an, und ließ mich ebenfalls Lächeln. Humor hatte die Frau.
Nachdem ich mich noch eine Weile am Tisch bei Ida und Mina getummelt hatte, und diese mich dezent darauf hingewiesen hatten, dass ich furchtbar ätzende Gerüche absonderte, war ich schnell unter die Dusche der Umkleidekabine geflitzt, um mir den Schweiß der letzten Stunden abzuwaschen. Ich hatte mir nicht zu viel Zeit gelassen, da ich hoffte, draußen noch einmal auf Mina zu treffen. Und so schlenderte ich frisch geduscht, mit noch feuchten Haaren hinaus ins Getümmel. Tatsächlich war Mina noch da, ihr nerviges Anhängsel Stevenson hingegen war verschwunden. Mittlerweile tummelten sich auch Lily und Luna um ihre Mutter, wobei, Luna doch eher damit beschäftigt zu sein schien, Mina irgendetwas zu erzählen.
Lily trug noch ihre Schlittschuh, und ihr viel zu großes Trikot, dass ich ihr zu ihrem Geburtstag vor einem Monat geschenkt hatte, während sie mit ihrem Stick wild in der Gegend umherwedelte.
"Na da ist ja mein Schwager. Lasse, Glückwunsch! Du hast dich heut einmal wieder selbst übertroffen." Danni hatte mich abgefangen, noch bevor ich an dem kleinen Stehtisch angekommen war.
"Danke. Kann mich nicht beklagen, meine Teamkameraden waren heute auch in top Form. Du, ich wollte gerade rüber zu meiner Schwester…" ließ ich den Satz offen im Raum stehen, und deutete mit einem Nicken in Richtung des nur wenige Meter entfernt stehenden Tisches.
"Spitze, ich war auch auf dem Weg zu Ida."
Mina hatte mich als erstes erblickt, und schien sich auch tatsächlich über mein Erscheinen zu freuen. Keine Sekunde ließ sie mich aus den Augen. Woher ich das wusste? Meine Augen wichen keinen Millimeter von ihrem Gesicht.
So beschloss ich, dass ich mich dieses Mal einfach direkt neben sie stellen würde.
Am Tisch angekommen, schnappte ich schnell meine Nichte Luna, und nahm sie auf die linke Seite, da das diejenige war, die mir heute nicht komplett zertrümmert worden war.
"Geht's? Oder schmerzt es sehr?" Minas glockenhelle Stimme direkt neben mir zu hören war ein wohltuendes Gefühl. Und hörte ich aus ihren Worten tatsächlich Besorgnis mitschwingen?
"Och, die linke Seite ist völlig unversehrt." Das Lächeln, das ich ihr schenkt war aufrichtig.
"Oh, Lasse, hab ich dir weh getan?" Luna schaute mich entsetzt an, und ich war wieder einfach einmal nur platt, wie feinfühlig und sensibel die kleine Maus tatsächlich war. Auch Mina zauberte die Frage der Dreijährigen ein Lächeln ins Gesicht.
"Luna, keine Sorge. Du tust mir nicht weh", beruhigte ich den kleinen Sonnenschein dann sofort, bevor ich mich dann wieder Mina zuwandte.
"So, und Sie waren bis vor wenigen Stunden noch eine Eishockey Jungfrau?"
Die Wortwahl schien sie kurz zu verwirren, doch antwortete sie dann schmunzelnd.
"Jap, und ich hätte nicht gedacht, dass es so gut werden würde."
"Seit wann spielen Sie denn Eishockey?", erkundigte sie sich.
Die Stimme der Rothaarigen klang dabei ehrlich interessiert.
Bevor ich jedoch auf ihre Frage einging, reichte ich ihr erst einmal meine Hand.
"Lasse. Ich finde das Sie echt merkwürdig, da fühl ich mich so alt."
Nur zögerlich ergriff sie meine um einiges größere Hand. Ihre Finger schmiegten sich perfekt in meine Hand, doch wider Erwarten hatte sie einen festen Händedruck, der mich kurz verwirrte.
"Mina, und so geht's mir auch immer. Also, seit wann spielst du Eishockey?"
Viel zu kurz war die Berührung unserer Hände, als ich ihre Hand wieder freigab, fühlte es sich merkwürdig kalt an.
"Seit 23 Jahren… hab mit drei Jahren angefangen, mehr schlecht als recht, aber ich denke, ich hab mich doch etwas verbessert." Der Gedanke an meine ersten Eishockeyerfahrungen ließen mich nostalgisch werden.
"Er war damals grauenvoll! Konnte keine Sekunde gerade auf seinen Schlittschuhen stehen. Ich musste ihn immer hinter mir her ziehen." Meine Schwester. War sie nicht zauberhaft, wie sie sich in die Gespräche anderer einmischte, als sei sie eine alte Frau aus einer Vorstadt, die den ganzen Tag wie eine Fensterbanktarantel nach draußen schaute, um alles mitzubekommen, was vor ihrer Haustür so passierte.
