29. Konsequenzen

Hola!

Das Kapitel wäre bereits am Sonntag gekommen, but... like always... stuff happened... Eigentlich sogar direkt zwei Partnerarbeiten, die ich allein machen musste und eine anschließende fette Erkältung. My luck!

Doch jetzt geht es endlich weiter.

Am Wochenende startet dann das nächste Q&A auf Instagram, if anybody is interested (@su.yu.san). Anyways...

Viel Spaß beim Lesen!
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Karma Akabane hatte mir defintiv ein Kompliment gemacht, das mich viel zu glücklich stimmte. Viel zu glücklich. Natürlich war mir noch bewusst, dass er mich trotzdem nicht mochte, auch wenn er mich hübsch fand. Er wirkte generell wie ein Typ, der eher darauf achtete, menschlich mit einer Person zusammenzupassen, die ihn, im Gegensatz zu mir, eben nicht nervte. Doch es freute mich trotzdem, dass er mich zumindest in einigen Punkten scheinbar ansprechend fand.

Nach unserem Gespräch hatte ich ihm wie versprochen Frühstück gemacht und danach in seinem Wohnzimmer allein gelernt, während er irgendein Videospiel gespielt hatte. Morgen war die Englischprüfung dran, dafür wollte ich unbedingt vorbereitet sein, obwohl ich ein relativ gutes Gefühl hatte. Die ganzen Lektüren, die Koro-Sensei uns empfohlen hatte, hatte ich praktisch in mir aufgesaugt und auch sonst hatte ich eher wenige Probleme in diesem Fach. Bitch-Sensei war auch, zugegeben, eine gute Lehrerin. Jedenfalls wenn es um die sprachlichen Kompetenzen ging... Ihr Englisch war auf einem wirklich sehr, sehr hohen Niveau und besser als das der Lehrer aus dem Hauptgebäude. Damit hatten wir schon mal gute Voraussetzungen.

»Hast du es wirklich so nötig für Englisch zu lernen?«, fragte Karma irgendwann, ohne von seiner Konsole in seiner Hand aufzuschauen.

Ich sah ebenfalls nicht auf. »Ich will nur sicher gehen, dass ich alles drauf habe.«

»Würde es wirklich so weh tun, wenn du nicht die volle Punktzahl erreichst?«

Bei dem Gedanken, was mir dann blühte, zuckte ich nicht einmal mit der Wimper. Wenn er nur wüsste, wie weh es tun würde. Im wahrsten Sinne des Wortes...

Physisch, aber besonders emotional.

Ich würde meinen Vater nämlich dann auch enttäuschen. Er würde... Mit steifen Fingern umklammerte ich den Stift in meiner Hand stärker. Dabei war er gerade so zufrieden mit mir. Ich hatte ihn seit dem Geschäftsessen nicht mehr enttäuscht... Wenn ich jetzt versagte und nicht perfekt abschnitt, dann würde ich wieder bei Null anfangen. Ich würde ihm wahrscheinlich noch mehr Stress bereiten, dabei hatte er bereits genug, besonders bei unserer so fehlerhaften Familie. Das wollte ich absolut nicht...

Eine Berührung an meiner Hand riss mich ziemlich brutal aus meinen Gedanken, obwohl sie nur leicht war. Brutal jedoch, weil ich dann bemerkte, dass ich vergessen hatte weiter zu atmen. Ich atmete tief ein, bevor ich meinen Kopf nach links drehte, wo Karma war, der neben dem Tisch kniete und mich sehr intensiv musterte. Weiter konnte ich aber nicht darüber nachdenken, da ich mich erst einmal darauf konzentrieren musste, meine Atmung wieder in den Griff zu bekommen.

»Hey, Naoko, was ist los?«, fragte er und klang dabei so, als hätte er die Frage bereits ein paar Mal gestellt.

Ich schüttelte den Kopf, um ihm zu verdeutlichen, dass ich gerade nicht sprechen konnte. Doch zu meiner Überraschung packte er mich ziemlich genervt an den Armen, zog mich nach oben und setzte mich auf die Couch. Es half zumindest und so schloss ich die Augen und atmete tief ein und wieder aus, so lange, bis das Gefühl einen fetten Kloß im Hals zu haben verschwand.

Erst dann bemerkte ich auch, dass ich zitterte. Ich wollte nicht wissen, wie sehr ich gerade gezittert hatte und war gleichzeitig froh, dass es sich allmählich legte.

