41. Unvernunft

Hola!

I don't have much to say. Ich hoffe, dass ihr die kommenden Feiertage genießt könnt - und gute Geschenke bekommt - und dass sie für euch nicht allzu stressig werden. An dieser Stelle wünsche ich euch schon einmal frohe Weihnachten. Ich hoffe, dass ich noch in diesem Jahr ein neues Kapitel hochladen kann, but I can't promise anything. Momentan bin ich immer noch am recovern ':D.

Updates bekommt ihr in der Hinsicht wie immer auf Instagram (@su.yu.san) sowie Fanarts, psychologische Hintergründe, Funfacts und bald startet dort das nächste Q&A, if you are interested.

And now... Viel Spaß beim Lesen!
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»Wenn es nicht deshalb war, wieso dann?«, fragte ich verdattert.

Karma war definitiv unreif und pubertär. Dass es nur um seine Hormone ging, war dementsprechend in meinen Augen die naheliegendste und einfachste Erklärung. Mir fiel auch kein anderer Grund ein, weshalb ich nur allzu gespannt auf seine Antwort war. Gleichzeitig sah er dabei so tiefenentspannt aus, als ob ihm diese ganze Unterhaltung nicht im Geringsten unangenehm war.

»Weil du mich geküsst hast«, sagte er, als wäre es offensichtlich und wiederholte damit seine vorherige Aussage. Leider verstand ich seinen Punkt trotzdem nicht.

»Ich kann dir wirklich nicht folgen. Du hast bemerkt, dass ich andere Seiten habe, als ich dich geküsst habe und wolltest Zeit mit mir verbringen, weil...?«

Karma seufzte. »Wie gesagt, ich hätte es niemals von dir erwartet und genau deshalb habe ich realisiert, dass hinter deinem Verhalten noch viel mehr stecken musste. Die Eiskönigin schien mir plötzlich wie eine Fassade.«

Langsam dämmerte es mir. Es war eine Eigenschaft von Karma, die eben typisch für ihn war und doch kam es absolut unerwartet.

»Du wolltest den Deal, um Informationen über mich zu sammeln«, stellte ich verdattert fest.

»Jep.«

Das war... der wohl kindischste und unreifste Weg dies zu erzielen. Ein Schweißtropfen bildete sich auf meiner Stirn. Das konnte auch nur von Karma kommen. Ja, plötzlich erschien mir sein Verhalten für seine Verhältnisse schon fast logisch.

»Und ein "Hey, Naomi, lass uns Zeit miteinander verbringen" hätte es nicht getan?«, fragte ich verständnislos.

»Nein«, sagte er klar. »Denn dann wärst du auf der Hut gewesen. Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber jedes Mal, wenn du mich geküsst hast, hattest du einen der natürlichsten Gesichtsausdrücke überhaupt. Er war nicht aufgesetzt.«

Oh, shit... Nervös bewegte ich mich, um in einer etwas angenehmeren Position zu sitzen und mir mehr Zeit zu verschaffen, da ich eine mögliche Reaktion, die zu viel verraten könnte, vermeiden wollte. Karma hatte doch nicht bemerkt, dass...? Hatte ich verliebt ausgesehen? Nein, dann hätte er mich schon längst deshalb aufgezogen oder sich sogar distanziert. Er hätte niemals so lange gewartet oder es zumindest jetzt gegen mich verwendet. Mir war absolut nicht bewusst gewesen, dass ich meine Deckung komplett vernachlässigt hatte. Karma hatte eine Gefühlsregung bemerkt, die ihn neugierig gemacht hatte und das war gefährlich.

»Aber da ist noch sehr viel mehr«, fuhr er fort. »Ich wusste nicht, dass du kochen kannst und so fürsorglich bist. Du warst wirklich praktisch mein Hausmädchen. Dann standest du vor meiner Tür, als es bei dir zu Hause Probleme gab. Ohne unseren Deal wärst du niemals hier aufgekreuzt. Ich habe selbst heute so viel von dir erfahren, dass du es nicht einmal mehr leugnen kannst.«

Ich presste meine Lippen zusammen, unfähig zu antworten. Er hatte wirklich sehr viel mehr über mein Leben erfahren als gewollt. Mir war nicht einmal in den Sinn gekommen, dass er auch aus den einfachsten Situationen Informationen entziehen konnte.

»Wieso wolltest du überhaupt etwas über mich wissen?«, fragte ich leise.

Er öffnete den Mund, um zu antworten, stoppte jedoch, als Koro-Sensei vor seinem Fenster erschien. Plötzlich fiel mir wieder ein, wieso ich überhaupt hier war. Das Gespräch mit Karma hatte mich noch mehr abgelenkt als erwartet. Jetzt, wo ich daran erinnert wurde, machte sich wieder das flaue Gefühl in meinem Magen breit. Der rothaarige Junge stand jedoch fast schon gelassen auf und öffnete das Fenster. Bevor ich mich auch nur regen konnte, stand unser Lehrer bereits im Zimmer direkt vor mir. Ich rutschte nach vorn zum Rand des Bettes, um nicht einfach nur sitzen zu bleiben.

»Sie haben ihm doch hoffentlich viele Knochen und am besten noch beide Hände gebrochen«, meinte Karma und sah Koro-Sensei erwartungsvoll an.

Ich hoffte, dass er nicht auf diesen Sadisten gehört hatte, auch wenn einige Brüche in Ordnung wären. Doch ich wusste nicht, wie wir das seiner Familie erklären sollten, ohne seine Tat oder Koro-Sensei zu erwähnen.

»Sagen wir, dass er an einem Ort ist, wo er in Ruhe über sein Verhalten nachdenken kann«, sagte Koro-Sensei vergnügt.