Jedoch konnte ich ihr nicht lange gespielt böse sein, da Mina's abartiges Lachen mich sofort in seinen Bann gezogen hatte. Und mit abartig meinte ich wirklich abartig. Doch in meinen Ohren klang es bezaubernd. Sie grunzte sogar, bevor sie sich die Hand vor ihr Gesicht hielt, um die Schnappatmung zu unterdrücken. Doch es klang ehrlich, und nicht gespielt.
Der Abend gestaltete sich noch schöner als erwartet. Die Tatsache, dass ich genau gewusst hatte, dass Mina an diesem Abend zum Spiel kommen würde, hatte die Erwartungen natürlich schon ziemlich hoch geschraubt. Aber dass ich mich noch mit ihr unterhalten würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Als Ida mir am Freitag Abend verkündet hatte, dass sie schon Werbung für unser Team machen würde, war ich etwas verwirrt gewesen. Dass sie damit jedoch Mina gemeint hatte, damit war natürlich nicht zu rechnen. Meine Leistung an diesem Abend war zuletzt auch der rothaarigen Kindergärtnerin zu verdanken. Wie blöd hätte ich denn bitte da gestanden, wenn ich verloren hätte?
Dementsprechend gerädert lag ich nun im Bett, und konnte nicht einschlafen. Etwas dämlich kam ich mir dabei schon vor, immerhin war ich keine 16 mehr. Und dennoch, ließ mich dieses Kribbeln im Bauch nicht einschlafen. Gedankenverloren starrte ich an die weiße Decke, an die der Schatten des Baumes, der vor dem Fenster stand, geworfen wurde, und streichelte Rocco's Kopf. Ab und zu ließ ich ihn bei mir im Bett schlafen, meist dann, wenn er wieder winselnd vor meiner Schlafzimmertür saß, und nicht damit aufhörte. An diesem Abend war er genau so vor meiner Tür gesessen, und hatte sofort Ruhe gegeben, als ich ihm die Tür geöffnet hatte. So lag er nun, quer in meinem zwei Meter breiten Bett, und nahm fast komplett die untere Hälfte der Matratze ein. Vermutlich würde ich mitten in der Nacht wieder aufstehen und auf dem Sofa schlafen, da mir dieses große Monster in meinem eigenen Bett keinen Platz ließ. Aber damit hatte ich kein Problem.
Als ich auch um 03:42 Uhr noch nicht eingeschlafen war, schnappte ich mir mein Handy von meinem Nachttisch, und erblindete fast, ob des viel zu hellen Bildschirms.
Reine Neugier ließ mich auf das rosafarbene Icon drücken, und so öffnete ich eine App, die ich höchstens alle zwei Jahre einmal öffnete.
Tatsächlich erschienen unten in der Anzeigenleiste gleich mehrere Freundschaftsanfragen, die ich so gleich löschte. Alle Personen, mit denen ich tatsächlich befreundet oder verwandt war, hatte ich entweder schon auf meiner Freundesliste, oder sie hatten selbst diese App gar nicht. Zudem hatte ich lediglich ein einziges Foto drin, dass meinen Hund zeigte, wie er auf dem Sofa schlief. Das hatte Lily vor ein paar Jahren gemacht, und sie fand es so toll, dass ich es ihr zu Liebe reingestellt hatte. Sehen konnten es fremde Personen sowieso nicht, da mein Profil nur für Freunde sichtbar war. Tatsächlich tat ich an diesem Abend etwas, was ich noch nie getan hatte - ich ging auf die Suchleiste, um einen Namen einzugeben. Um genau zu sein - Mina's Namen. Ida hatte ihn im Laufe es Abends einmal genannt, und so wartete ich etwas aufgeregt, als es nach allen Mina Fobrichs suchte.
Es gab tatsächlich nur ein Ergebnis, und zu meiner Freude, war es tatsächlich Mina. Schnell tippte ich auf ihren Namen, als mir auch schon ein fröhlich grinsender Rotschopf entgegen strahlte. Viele Fotos hatte sie nicht drin, gerade einmal 19 Stück. Und das letzte Bild hatte sie erst vor drei Stunden hochgeladen. Es zeigte sie, ihre Schwester und Ida, die alle drei eine Grimasse schnitten.
Unter dem Bild stand etwas, dass mich noch breiter grinsen ließ: Endlich keine Eishockey-Jungfrau mehr!
Ich konnte nicht anders. Als würde meine Hand sich selbst steuern, drückte ich mit meinem viel zu großen Daumen auf das Herz unter dem Bild, und verfasste einen kurzen Kommentar. Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, ob das nicht doch eher einem Stalker gleich kam, drückte ich auf 'posten'. Bevor ich sonst noch irgendwas dummes anstellen konnte, legte ich mein Handy wieder auf den Nachttisch, und drehte mich dann auf die andere Seite. Vielleicht würde ich ja nun endlich einschlafen können.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top