Der Stress der letzten Tage machte sich wohl langsam bemerkbar. Normalerweise hatte ich sowas nur, wenn etwas wirklich sehr schlimmes passierte. Ansonsten hatte ich mich weitgehend im Griff. Auch, weil mein Vater dies hasste, da es meine Fehler widerspiegelte.

»Was genau ist los mit dir?«, fragte Karma verständnislos.

Ich schüttelte erneut den Kopf, aus Angst, dass meine Stimme komisch klingen und er bemerken könnte, dass etwas los war.

Er schnaubte. »Naoko, ich weiß, was das war. Sag mir bloß nicht, dass du so viel Panik schiebst, weil du unbedingt die volle Punktzahl erreichen willst.«

Also hatte Karma es bereits bemerkt. Zum Glück verband er es jedoch mit etwas anderem. Das konnte ich mir zur Nutze machen.

»Nur ein sehr gutes Ergebnis«, murmelte ich und erntete dafür eine genervte Reaktion, bevor er sich wieder auf seinen Platz fallen ließ und die Konsole schnappte.

»Deine Einstellung ist so beschissen«, sagte er.

Er klang ziemlich abwertend... Irgendwie konnte ich ihm aber keinen Vorwurf machen. Er hatte das Recht mich zur verurteilen und im Grunde war ich auch nichts anderes gewöhnt. Erst, wenn ich aufhörte so fehlerhaft zu sein, durfte ich etwas dagegen einwerfen.

»Ich muss gleich nach Hause«, sagte ich und klappte mein Buch zu.

Mir fiel gerade auf, dass ich meine Medikamente nicht genommen hatte. Die Aufregung gestern hatte es mich vergessen lassen. Das könnte der Grund sein, wieso ich gerade so angespannt war...

»Gratulation«, sagte Karma trocken.

Ich seufzte. Gestern war er empfänglicher und zumindest etwas netter gewesen. Also entweder er hatte gestern einen guten Tag gehabt, oder ich hatte wirklich sehr mitgenommen ausgesehen, sodass sogar er Mitleid mit mir gehabt hatte.

Das würde jedoch voraussetzen, dass Karma wirklich so etwas wie Mitleid verspüren konnte, was ich bei all seinen Opfern und sadistischen Taten eher bezweifelte. Was war es also, dass ihn veranlasst hatte, mich in seine Wohnung zu lassen? Wieso genau hatte er mir nicht einfach die Tür vor der Nase zugeschlagen?

Nachdenklich schloss ich mein Buch und fing an meine Sachen einzupacken. Ich war zumindest froh, dass er für mich da gewesen war. Sowas hatte ich noch nie gehabt und es war schön gewesen, nicht komplett auf mich allein gestellt gewesen zu sein.

Schließlich griff ich nach meiner Tasche und schulterte sie.

Aber jetzt... jetzt musste ich dieses Problem allein lösen.
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Karma hatte sich nicht einmal von mir verabschiedet, als ich seine Wohnung verlassen und mich auf dem Weg gemacht hatte. Das war jedoch in Ordnung, da er mir in den letzten Tagen sehr geholfen hatte. Mehr als sonst jemand. Umso mutiger war ich gewesen, als ich den Weg zum Unternehmen meines Vaters eingeschlagen hatte.

Und dieser Mut verließ mich in dem Moment, als ich die Eingangshalle dieses riesigen Gebäudes betrat.

Ich war ziemlich selten hier. Einerseits weil er sehr beschäftigt war und ich seine Zeit respektierte, andererseits auch, weil ich wusste, dass ich unerwünscht war. Selbst als Mom noch am Leben gewesen war, hatten wir ihn selten hier besucht, weil er, wie sie immer betont hatte, ein engagierter Geschäftsmann war. Nach ihrem Tod schien er sich nur noch mehr in die Arbeit gestürzt zu haben. Ich wusste um endlich zu sein nicht, ob er wirklich so viel arbeitete, dass er nicht einmal Zeit für mich hätte, wenn ich bei ihm leben würde. Danach hatte er nämlich veranlasst, dass ich mit meinem Onkel und meiner Tante einzog, die finanziell sehr gestruggelt hatten.

Er half ihnen. Sie passten auf mich auf.

Das war der Deal gewesen.