»Sie haben ihm aber auch etwas gebrochen, oder?«, sagte Karma.

»M... Moment, wo haben Sie ihn hingebracht?«, fragte ich und stand auf. Das war ein Problem. Das war definitiv ein Problem. »Wie wollen Sie das seiner Familie oder meinem Vater erklären? Koro-Sensei, sie dü...«

Ich stoppte, als er plötzlich eine Tentakel auf meine Stirn platzierte. Es war eine sehr sanfte Berührung, die allein viel zu viel Verständnis ausstrahlte, sodass mir blöderweise wieder die Tränen in die Augen stiegen. Doch ich konnte sie zum Glück zurückhalten. Ich hatte es nicht erwartet... ich kannte es einfach nicht, dass eine Situation irgendwie besser geworden war, nachdem ich es jemandem erzählt hatte... oder dass mir irgendjemand geholfen hatte...

»Naoko-san, ich möchte, dass du dir keine Sorgen machst und mir vertraust«, sagte Koro-Sensei ruhig. »Er hat sich natürlich ganz spontan dazu entschieden, Urlaub zu machen, um seinen Horizont zu erweitern.«

»Bitte sagen Sie mir, dass er aufgrund seiner Knochenbrüche in einem ausländischen Krankenhaus Urlaub macht«, sagte Karma und trat einen Schritt vor, wahrscheinlich, um nicht wieder übergangen zu werden. Aus dem Augenwinkel sah ich zu ihm und stellte fest, dass er seine Frage ernst meinte. Er war zwar ein Sadist, ja, aber wer hätte jemals gedacht, dass ich seine sadistischen Züge mal anders hervorbringen würde? Scheinbar wollte er den Kerl wirklich gern auf eine schmerzvolle Art bestrafen.

»Du musst wissen, dass es noch sehr viele bessere Wege als Gewalt gibt, um Menschen auf ihr Fehlverhalten aufmerksam zu machen und es zu korrigieren«, sagte Koro-Sensei vergnügt. »Zum Beispiel Angst! Ihr braucht euch also keine Sorgen mehr zu machen. Er wird als veränderter und besserer Mensch wiederkommen.«

»Kann er nicht einfach gar nicht mehr wiederkommen?«

»Karma-kun!«

»Danke«, unterbrach ich die beiden und lenkte dadurch ihre Aufmerksamkeit auf mich. »Danke, Koro-Sensei. Ich bin... wirklich froh darüber...«

Ja, ich hatte keine Ahnung, wie ich mich bedanken konnte, ohne den Grund auszusprechen. Doch unser Lehrer schien es trotzdem zu verstehen, da er mir den Kopf tätschelte.

»Und was ist mit mir?«, fragte Karma gelangweilt. »Wo bleibt mein Dank?«

Ich hatte mich schon längst bedankt... Der Kerl schien wirklich dauernd sein Ego pushen und mit seinen Erfolgen prallen zu wollen.

»Du hast heute bereits genug Aufmerksamkeit von mir bekommen, Paprikarma.«

Es überraschte mich, dass er nicht zurückfeuerte, sondern stattdessen einfach nur grinste. Kopfschüttelnd wandte ich mich wieder Koro-Sensei zu, der seine Tentakel von meinem Kopf entfernte und sie stattdessen belehrend hob.

»Ich hoffe, du weißt jetzt, dass du dich auf deine Kameraden und auf deine Lehrer verlassen kannst«, sagte er.

Ein Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht. Ja. Zumindest in einigen Punkten.

»Wer hätte schon gedacht, dass gerade Karma mir so süß helfen und eine Lösung finden würde?«, sagte ich scherzend.

Dieser schnaubte. »Ich finde immer eine Lösung.«

»Karma ist zwar ein Unruhst...«, fing Koro-Sensei an, doch stoppte mitten im Satz. Mehrere Schweißtropfen bildeten sich in seinem Gesicht und mit einem Mal sah er panisch aus, während er zwischen Karma und mir hin und her saß sowie einen Schrei von sich gab. »NAOKO, WAS MACHST DU BEI KARMA? ER IST KEIN GUTER UMGANG FÜR DICH! UND DU, KARMA, HAST DU ETWA VOR NAOKO ZU VERDERBEN?! SEIT WANN SEID IHR ZWEI ZUSAMMEN?! WIESO IST MIR DAS NICHT AUFGEFALLEN? AHHHHH!«

Wow, er hatte... ziemlich lange gebraucht, um das zu realisieren. Für eine überlegende Lebensform hatte er manchmal eine viel zu lange Leitung. Dass er auch noch direkt einen Skandal erwartete, war bei seiner Vorliebe für Klatsch und Tratsch nicht überraschend. Karma ließ sich davon jedoch nicht beirren und verschränkte seine Hände hinter den Kopf.

»Entspannen Sie sich, Sensei. Naomi und ich kennen uns einfach nur schon sehr lange, weshalb sie mir vertrauen konnte«, sagte er gelassen. »Außerdem pass ich auf ihre Katze auf, da ihre Familie einen Knall hat. Deshalb schaut sie hin und wieder vorbei. Ansonsten läuft da nichts.«

Das schien Koro-Sensei etwas zu beruhigen, jedenfalls hörte sein panisches Zittern auf und mich freute es, dass Karma zum ersten Mal keine Antwort gegeben hatte, die Ablehnung ausdrückte. Dies war nämlich normalerweise seine Vorgehensweise. Zum ersten Mal schien er die Tatsache, dass jemand eine Verbindung zwischen uns vermutete, nicht falsch aufzunehmen. Das war ein enormer Fortschritt, den ich niemals für möglich gehalten hätte.