Und ich hatten ihn absolut gehasst. Damals hatte ich bei meinem Vater bleiben wollen. Die Äußerung dieses Wunsches hatte gar nicht gut geendet. Es waren die Anfänge seiner Veränderung gewesen.

Die Frau an der Rezeption schien mich zu erkennen. Sie war jung, hatte kurzes blondes Haar und ein ziemlich sympathisches Lächeln. Das war auch der Grund gewesen, wieso wir auf einigen geschäftlichen Veranstaltungen ins Gespräch gekommen waren. Das und weil sie einen gewaltigen Mitteilungsdrang hatte. Es war mir sofort aufgefallen.

Wenn ich ehrlich war, hatte ich mir ihren Namen immer noch nicht gemerkt... Es war auch nie zur Sprache gekommen, wenn ich mich recht entsinnte, denn ich erinnerte mich noch an unsere ganzen Gespräche.

»Naoko-san«, sagte sie freundlich. »Es ist schön dich hier begrüßen zu dürfen. Wie kann ich dir helfen?«

»Ich wollte... zu meinem Vater«, sagte ich zögerlich. Ich wusste um ehrlich zu sein nicht genau, ob sie mich überhaupt zu ihm lassen würden und welche Konsequenzen es für mich haben würde. Ich hoffte nur er wusste, dass ich sonst niemals zu ihm kommen würde, wenn es nicht sehr wichtig war. »Es ist wirklich wichtig. Es geht um eine Angelegenheit, um die er mich gebeten hat.«

»Hast du einen Termin?«, fragte sie, während sie etwas in ihrem Computer eintippte.

»Nein... Ich habe gehofft, dass er vielleicht... zwei Minuten Zeit hat. Es dauert wirklich nicht lange«, sagte ich.

Die junge Frau nickte kurz, aber zögerlich. Dann hob sie wieder ihren Blick und lächelte mich an.

»Bitte warte dort drüben«, sagte sie und deutete auf die Ledersofas, auf denen die Gäste immer warteten, bis ihre Geschäftspartner oder mein Dad Zeit für sie hatten.

Ich nickte und drehte mich um, genau, als sie nach dem Telefon griff. Mir war ziemlich mulmig zumute. Ich wusste nicht mehr, ob es so eine gute Idee oder Lösung war, aber es war meine einzige Option. Wenn ich nach Hause ging, würde es nicht gut enden. Ich würde die Situation nicht ertragen und mittlerweile wusste ich nicht, was sie machen würden. Zu was sie fähig waren... Wenn sogar ein fünfjähriges Kind miteingebunden wurde, um mir das Leben zur Hölle zu machen, das bereits das Leben ihrer Eltern zur Hölle machte...

»Naoko-san.«

Die Stimme der jungen Frau riss mich aus meinen Gedanken. Ich erhob mich vom Sofa und sah sie erwartungsvoll an, als sie zu mir trat.

»Dein Vater erwartet dich«, sagte sie.

Ich bedankte mich lächelnd und lief zu den Aufzügen, auf die sie zeigte. Meine Beine fühlten sich ziemlich weich an und ich hoffte inständig, dass man mir mein Unbehagen nicht ansah. Ich stieg ein und betätigte den Knopf, der von der Zahl zwölf geziert wurde. Was mich wohl erwarten würde? Zwar hatte ich mir Gedanken gemacht, was ich sagen sollte, aber plötzlich schien mein Gehirn wie leer gefegt zu sein. Auf jeden Fall durfte ich nicht den Eindruck machen, als würde ich petzen wollen. Mein Vater sollte das Gefühl bekommen, dass ich auf seine Anweisungen hörte und in seinem Interesse handelte. Es ging hier nicht nur um mich.

Es ging darum, dass sich diese Frau schon das zweite Mal herablassend über Mom geäußert hatte.

Mir war es mittlerweile in einigen Punkten egal, welche Konsequenzen es für diese Familie hatte. Wenn sie ihre Fehler nicht einsehen wollten und sich zunehmend unmöglicher benahmen, dann brauchten sie einen gewaltigen Aufwecker. Alle anderen hatten sie gewissenhaft ignoriert oder verleugnet.

Die Türen des Aufzugs öffneten sich und gaben die Sicht auf das große, luxuriöse Büro sowie meinen Vater frei, der an seinem riesigen Schreibtisch vor seiner Fensterfront saß.