»Puhhhh, da bin ich aber beruhigt«, sagte Koro-Sensei und tupfte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab. »Du bist viel zu vernünftig für jemanden wie Karma, Naoko-san!«

Leider war er meine Unvernunft... Bei diesem Gedanken hätte ich fast gelächelt, aber ich konnte es mir verkneifen.

»Keine Sorge, Sensei. Ich bin vernünftig und lasse mich auf nichts Dummes in der Hinsicht ein, vor allem nicht mit Karma«, sagte ich.

»Interessant zu hören, wie ihr über mich denkt«, sagte Karma sarkastisch.

Meine Worte schienen unseren Lehrer sichtlich zu entspannen, was ziemlich lustig war. Ich fragte mich, ob er wirklich die Befürchtung hatte, dass Karma einen schlechten Einfluss auf mich haben konnte oder ob seine Reaktion einfach nur seiner Liebe für dramatische Momente zuzuschreiben war.

»Das ist sehr gut. Jedenfalls werde ich jetzt gehen. Ich war gerade mit Isogai in Afrika und habe ihn dort allein gelassen«, sagte er und lief zum Fenster. »Sollte etwas sein, kannst du mich jeder Zeit kontaktieren, Naoko.«

Ich nickte verstehend, auch wenn ich wusste, dass ich es so gut wie möglich vermeiden wollte. Aber das musste niemand wissen. Unser Lehrer hob zufrieden eine Tentakel und verabschiedete sich, bevor er mit seiner unglaublichen Geschwindigkeit verschwand. Eigentlich hätte ich noch einige Fragen an ihn gehabt, doch wahrscheinlich war es besser, wenn ich weniger wusste und mich erst einmal ausruhte. Jetzt konnte ich wieder nach Hause ohne mehr Angst haben zu müssen als sonst.

»Bei seiner langen Leitung, bezweifle ich manchmal, dass er eine überlegene Lebensform sein soll«, sagte Karma und setzte sich wieder auf sein Bett.

Ich runzelte leicht die Stirn, ließ mich neben ihm fallen und legte meine Tasse auf seinem Nachtschränkchen ab. »Genau das hab ich auch gerade gedacht.«

»Glückwunsch«, sagte er sarkastisch. »Wie war das nochmal? Du bist zu vernünftig und würdest dich auf nichts Dummes einlassen? Was glaubst du, wie dein geliebter Koro-Sensei reagieren würde, wenn ich ihm sage, dass du dich für ein paar Mathenachhilfestunden prostituiert hast?«

Empört sah ich ihn an und war kurz davor ihm auf den Hinterkopf zu schlagen. Doch ich konnte mich zusammenreißen, auch weil ich ihn nicht verärgern wollte.

»Ich habe mich defintiv nicht prostituiert«, sagte ich. »Ich... ich war verzweifelt und du hast mir den Deal angeboten.«

Karma schüttelte den Kopf und erwiderte nichts darauf. Stattdessen sah er an die Decke und schwieg. Es war zwar kein unangenehmes Schweigen, doch irgendwie wäre es mir lieber, wenn wir unsere Unterhaltung von vorhin fortführen könnten. Sie hatte mir gut getan und mich abgelenkt. Gleichzeitig war es vermutlich die erste lange, komplett natürliche und ehrliche Unterhaltung, die wir jemals miteinander geführt hatten.

»Es tut mir leid«, sagte Karma plötzlich halblaut. Er bemerkte meinen fragenden Blick wohl, da er mir gleich darauf eine Erklärung gab: »Der Deal. Dass ich... deine Situation so für meine Zwecke ausgenutzt habe. Ich wollte nie, dass du etwas machst, was dir eigentlich unangenehm ist...«

»Es war mir nicht unangenehm«, warf ich vielleicht etwas zu schnell ein, da er mich nun fragend ansah. »Ich meine, ich habe dich zuerst geküsst! Es war mir deshalb nicht unangenehm.«

»Ich hätte trotzdem einen anderen Weg finden können, statt dich so auszunutzen. Der Deal war nicht richtig. Wenn du willst gebe ich dir trotzdem weiter Nachhilfe.«

Nein, bitte... nutz mich aus... Warum musste er ausgerechnet jetzt und gerade in diesem Punkt vernünftig sein? Okay, lass dir deine Enttäuschung nicht anmerken, Naomi. Wenn Karma nur wüsste, wie gern ich ihn küsste... Ich hatte den Deal nie bereut und würde ihn nie bereuen, auch wenn er dadurch nun leider mehr über mich wusste als gewollt und ich es eigentlich bereuen sollte.

»Danke, das ist wirklich nett von dir, Karma«, sagte ich dennoch, um mir nichts anmerken zu lassen.

»Gewöhn dich nicht dran.«

»Hatte ich absolut nicht vor. Jedenfalls...« Ich stoppte kurz. Sollte ich die Unterhaltung wirklich wieder aufgreifen? Wer wusste schon, wann ich wieder die Chance dazu hätte? Ich wollte meine Fragen unbedingt beantwortet haben und auch mehr über ihn wissen. »Wieso wolltest du diese Sachen überhaupt über mich wissen?«

»Wie oft denn noch? Weil du mich geküsst hast«, sagte Karma.

»Also würdest du dich für jede Person interessieren, die dich küsst?«

»Absolut nicht.«

»Was war dann bei mir anders?«, stellte ich meine Frage nun so.

Karma schien erst zu überlegen. »Gute Frage. Ich würde sagen, weil ich dich vorher kannte.«

Klar, wenn er sich früher für mich interessiert hatte, ich mich dann verändert hatte, dann jedoch wieder etwas machte, womit er nicht gerechnet hatte... genau so etwas würde Karmas Neugier wecken.