Er hob nicht einmal den Kopf, als ich eintrat, doch ich lief nur zwei Schritte vor, unsicher, ob ich überhaupt die Erlaubnis hatte, mich ihm mehr zu nähern.

»Gibt es einen Grund, warum du mich störst, Naomi?«, fragte er in einem klaren autoritären Tonfall.

Ich schluckte schwer und verstärkte meinen Griff um meine Tasche. Er klang defintiv nicht begeistert.

»Hallo und verzeih mir die Störung«, sagte ich mit möglichst fester Stimme.

»Ich habe dir eine Frage gestellt.«

Ich nickte schnell, auch wenn er es nicht sehen konnte. Er hasste es sich zu wiederholen. Wie konnte ich das nur vergessen?

»Es geht um die Umstände zu Hause. Du wolltest, dass ich dich darüber in Kenntnis setze«, sagte ich schnell.

Trotz des Abstands zwischen uns konnte ich sehen, wie er sich anspannte. Mit starren Zügen sah er auf und ich war so froh, dass ich mittlerweile gelernt hatte, nicht zusammenzuzucken. Das hasste er nämlich auch.

»Du willst mir sagen, dass dieses Ungeziefer ihre Lektion nicht gelernt hat?«, fragte er gefährlich ruhig. »Und deshalb störst du mich?«

Er war von beiden Punkten nicht begeistert. Das hatte ich geahnt. Und genau deshalb musste ich dies nun sagen. Das war auch der Punkt, wieso ich hier war.

»Shiori hat gesagt, dass ihre Situation... irgendwie Moms Schuld sei«, sagte ich.

Er erstarrte. Sein Blick wurde schlagartig dunkler und ich sah, wie sich seine Hand um das Glas verkrampfte, nachdem er gegriffen hatte. Schnell fuhr ich fort, um ihm zu signalisieren, dass ich ebenfalls damit nicht einverstanden war...

»Sie scheint nicht zu verstehen, dass sie nicht das Recht hat Mom zu erwähnen. Stattdessen sagt sie, dass sie ein Recht auf dieses Leben habe und es ihr weg...«

Ich brach mitten im Wort ab, als das Glas, das vor noch nicht einmal einer Sekunde auf dem Schreibtisch gestanden hatte, krachend neben mir an der Wand zerbrach. Es ging so schnell, dass ich noch nicht einmal Zeit gehabt hatte zu reagieren. Um ehrlich zu sein war ich davon auch so überrumpelt, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte. Ich stand einfach nur stocksteif da und starrte in seine glühenden Augen, die mich intensiv und fast schon hasserfüllt ansahen.

»Geh mir aus den Augen.«

Er betonte jedes Wort mit einer unfassbaren Wut, dass ich es nicht einmal schaffte zu nicken. Stattdessen drückte ich schnell auf den Knopf neben mir, ohne ihn aus den Augen zu lassen und war sehr froh darüber, als die Türen des Aufzugs sofort aufgingen.

Ich entspannte mich auch nicht, als sie wieder zu gingen und ich herunter fuhr, geschützt von seinen Blicken und seiner Wut.

In diesem Moment fragte ich mich nur eins...

Hatte ich gerade überhaupt das Richtige gemacht?

War meine Reaktion vielleicht zu übertrieben und zu emotional gewesen? War ich zu emotional?
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Die nette Frau an der Rezeption hatte mich gestoppt, als ich den Ausgang angesteuert hatte. Ihren besorgten und verunsicherten Blick hatte ich nicht einmal bemerkt, genauso wie ihre Aussage. Ich brauchte zwei Anläufe, um zu verstehen, dass sie mit mir sprach.

»Du hast einen Schnitt an der Wange.«

Erst in diesem Moment spürte ich das warme Blut, dass an dieser herunterfloß. Doch ich hob nicht einmal meinen Arm, um es wegzuwischen, sondern wich dem besorgten Blick der jungen Frau nur aus. Ich wollte nicht, dass sie Fragen stellte.

Als hätte sie geahnt, dass ich weiter gehen wollte, griff sie nach meinem Arm und bedeutete mir ihr zu folgen. Und so war ich in einem kleinen Raum gelandet, wo sie meine Wunde desinfizierte und ein Pflaster drauf machte. Die ganze Zeit hatte sie nichts gesagt, wofür ich ihr dankbar war. Doch als sie fertig war, blickte sie mich kurz geduldig an.

Das war das Zeichen für mich, ihr keinen Freiraum für ihre Gedanken zu geben.

»Ich war sehr ungeschickt«, sagte ich leise. »Mein Vater ist deshalb sauer geworden... wofür ich mich schlecht fühle. Er hasst es, wenn ich verletzt werde...«

Das tat er wirklich. Nur die Verletzungen, die ich von ihm hatte, waren akzeptabel. Schließlich sollte ich aus ihnen lernen, aber ich wusste gerade nicht... ob ich etwas richtiges oder falsches gemacht hatte...? Was sollte ich daraus lernen?

»Dein Dad reagiert sehr sensibel auf Krankheiten und Verletzungen, ich weiß«, sagte die junge Frau und lächelte mich aufmunternd an. Ich sah sie jedoch trotzdem nicht an, sondern blickte gen Boden. »Mach dir keine Vorwürfe. Er wird nicht lange sauer auf dich sein. Aber wie genau hast du dich verletzt?«

»Könnte ich vielleicht bitte etwas zu trinken haben?«, fragte ich leise. »Mir ist sehr schwindlig und ich muss meine Medikamente nehmen.«

Auch wenn ich sie nicht sah, spürte ich ganz deutlich ihren mitfühlenden Blick. Natürlich wusste sie, was genau ich meinte. Sie war eine seiner Assistentinnen.

»Hast du auch Hunger?«, fragte sie mit einem Blick auf die Uhr. »Es ist gleich Mittagspause. Ich bringe dir etwas mit. Warte hier und leg dich hin, okay?«

Ich nickte.

Um ehrlich zu sein wusste ich gerade nicht mal, was ich machen sollte oder welche Optionen ich hatte. Durfte ich gehen? Wohin sollte ich dann überhaupt? Einfach... nach Hause? Obwohl es sich nicht einmal wie ein zu Hause anfühlte... Doch wie sollte ich dies, wenn ich nicht einmal wusste, was die Familie meines Onkels erwartete? Und wie sollte ich dies, wenn ich wusste, dass meine Tante defintiv wieder eine Aktion bringen würde?

Wohin sollte ich überhaupt...?

Ich verbrachte fast fünfzehn Minuten allein in diesem Raum und zerbrach mir den Kopf darüber. Aber auch als die nette Assistentin wieder zurück war und mir eine dampfende Box mit Ramen sowie eine Flasche Wasser gab, war ich noch zu keinem Ergebnis gekommen.

Ich hatte schon immer gewusst, dass ich im Grunde keinen Platz hatte, doch mir ist dies noch nie nochmal so bewusst geworden.

Während ich aß, beobachtete ich die ganzen Personen, die an dem Raum vorbeiliefen, in dem ich mich befand. Hier gab es ein abgedunkeltes Fenster, sodass ich nach draußen blicken konnte, ohne, dass mich jemand sah. Die Tür war ebenfalls angelehnt und ich konnte jedes Wort verstehen, dass die junge Frau und ihre Kollegin an der Rezeption mit den anderen Gästen oder miteinander wechselten. Da war nicht wirklich etwas sonderlich interessantes dabei, doch es lenkte mich zumindest ein wenig ab.

Als ich schließlich fertig war, lehnte ich meinen Kopf nachdenklich an die Wand hinter mir und überlegte. Wieder zu Karma zu gehen, wäre eine Möglichkeit, die ich aber absolut nicht wollte. Der Typ wusste schon zu viel und ich war schließlich hier hin gekommen, um meine Probleme zu beseitigen. Mittlerweile war ich seit mehr als einer halben Stunde in diesem Raum. Ich hatte genug Zeit gehabt, mich halbwegs wieder zu beruhigen. Jedenfalls hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass ich jeden Moment einfach umkippen könnte. Aber noch wollte ich mich den Problemen zu Hause nicht stellen, daher erschien es mir nur richtig, wenn ich wieder in ein Café ging und dort lernte.

Dies würde ich in diesem Haus und bei meinem Glück sowieso nicht hinbekommen, vor allem, wenn Ai wieder einen Wutanfall hatte.

»ICH HABE ABER KEIN BOCK HIER ZU SEIN! ICH WILL WAS SPIELEN!«

Ein Schweißtropfen bildete sich auf meiner Stirn. Bildete ich mir mittlerweile ihre kreischende Stimme ein?