»Außerdem war ich mir sicher, dass es dich nerven würde, wenn ich dich mit den neuen Informationen, die ich möglicherweise herausfinden konnte, ärgere«, sagte er mit einem breiten Grinsen.

Ein Schweißtropfen bildete sich auf meiner Stirn. Ja, das hörte sich ebenfalls und noch eher nach Karma an. Genau diese Erklärung hatte ich erwartet. Er war eben durch und durch ein unreifer Sadist. Irgendwie brachte mich das zum Lachen.

»Meine Gründe und Umstände waren dir also wirklich egal«, sagte ich. »Und für einen Moment hatte ich gedacht, dass du das ungewöhnlicherweise aus Sorge gemacht hast.«

Karma musterte mich. Sein Grinsen verwandelte sich in ein natürliches Lächeln, eins, das ich so an ihn liebte. Er wirkte damit entspannt und doch unschuldig. Es war das, das er mir damals gezeigt hatte...

»Träum weiter«, sagte er. »Ich habe mir keine Sorgen gemacht. Wobei ich meine Meinung nach den Prüfungen geändert habe. Da habe ich mich... für einen Moment gefragt, ob du nicht wirklich gute Gründe für deine Fassade und dein unaufrichtiges Verhalten hast.«

»Eh... ehm... Karma, mir erschien es, als wären deine Sprüche danach eher noch gemeiner geworden«, sagte ich ehrlich.

Er lachte und tätschelte mir plötzlich den Kopf. Wh... whut...? Ich... was...? Nicht rot werden. Meine inneren Naomis wurden in diesem Moment zu Cheerleadern, aber äußerlich versuchte ich so cool wie möglich zu bleiben.

Help. Ich glaube, mein Herz schlägt gerade besorgniserregend schnell...

»Na, genau aus diesem Grund, du Dummerchen«, sagte er.

Ich war gern sein Dummerchen. Oh, Mann... Wieso war ich ihm nur so verfallen...? Ich erinnerte mich zwar wieder an den Moment vor zwei Jahren, doch... sollte sein unreifes Verhalten mich doch schon längst abgeturnt haben, oder...?
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»Seid ihr euch sicher, dass Raiko hier ist?«, fragte ich, während ich den drei anderen Kindern hinterher lief. Ich kannte sie nicht wirklich persönlich und normalerweise würde ich auch nicht mit ihnen reden, da es sonst keinen guten Grund dazu gab, doch sie waren mir ziemlich aufgeregt entgegengekommen, als ich mit meinen Einkäufen, die ich nach der Schule besorgt hatte, auf dem Weg nach Hause gewesen war.

Ich hatte sie sofort erkannt. Es waren das blonde Mädchen und die zwei Jungs, mit denen Raiko immer in der Pausen zusammen war. Auch sie hatten eigentlich keinen Grund mit mir zu sprechen, besonders, da meine Cousine mich glücklicherweise nicht mehr mochte. Doch sie war mir nicht egal und war für mich auch nie egal geworden. Sie durfte dies nur nicht wissen. Deshalb hatte ich nicht eine Sekunde gezögert, als sie mir erzählt hatten, dass bei einer Mutprobe etwas schief gelaufen und Raiko nun in Schwierigkeiten sei.

Sie lernte wirklich nie dazu. Wenn ihre Mutter dies erfuhr, dann würde sie uns wieder beiden einen Vortrag halten. Auch wenn ich absolut nichts damit zu tun hatte.

»Ja, wir haben dir doch schon gesagt, dass sie da rein gegangen ist«, sagte der schwarzhaarige Junge und zeigte auf die Lagerhalle vor uns. Ich hatte keine Ahnung, wie er hieß. Ich wusste nur, dass Raiko scheinbar in ihn verknallt war. Jedenfalls hatten sie und das blonde Mädchen kichernd darüber an unserem Pool geredet, als ich eigentlich in Ruhe schwimmen wollte. Seit sie bei uns eingezogen waren, war es sehr viel schwieriger sie zu meiden. Außerdem fühlte es sich nicht einmal mehr so an, als wäre es mein zu Hause. Es gehörte mittlerweile ihnen, besonders seit mein Vater kaum mehr nach Hause kam.

Vor einer riesigen, heruntergekommenen Lagerhalle blieben die drei stehen und deuteten auf die große Doppeltür.

»Sie ist nicht wieder raus gekommen und ich glaube, ich habe einen Mann rufen hören«, sagte das Mädchen. Wie hieß sie nochmal...? Sie war schon oft bei uns gewesen, doch ich vermied alle so sehr, dass ich nicht einmal ihren Namen kannte.

»Sie könnte erwischt worden sein oder in Schwierigkeiten stecken«, sagte Raikos Schwarm.

Hoffentlich vergaß sie ihn wieder. Wenn er nicht einmal selbst rein ging, um nach ihr zu schauen... und dann schickte er auch noch ein Mädchen vor. Ich schüttelte innerlich den Kopf. Eigentlich sollte ein Mädchen keinen Jungen brauchen, doch einen Junge, der nicht mal versuchte sie zu beschützen oder sich genug um sie sorgte, brauchte sie erst recht nicht.

»Ich geh rein. Ihr bleibt hier«, sagte ich schnell und lief zur schweren Tür, die ich aufschob.

Ich wollte nicht noch mehr Zeit vergeuden.

Vorsichtig lugte ich rein. Hier waren viele komische Maschinen, Holz und sehr viel Heu. Außerdem schien eine Treppe, die jedoch schon längst kaputt war, auf eine Plattform weiter oben zu führen. Der Besitzer hatte hier defintiv nichts wertvolles mehr gelagert und Raiko konnte ich auch nicht entdecken, weshalb ich einige Schritte hinein ging. Vielleicht hatte sie sich irgendwo verstecken können. Von meiner Position aus konnte ich auch nicht wirklich viel überblicken. Doch kaum hatte ich dies getan, knallte die Tür hinter mir zu. Eigentlich würde ich es für ein Zufall halten, hätte ich nicht gleich darauf das laute Gelächter der drei auf der anderen Seite gehört. Und natürlich ließ sich die Tür auch nicht wieder öffnen, wie ich gleich darauf feststellte.