Nein. Nein, absolut nicht, wie ich feststellte, als ich durch das Fenster sah, dass meine Tante das Unternehmen mit einer sehr unzufriedenen Ai im Schlepptau betreten hatte. Als ob es nicht schon genug wäre, musste ich feststellen, dass die Szene... irgendwie komisch wirkte. Es war nicht die Tatsache, dass Ai wieder in eines ihrer lieblichen Kleider steckte, sondern auch die, dass meinte Tante wirklich sehr hergerichtet aussah. Wirklich sehr. Noch mehr als sonst.

Sie manövrierte Ai zu den Sofas und setzte sie drauf. Diese rutschte jedoch sofort laut protestierend wieder herunter. Das wusste ich, da ich zumindest ihren lauten Protest hörte. Die Stimme meiner Tante war wiederum zu leise, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sie nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregten. Das war jedoch bereits zu spät, da sogar ich sah, wie sich fast alle Personen in der Eingangshalle zu der nervtötenden Geräuschquelle umdrehten.

Auch wenn ich in diesem Raum saß, schämte ich mich sehr, als meine Tante Ais IPad herausholte und es dieser gab. Erst dann realisierte ich, dass sie diese dort lassen wollte... Unbeaufsichtigt... Okay, nein, es war doch nicht unbeaufsichtigt, da meine Tante auf dem Weg zum Aufzug sich nochmal an die beiden Frauen an der Rezeption wandte.

»Bringen Sie ihr Kekse und haben Sie ein Auge auf sie.«

Damit stolzierte sie einfach weiter, setzte ein süffisantes Lächeln auf und verschwand im Aufzug.

Verdattert runzelte ich die Stirn. Das war schräg, selbst für ihre Verhältnisse...

»Sie versucht uns ja schon wieder Anweisungen zu geben«, hörte ich die andere Frau an der Rezeption seufzen. »Ich fasse es nicht, dass sie immer noch nicht versteht, dass sie genauso wie wir nur eine Mitarbeiterin ist.«

Die junge Frau, die mir heute so geholfen hatte, kicherte leise. »Denkst du, dass sie wieder versucht ihn zu verführen?«

Meine Augen weiteten sich und ich schlug die Hände vor dem Mund, um keinen erstickten Laut von mir zu geben. Sie sprachen nicht von meinem Vater, oder? Das konnte nicht sein. Nein... Nein, das war nicht möglich.

»So wie das Flittchen aussah, hat sie ihre Hoffnung immer noch nicht aufgegeben. Da hat sie die Heirat mit seinem Bruder auch nicht aufgehalten.«

Mein Mund klappte auf und am liebsten hätte ich den beiden gesagt, dass sie aufhören sollen in meiner Gegenwart darüber zu sprechen, doch gleichzeitig wollte ich mehr darüber wissen. Ich wollte wissen, ob etwas dran war. Das wäre...

»Ich bin wirklich froh, dass Naoko-san so anständig ist«, seufzte die nette Frau. »Dieses Drama wäre für das Unternehmen gar nicht gut.«

»Aber es wäre interessant«, erwiderte die andere. »Der Arme vermisst jedoch seiner Frau, das weiß jeder... So eine Respektlosigkeit dann von seiner eigenen Schwägerin ist da wirklich unerhört.«

»Ich verstehe nicht, wie diese Frau so sein kann. Du musst dringend seine Tochter kennenlernen, sie ist im Vergleich zu ihrer Familie so ein liebes, höfliches Mädchen und...«

»Achtung, das kleine Monster kommt.«

Ich nahm das Zischen kaum wahr, wusste jedoch sofort, wen sie meinte, da Ai von dem Sofa gerutscht war und die beiden scheinbar ansteuerte. So verschwand sie zumindest aus meinem Blickfeld.

»Ich will Kekse. Gibt mir sofort Kekse«, hörte ich ihre Stimme sagen.

Sie kreischte zumindest nicht.

Noch nicht.

»Guten Tag, Naoko-chan«, wurde Ai von der freundlichen jungen Frau höflich begrüßt. »Leider haben wir keine Süßigkeiten hier. Aber ich bin mir sicher, dass deine Mama dir welche holt.«

»ICH WILL KEKSE! ICH WILL JETZT SOFORT KEKSE!«

Am liebsten wollte ich selbst aus dem Raum treten und ihr einen Vortrag über anständiges Verhalten halten, auch wenn ich wusste, dass es nichts bringen würde. Gleichzeitig war ich aber froh, dass ich mich mit ihrem widerlichen Verhalten gerade nicht auseinandersetzen musste.