Was genau brachte das ihnen? Und was sollte das überhaupt?

Ich hatte den Satz nicht einmal zu Ende gedacht, da ertönte hinter mir ein lautes Knurren. Oh, nein... Oh, nein...

Ganz langsam, um die Hunde nicht zu irritieren, drehte ich mich um. Vielleicht konnte ich sie ja irgendwie beruhigen...? Doch als ich die beiden Tiere sah, wie sie mich wütend ins Visier nahmen und ansahen, als hätte ich ihnen ihre Lieblingsknochen weggenommen, weshalb sie mich als Knochen benutzen wollten, wusste ich, dass ich absolut geliefert war. Wenigstens starb ich in dem Versuch jemandem nützlich zu sein...

Raikos Freunde wussten defintiv, dass die Hunde hier drin waren. Hatten sie meine Cousine etwa auch absichtlich hier rein geschickt? Ihr Lachen sagte mir irgendwie, dass ich sie nicht finden würde. Die Frage war nur, was es ihnen brachte, wenn ich zerfleischt wurde...

Vorsichtig und langsam lief ich an der Wand entlang, um die Tiere nicht unnötig zu verärgern, die mich immer noch warnend anknurrten. Vielleicht schaffte ich es auf eine Holzkiste, bevor sie genug hatten und mich attackierten. Eine Bewegung auf der oberen Plattform weiter hinten ließ mich innehalten und nach oben schauen. Ein rothaariger Junge, der scheinbar da oben gelegen hatte, hatte sich aufgesetzt. Als er mich erblickte, stand er eilig auf. Moment, das war doch...

Der Hund, der mir am nächsten war, kam einen Schritt auf mich zu, weshalb mein Blick wieder zu ihm wanderte. Es war komisch, das ich aus irgendeinem Grund keine Angst verspürte. Vielleicht war es auch nur das Adrenalin, das sie mich nicht spüren ließ. Beim Training in unserem Dojo spürte ich deshalb den Schmerz auch oft nicht.

Ein lautes Krachen rechts von mir ließ mich zusammenzucken und die beiden Hunde dorthin schauen. Der Junge hatte definitiv etwas geworfen, das nun eine Kettenreaktion auslöste und nicht nur die Aufmerksamkeit der Tiere für sich beanspruchte, sondern dafür sorgte, dsss sie zurückwichen. Kurz erschrak ich ebenfalls, bis ich sah, wie er mir bedeutete zu ihm zu laufen. Ich hatte nicht einmal daran gedacht mich zu bewegen, doch jetzt rannte ich ohne nachzudenken los. Etwas anderes blieb mir auch nicht übrig. Und gleich darauf hörte ich das Bellen und Knurren der Hunde, die mir definitiv hinter her hetzten.

»Komm hier her!«, rief der Junge von der Plattform aus. Er hatte sich hin gekniet und deutete auf die Stelle vor sich. Angesichts der Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, wie er da hoch gekommen war und noch weniger, ob es überhaupt einen Weg nach oben gab, blieb mir nichts anderes übrig als ihm zu vertrauen, um nicht als Snack zu enden. Als ich dort ankam, ergriff ich schnell den Pfeiler und zog mich hoch, sodass ich meinen Fuß in eine Mulde platzieren konnte. Doch nach oben wäre ich trotzdem nicht kommen, hätte der Junge nicht meinen Arm ergriffen und mir geholfen ganz hoch zu klettern. Ich konnte gerade noch so mein Bein eilig hochziehen, sodass es die Hunde nicht erwischten. Dabei stieß ich mir mein Knie gegen etwas, aber das war gerade meine geringste Sorge. Ich war oben. Und ich würde erst einmal weiterleben dürfen. Schweratmend legte ich mich auf den Rücken und versuchte mich erst einmal zu beruhigen, während der Junge sich amüsiert neben mir hinkniete.

»Naoko Naomi«, sagte er. »Ich glaube, du wurdest gerade reingelegt.«

»Ach, wirklich? Darauf wäre ich niemals gekommen«, presste ich hervor, immer noch bemüht zu Atem zu kommen.

»Was haben sie dir überhaupt gesagt, damit du hier reinkommst?«, wollte er interessiert wissen.

»Dass meine Cousine in Schwierigkeiten steckt«, sagte ich und setzte mich auf.

Erst jetzt konnte ich mich umsehen und stellte fest, dass hier oben viel Heu war. Das war das einzige neben den Sachen des Jungens, bestehend aus einer Umhängetasche und einer tragbaren Spielkonsole, die achtlos neben einem der hohen Heuberge lag. Mittlerweile war ich mir sicher, dass der Besitzer dieser Halle hier einfach nur achtlos Dinge lagerte. Die Frage war nur, warum seine beiden Hunde hier waren. Ich bezweifelte, dass es hier etwas Wertvolles gab, was bewacht werden musste.

»Und schon eilt Naoko natürlich zur Rettung«, sagte der Junge und setzte sich auf den Heuberg. »Nur, dass sie dieses Mal selbst gerettet werden musste.«

Ich sah ihn an, als er sich entspannt zurücklehnte. Er schien die ganze Situation und die Tatsache, dass ich fast zerfleischt worden war, zu genießen. Das war jedoch typisch für ihn. Ich kannte ihn, natürlich tat ich das. Es war Akabane. Nur leider waren wir in der Vergangenheit oft aneinander geraten, weil er es aus irgendeinem liebte mich zu nerven. Doch wir hatten seit über einem Jahr nicht miteinander gesprochen... oder gestritten, obwohl wir immer noch auf dieselbe Schule gingen.

»Was machst du hier, Akabane?«, fragte ich, während ich meine Tasche von meinem Rücken nahm und sie neben mir ablegte. Hoffentlich hatten meine Einkäufe nichts abbekommen. Ich würde gleich gehen können, sobald ich mich etwas beruhigt hatte.

»Einzelunterricht«, meinte er.

»Du schwänzt.«

»Ist doch offensichtlich, also wieso fragst du überhaupt?«

»Nur um nochmal sicher zu gehen, meine Cousine war wirklich nicht hier?«

Er sah überrascht von seiner Konsole auf. »Hier war niemand. Du wurdest wirklich reingelegt. Ist doch klar, was glaubst du, warum die gelacht haben?«

Das hatte er also mitbekommen... Na, super.

Ich seufzte und lehnte mich genervt gegen den Holzbalken hinter mir. Was brachte es ihnen, wenn ich jetzt schon starb? Ruhe für mich, doch sie würden in Schwierigkeiten geraten... Jedenfalls hoffte ich das... irgendwie war ich mir nicht so sicher, ob sich jemand genug um mich sorgte, um sich überhaupt darum zu kümmern... oder mich zu suchen.

»Dein Knie. Du bist verletzt«, sagte Karma und richtete sich wieder auf.

Er hatte recht. Ich hatte es bis jetzt nicht realisiert und fast auf Kommando fing die Wunde an zu brennen, als würde sie mich glücklich begrüßen wollen.

»Was machst du da?«, fragte ich verwundert, da Karma in seiner Tasche herumwühlte und etwas herausholte, was sich als Desinfektionsspray und Pflaster entpuppte.

»Wonach sieht es denn aus?«, entgegnete er verständnislos. »Deine Wunde muss desinfiziert werden und die Luft hier drin ist nicht gerade gut für sie.«

Selbst seine Antwort beantwortete meine Frage nicht. Ich wusste immer noch nicht, was er da machte. Es ergab keinen Sinn. Warum half er mir und das schon wieder?

Ich sog scharf die Luft ein, als er mein Knie desinfizierte. Angesichts der Tatsache, dass er ziemlich oft in Schlägereien verwickelt war, wunderte es mich nicht, dass er so etwas dabei hatte und konnte. Es sah ziemlich geschickt aus, obwohl er ein Junge war. Die Frage war nur, wer ihm diese Sachen gegeben hatte. Ich war mir sicher, dass er sie nicht freiwillig mitgenommen hatte oder sie gar selbst gekauft hatte.

»Fertig«, sagte er, nachdem er das Pflaster platziert hatte und sah auf. Dabei erwischte er mich leider beim Starren, nur hatte ich gestarrt, weil er mir half und jetzt starrte er mich ebenfalls an. Einige Sekunden lang sagte keiner von uns etwas. Wir starrten uns nur an. Ich wusste nicht einmal warum, nur, dass sein Gesicht plötzlich sehr weich wirkte. »Ehm... tut es weh?«

»Oh... nein und danke... für deine Hilfe...«, sagte ich schnell. Ich hatte keine Ahnung, warum ich plötzlich nervös war.

Es war Akabane. Er mochte mich nicht und ich ihn nicht. Und doch half er mir gerade, obwohl es sonst niemand tat. Ich kam zwar allein zurecht, aber es machte mich trotzdem traurig, wenn ich bemerkte, dass niemand es versuchte oder sich überhaupt für mich wirklich interessierte. Und dann machte es ausgerechnet jemand wie Akabane...?

»Kein Problem«, sagte er und setzte sich plötzlich im Schneidersitz neben mir hin. »Vielleicht solltest du das nächste Mal nicht die Vordertür benutzen, wenn du Hausfriedensbruch begehst.«

Ein Schweißtropfen bildete sich auf meiner Stirn. Daran hatte ich nicht einmal gedacht. Stimmt, ich hätte hier nicht einfach herein spazieren dürfen. Die Hunde, die immer noch wütend bellten, beschützten aus irgendeinem Grund so gesehen nur das Grundstück. Ich war hier unerlaubt eingedrungen.

»Hast du nicht praktisch auch Hausfriedensbruch begangen?«, entgegnete ich, bekam jedoch ein freches Grinsen zurück.

»Mir ist es egal, ob ich in Schwierigkeiten gerate, im Gegensatz zu dir, du Spießerin. Ich bin es immerhin gewöhnt«, meinte er.

Ich verdrehte die Augen. Nur weil ich distanziert war und allein für mich blieb, hieß es noch lange nicht, dass ich eine Spießerin war... Ich wollte einfach eine sein. Es war eine bewusste und gewollte Entscheidung.

»Außerdem habe ich dir schon oft gesagt, dass du mich einfach Karma nennen sollst«, fuhr er fort und betrachtete das hölzerne Dach.

»Das hast du mir vor zwei Jahren dauernd gesagt und ich habe dir da bereits gesagt, dass ich kein Interesse daran habe«, erwiderte ich.