»Wir haben dir gerade gesagt, dass wir keine haben. Bitte setz dich wieder auf deinen Platz und warte auf deine Mama«, sagte die andere deutlich strenger.

»Ihr seid nicht brav! Das sag ich meiner Mama und dann seid ihr gefeuert!«, sagte Ai wütend, drehte sich um und erschien wieder in meinem Blickfeld.

Schon wieder schämte ich mich, als ich bemerkte, mit wie viel Stolz und erhobenen Hauptes dieses Kind genau wie ihre Mutter vorhin zu ihrem Platz stolzierte. Dort schnappte sie sich wütend wieder ihr IPad und schlug mehrmals drauf.

Mich würde es tatsächlich nicht überraschen, wenn ihre Mutter ihr erzählt hatte, dass das Unternehmen ihnen gehörte... In den letzten Tagen hatte ich mehr über meine Familie erfahren, als ich wollte... und mit den heutigen Informationen, schien ihr Verhalten nochmal eine ganz neue Bedeutung zu bekommen.

Eine, die dafür sorgte, dass sie mir komplett fremd erschienen und für noch mehr Verachtung sorgte.

»Kann ihre Cousine nicht mit ihr schimpfen? Ich muss mich wirklich zurückhalten, diesem Monster nicht eine über die Rübe zu ziehen«, hörte ich die Frau wieder sprechen.

Die Assistentin meines Vaters schien gar nicht begeistert über diesen Vorschlag zu sein. »Hör mal, sie ist ein Kind. Man muss sie mit Liebe und Geduld erziehen. Außerdem möchte ich Naoko Naomi nicht damit stressen. Das arme Mädchen ist gesundheitlich sehr angeschlagen.«

»Ist sie immer noch im Hinterraum?«

»Ja, ich sagte ihr, dass sie sich erst einmal ausgiebig ausruhen soll und dann werde ich ihr ein Taxi rufen.«

Das würde nicht nötig sein. Ich würde nämlich nicht sofort nach Hause fahren.

Ich hörte ein leises Flüstern, was ich nicht mehr genau verstand. In diesem Moment ging jedoch die Tür des Aufzugs auf und meine Tante trat heraus. Von ihrer strahlenden Haltung war nichts mehr übrig. Im Gegenteil. Sie schien sogar leicht zu zittern, während sie eilig und mit kreidebleichem Gesicht den Ausgang ansteuerte. Das gute zumindest war, dass Ai ihre Mutter noch sah, ebenso schnell mit einem "Mama!"-Aufschrei aufstand und ihr mit einem ebenso lautem quengelnden Kreischen folgte. Ansonsten hätte sie diese wahrscheinlich einfach dort gelassen.

Vielleicht wollte sie dies auch...

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und ich stand mit zittrigen Beinen auf. Mein Vater hatte defintiv Konsequenzen gezogen, da war ich mir sicher. Ich wusste nur nicht, welche es waren oder eben, ob sie überhaupt gut sowie fair waren. Das würde ich wahrscheinlich herausfinden, wenn ich nach Hause ging...

Darauf freute ich mich absolut nicht...

»Ihr Verführungsversuch hat wohl wieder nicht funktioniert«, lachte die Frau, als ich vor der Tür stand, um den Raum zu verlassen. Ich wollte um ehrlich zu sein hier weg und erst einmal abschalten. »Sie hat sogar fast ihr Balg vergessen.«

»Oh, je, sie sah noch mitgenommener aus als sonst...«

Ich verkrampfte mich, als ich die Türklinke ergriff. Mitgenommener... als sonst...

Irgendwie war mir gerade ziemlich schlecht...

Entsetzt zuckte ich zusammen, als ich sah, dass mein Vater aus dem Aufzug trat. Er wirkte ruhig, von seiner Wut war nichts mehr zu sehen, seine Züge waren sehr entspannt. Schnell beeilte ich mich aus dem Raum zu treten, woraufhin mich die beiden Frauen kurz verwundert ansahen. Doch als sie meinen Vater bemerkten, der zu ihnen trat, schienen sie zu verstehen. Er beachtete sie jedoch nicht. Überraschenderweise sah er mich an und das mit einer beängstigenden Ruhe. Er schien mich nicht einmal zu mustern, sondern sah mich einfach nur an.