»Interessierst du dich eigentlich für irgendwas?«

»Zumindest nicht für dich.«

»Vielleicht hätte ich dich doch einfach als Hundesnack enden lassen sollen«, sagte er nachdenklich und sah nun zu den aggressiven Tieren. »Du bist mir ja nicht mal dankbar.«

»Ich...« Hörbar atmete ich aus. Ich wollte zwar, dass er sich weiterhin von mir fern hielt, etwas, wofür ich Monate gebraucht hatte, damit er es endlich getan hatte, doch ich wollte auch nicht, dass er mich für undankbar hielt. Nicht, wenn er die einzige Person seit langem war, die irgendwie Fürsorge für mich gezeigt hatte. »Danke... Ich... Ich bin dir wirklich dankbar... Karma.«

Überrascht sah er auf und musterte mich. Er hatte definitiv nicht damit gerechnet. Vermutlich, weil mich alle für abweisend und desinteressiert hielten. Auch etwas, das ich wollte. Es war besser, wenn sich alle von mir fernhielten. Das betonte mein Vater stehts. Es war besser, wenn ich mich von allen fernhielt. So verletzte ich niemanden so schlimm, wie er verletzt worden war. Aber sich einmal wirklich nachdrücklich dankbar zu zeigen - nachdem mir Karma das Leben gerettet hatte - würde niemanden schaden, richtig? Aus irgendeinem Grund wollte ich nämlich plötzlich nicht, dass er mich für undankbar hielt.

»I... ist was?«, fragte ich vorsichtig, als er auch nach fast einer Minute nichts gesagt und mich einfach nur angesehen hatte.

Das schien ihn aus seinen Gedanken zu reißen, da er schnell weg sah. Er nickte einfach nur, sagte jedoch nichts. Es gab mir Zeit, um mich noch einmal umzuschauen. Hinter uns waren zwei Fenster, wovon eins aber zugenagelt war. Da wir oben waren, war ich mir sicher, dass ich auch von dort nicht einfach rauskommen würde, außer wenn ich sprang.

»Von dort kommst du nicht raus«, sagte Karma, als hätte er meine Gedanken gelesen.

»Wie bist du denn hier rein gekommen?«, wollte ich wissen.

Er zögerte. Dann hob er seinen Arm und zeigte auf den hölzernen Schutt, den er zerstört hatte, um die Hunde abzulenken. Dort war ein weiteres Fenster und ein langes Brett, dass scheinbar bis hier hin gereicht hatte. Oh, nein...

»Sag mir nicht, dass du unseren Fluchtweg zerstört hast?!«, rief ich fassungslos.

»Tut mir leid, das nächste Mal überlasse ich dich einfach deinem Schicksal«, sagte er sarkastisch und verdrehte gelangweilt die Augen.

»Hättest du nicht irgendetwas anderes tun können?«, giftete ich ihn an.

»Klar, das nächste Mal ziele ich auf dich. Die Hunde werden sich freuen.«

»Das ist nicht witzig!«

»Sollte es auch nicht sein. So appetitlich wie du aussiehst, wären sie mir bestimmt dankbar.«

»A... Appetitlich?«, wiederholte ich verstört.

Karma schien zu bemerken, wie falsch sein Kommentar geklungen hatte, da er schnell den Kopf schüttelte, bevor er wegschaute. Irrte ich mich, oder war er da gerade leicht rot geworden?

»So war das nicht gemeint«, sagte er. »Vergiss es jetzt einfach. Es gibt nur zwei Wege nach draußen. Die Tür, aber dann würdest du die Hunde direkt wieder auf dich lenken und das Fenster da vorn.« Er zeigte auf die andere Seite, wo eine noch höhere, aber sehr kleine Plattform war. »Da ist ein kleines Dach und man kann leicht runter klettern.«

Mehrere Schweißtropfen bildeten sich auf meinem Gesicht. »Und... wie kommen wir an diesen Hunden vorbei...?«

»Wir warten bis sie einschlafen«, sagte Karma und stand gelassen auf. Er streckte sich einmal, bevor er wieder zum Heuberg lief und sich dort fallen ließ. »Das kann ein paar Stunden dauern. Du hast sie nämlich vorhin geweckt.«

Na, toll... Ich war sowas von geliefert. Absolut tot. Mein Dad hatte angekündigt, dass er heute vielleicht vorbeischauen würde. Wenn ich nicht da war, dann würde ich wieder... Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich schloss kurz die Augen. Ruhig bleiben. Wenn ich ihm erklärte, dass ich hereingelegt worden war, dann... war er vielleicht etwas nachsichtiger. Eins war klar... Er wäre noch wütender, wenn ich mit einem Biss nach Hause kommen würde. Er hasste Verletzungen und noch mehr hasste er Krankheiten. Dann wäre ich doppelt erledigt.

»W... was machen wir so lange?«, fragte ich nervös, um mich selbst auf andere Gedanken zu bringen, nur um zu bemerken, dass Karma bereits wieder die Spielkonsole in den Händen hielt.

»Entspannen«, sagte er. »Das hast du dringend nötig.«

Wie sollte ich auch entspannen, wenn ich wusste, dass mich eine ziemlich schlimme Strafe erwarten würde, wenn ich wieder zu Hause war? Seufzend stand ich auf, ergriff meine Tasche, lief zum Heuberg und ließ mich neben Karma nieder, was er verwundert zur Kenntnis nahm.

»Der Boden ist zu ungemütlich«, sagte ich. Er sollte nicht wissen, dass ich hier saß, weil ich mich unwohl fühlte. »Außerdem, wenn wir schon hier feststecken, dann kann ich auch Hausaufgaben machen.«

Er schnaubte. »Streberin.«

»Faultier«, erwiderte ich.

Karma sagte nichts, sondern wandte sich ganz seinem Spiel zu. Das gab mir zumindest die Möglichkeit, ihn von der Seite zu betrachten. Wieso war mir nie aufgefallen, wie süß er eigentlich war?
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»Erde an Naomi«, riss mich Karmas Stimme aus meiner Erinnerung. Er wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. »Woran denkst du gerade?«

»Ich... An diese angebliche Mutprobe, als du mich damals davor bewahrt hast von Hunden zerfleischt zu werden«, antwortete ich ehrlich.