Hoffentlich sah ich nicht mehr so mitgenommen aus... Das würde ihn nur enttäuschen...

In einer geschmeidigen Bewegung platzierte er seine große Hand plötzlich auf meiner Schulter. Spätestens jetzt hatte ich meine Mimik nicht mehr im Griff und betrachtete ihn wahrscheinlich unfassbar verwirrt und abwartend.

Mit dem nächsten Satz hatte ich absolut nicht gerechnet...

»Ich bin stolz auf dich, Naomi.«
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Welche Konsequenzen meine Tante bekommen hatte, wusste ich immer noch nicht, als ich am nächsten Tag vorbereitet und doch beängstigend entspannt zur ersten Prüfung das Hauptgebäude der Schule ansteuerte. Sie hatte mit meinem Onkel zumindest ziemlich lautstark gestritten, weshalb ich mich bei meiner Ankunft sofort auf mein Zimmer verkrümmelt hatte, wo ich meine Tür abgeschlossen hatte. Eine weitere Tür, die abgeschlossen gewesen war, war Ais gewesen, die kreischend und heulend dagegen gehämmert sowie verlangt hatte, dass sie rausgelassen werden sollte. Also was auch immer vorgefallen war, es war nichts gutes, jedoch war es mir egal.

Es war mir egal, da es die Konsequenzen ihres eignen Verhaltens war. Es war mir egal, weil mein Vater ihnen genug Chancen gegeben hatte.

Es war mir egal, weil er stolz auf mich war.

Ich hatte seine Erwartungen getroffen und richtig gehandelt. Darüber war ich froh und diese Freude würden sie mir nicht nehmen können.

»Du bist ja zum ersten Mal nicht überpünktlich«, hörte ich eine mir bekannte Stimme vor dem Eingang des Gebäudes sagen, die dafür sorgte, dass ich meinen Blick hob. »Hat unsere Musterschülerin etwa verschlafen?«

Karma sah mich erst grinsend an. Dann schien sein Grinsen einzufrieren und er runzelte leicht die Stirn.

»Ich bin immer noch pünktlich«, erwiderte ich und blieb neben ihm stehen. Er lehnte gegen eine Säule, einfach, weil er seinem coolen Badboyimage gerecht werden wollte.

Um ehrlich zu sein hatte ich eigentlich keine Ahnung, wieso er es tat, doch es war schon fast klischeehaft. Vielleicht hatte er ja auf Nagisa oder so gewartet.

»Außerdem habe ich mir lediglich auf dem Weg Nervennahrung geholt«, fuhr ich fort, während die anderen Schüler angespannt an uns vorbei liefen.

Wer konnte es ihnen verübeln? Die Prüfungen hatten es ziemlich in sich und bestimmten ihre ganze Zukunft. Wenigstens jedoch nicht meine.

»War das deine Tante?«, fragte Karma plötzlich.

Erst sah ich ihn verwirrt an, doch dann fiel mir auf, was er da gerade betrachtete. Mein Gesicht oder eher gesagt das Pflaster auf meiner Wange.

Ich verstand, dass mein Vater mich nicht hatte verletzen wollen. Er war eben emotional gewesen. Das verstand ich. Die Informationen waren für ihn sehr schmerzhaft und so war seine Reaktion vollkommen legitim.

Es war okay.

Aber das würde ich trotzdem niemandem erzählen. Sie würden es nicht verstehen, weil sie die Umstände auch nicht kannten.

Ich schnaubte. »Glaubst du wirklich, dass sie es wagen würde mich zu verletzen? Nein, das hier war meine eigene Dummheit. Ich geh jetzt rein, sonst...«

Eigentlich hatte ich mich abwenden und weiterlaufen wollen, doch Karmas unergründlicher Gesichtsausdruck ließ mich innehalten. Er sah mich einfach nur an und das ziemlich lange, bevor er genervt schnaubte.

»Du bist zwar unfassbar nervig«, meinte er und wandte sich von mir ab, »aber nicht dumm. Jedenfalls dachte ich das.«

Mit diesen Worten betrat er das Hauptgebäude und ließ mich einfach stehen. In diesem Moment fragte ich mich tatsächlich hauptsächlich, wieso genau er überhaupt hier gestanden hatte, wenn er jetzt einfach ging...

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