»Huh, warum denkst du denn jetzt ausgerechnet da dran?«, fragte er.

Weil ich mich damals in dich verknallt hatte und danach praktisch deine persönliche Stalkerin geworden war. Fast hätte ich gelächelt. Ja, ich hatte ihn oft und sehr gern beobachtet, obwohl er mich danach scheinbar gar nicht mehr gemocht hatte... was ich ihm nicht einmal verübeln konnte. Es hatte kein sonderlich gutes Ende genommen.

»Weil es mir leid tut«, sagte ich. »Ich habe mich erst jetzt wieder daran erinnern...«

Er sah mich schweigend an, als würde er etwas abwägen. Dann runzelte er leicht die Stirn. »Wie konntest du vergessen, dass wir zusammen auf einem Heuhaufen geschlafen haben? Sag mir nicht, du hast so etwas öfters gemacht.«

Ich schüttelte entschieden den Kopf. Wieso hatte ich es vergessen? Weil ich danach mehrere Tage in dieser dunklen Kammer verbracht hatte. Der Tag erschien mir danach wie ein Fehler. Doch die Tatsache, dass ich so glücklich geworden war, wenn ich Karma gesehen hatte, hatte dafür gesorgt, dass sich meine Gefühle für ihn weiterentwickelt hatten. Ich konnte ihm davon jedoch nichts sagen, doch eine Halbwahrheit musste ich ihm geben. Aus irgendeinem Grund schien es ihn leicht zu verärgern.

»Ich bin an dem Tag zu spät nach Hause gekommen«, sagte ich. »Mein Dad war verdammt sauer auf mich und danach hatte ich eine ganze Woche Hausarrest... « - weil ich in der Kammer eingesperrt gewesen war und anschließend nicht mit meinen Verletzungen in die Schule gehen konnte - »... Ich schätze, ich wollte nicht daran erinnert werden.«

Karma schwieg erneut. Ich wusste nicht, ob es ein Fehler war ihm noch mehr Informationen zu geben, auch wenn es nicht alle waren. Wer wusste schon, was er damit machte? Er könnte und würde sie wahrscheinlich auch gegen mich verwenden. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich es ihm schuldig war. Ich hoffte nur, dass er nicht nur gerade netter zu mir war, weil er Mitleid mit mir aufgrund der Sache mit meinem Onkel hatte. Dass er nur netter zu mir war, weil er mich für verletzt hielt...

»Es ist eine schöne Erinnerung«, sagte ich etwas nervös, als er auch nach einer Weile immer noch nichts gesagt hatte.

Fast schon genervt legte er seinen Kopf in den Nacken und kniff die Augen zusammen. »Naomi, du hast mir eine geklatscht! Deine schöne Erinnerung scheint...«

»Das meinte ich damit nicht!«, unterbrach ich ihn. Er hielt inne und öffnete wieder die Augen, senkte seinen Kopf jedoch nicht. »Die Zeit, die wir miteinander verbracht haben. Du warst so nett zu mir.«

»Und du hast mir trotzdem eine geklatscht«, sagte er nicht einmal ein Bisschen besänftigt.

»Ich... bin eben eine Tsundere!«, versuchte ich es schwach, doch sein Blick änderte sich nicht. Ich brauchte eine andere Erklärung. »Okay, um ehrlich zu sein, ich bin in Panik geraten, als ich bemerkt habe, wie nah wir uns waren. Mein Vater wäre auch...«

»Schon gut, du brauchst es mir nicht zu erklären«, sagte Karma und schloss wieder seine Augen.

»A... aber...«

»Ich will deine Lügen einfach nicht hören, Naomi«, sagte er nachdrücklich.

Es war keine Lüge... Nur nicht die ganze Wahrheit... Ich war in Panik geraten, weil mein Herz viel zu schnell geschlagen hatte und ich einem Jungen - gerade ihm - so nahe gekommen war. Und dann war da noch die Tatsache, dass ich nicht einmal von ihm weg wollte, als ich neben ihm aufgewacht war. Ich hatte nicht mehr nach Hause gehen wollen...

Mit anderen Worten, aufgrund seiner Nähe hatte ich Wünsche entwickelt, die meinen sicheren Tod bedeutet hätten. Es wäre mehr als nur die Wut meines Vaters gewesen...

Nur... konnte ich es ihm nicht sagen... Dann müsste ich ihm alles erzählen und das würde meinen jetzigen Tod bedeuten...

Deshalb schwieg ich. Ich betrachtete meine Hände und sagte kein Wort. Diese Unterhaltung hatte mir viel zu sehr gefallen, genau das hatte ich befürchtet.

Sie hatte mir viel zu sehr gefallen, sodass ich mehr hatte haben wollen. Ich wollte immer noch mehr. Doch ich konnte nicht alles einfach aufgeben und hinwerfen, nur weil mir die Aufmerksamkeit, die er mir gegeben hatte, gefiel. Außerdem hatte ich ihn erneut verärgert. Ich verstand nicht einmal, wie ich es bei ihm so schnell schaffte.

»Was ist dein Lieblingsessen?«

Überrascht über diese plötzliche Frage, hob ich meinen Blick. Karmas Augen waren wieder geöffnet und er sah mich aus dem Augenwinkel an. Er bemerkte wohl die Tatsache, dass er mich überrumpelt hatte, weil er demonstrativ sein Smartphone hochhielt.

»Es geht auf mich«, sagte er. »Ich glaube, das hast du dir heute verdient.«

Vernünftig wäre es, jetzt wieder meinem Prinzipien zu folgen und die Fassade wieder aufzubauen.

Doch wie bereits erwähnt, war Karma meine Unvernunft.

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