27. Schuld

Hola!

As promised, das Kapitel kommt dieses Mal schneller, but this won't be a common theme. Mich wird in nächster Zeit noch mehr Arbeit erwarten, deshalb wollte ich dieses wichtige Kapitel vorher hochladen (back to university... wuhuuu...).

Es enthält einige Informationen, die wahrscheinlich... so manche Fragen beantworten werden und ist ein Meilenstein in der Storyline. Dazu kommen bald noch ein paar psychologische Erklärungen auf Instagram (@su.yu.san), so you will understand it a bit better then.

Anyways, viel Spaß beim Lesen!
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»Ach, komm schon, beantworte endlich meine Frage, Naoko«, sagte Nakamura über ihren Erdbeermilchshake hinweg grinsend und sah mich erwartungsvoll an. »Und ich will alle schmutzigen Details hören. Was genau hast du bei Karma getrieben?«

Ich hatte um ehrlich zu sein in ein Café gehen wollen, um in Ruhe zu lernen. Nakamura jedoch hatte sich nicht abwimmeln lassen, als ich ihr gesagt hatte, dass zwischen Karma und mir eben - leider - nichts liefe und hatte sich mir angeschlossen. Ich hatte tatsächlich nichts dagegen, einfach, weil ich mich schon immer gefragt hatte, ob es nicht toll wäre mit einem anderen Mädchen, das sowas wie eine Freundin für mich war, in einem Café abzuhängen. Auch wenn wir nur Klassenkameradinnen waren, es war genau die Situation, die ich mir vorgestellt hatte.

Amüsiert stützte ich mich auf den Tisch ab und fing an meinen eigenen Shake mit meinem Strohhalm umzurühren. Mädchen, die über einen Jungen tratschten und schwärmten, genau das könnte ich jetzt bekommen, aber wie gesagt, wir waren leider keine Freundinnen. Ich wusste nicht, wie viel und ob ich ihr überhaupt vertrauen konnte. Also konnte ich ihr nicht von meiner Schwäche für Karma erzählen.

Er durfte schlichtweg nichts davon erfahren.

Aber ich wusste auch, dass Nakamura nicht nachgeben würde. Sie hatte mir die Frage jetzt mindestens schon fünfmal gestellt, also entschied ich mich für eine andere Taktik.

»Willst du nicht eher wissen, wie wir es getrieben haben?«, fragte ich spielerisch.

Die Augen des blonden Mädchens weiteten sich und mit einem Mal schienen sie förmlich zu glitzern. »Du machst Witze!«

»Wieso sonst, sollte ich, das langweilige Mädchen, das Karma absolut nicht leiden kann, bei ihm übernachten?«

Ihr Glitzern hörte mit einem Mal auf und sie schien über meine Worte nachzudenken. Jap, ich hatte sie daran erinnert, dass Karma gar kein Interesse an mir haben konnte. Tatsächlich wirkte sie jetzt etwas enttäuscht, wobei sie sogar ein wenig schmollte.

»Du machst wirklich Witze«, stellte sie fest. »Oh, Mann und ich dachte, dass du jetzt mit den juisy Erzählungen herausrückst.«

Ich kicherte. »Ich habe dir bereits gesagt, dass da nichts passiert ist. Im Grunde habe ich nur etwas Hilfe mit Mathe gebraucht. Ich verstehe ein Thema absolut nicht und dann ist es spät geworden. Da Karma zu faul war mich nach Hause zu begleiten, musste ich bei ihm gezwungenermaßen übernachten. Ich wollte keinen Ärger von meinem Vater bekommen.«

Der letzte Satz war eine Lüge, doch ich wollte damit meiner Erklärung mehr Gewicht und Überzeugungskraft verleihen. Es schien sogar zu funktionieren, da Nakamura nachdenklich nickte.

»Das klingt wirklich nach Karma«, sagte sie seufzend. »Ach, shit. Ich dachte, dass ihr zwei vielleicht heimlich miteinander geht oder so. Das wäre ein aufregender Skandal gewesen.«

Ich lachte jetzt. Und das war typisch für unsere Nakamura Rio. Etwas anderes hatte ich nicht von ihr erwartet.

»Aber meinst du nicht, dass Karma eher der Typ ist, der ganz öffentlich zeigt, dass er eine Freundin hat?«, fragte ich sie interessiert.

»Das... stimmt«, sagte sie langsam und klatschte sich gegen die Stirn. »Mann, jetzt hab ich wirklich nicht nachgedacht und zu viel hinein interpretiert. Er würde seine Freundin wahrscheinlich eher wie eine Trophäe präsentieren, vor allem, wenn sie auch noch so hübsch ist wie du. Er hätte keinen Grund nicht mit dir anzugeben.«

Jetzt war ich ziemlich verdutzt. Ich wartete ab, in der Hoffnung, dass sie fortfuhr und mir von sich aus eine Erklärung für ihre Aussage lieferte. Aber sie machte es nicht, weshalb ich entschied nun von mir aus vorsichtig Informationen einzuholen. Vor allem hatte ich selbst noch einige Fragen mehr zu dem ganzen.

»Meinst du das ernst?«, fragte ich und versteckte dabei meine Überraschung nicht einmal.

»Aber logo«, sagte sie fast schon lässig, als würde sie mir etwas offensichtliches erklären. »Du kannst mir nicht sagen, dass dir nicht bewusst ist, was für ein Fang du wärst. Du bist optisch sehr ansprechend.«

Nachdenklich sah ich an die Decke. Darüber machte ich mir tatsächlich nie wirklich Gedanken. Mein Vater hatte mir immer gesagt, dass ich mich herrichten musste und bis jetzt hatte er nie etwas dagegen gesagt. Also machte ich in der Hinsicht keinen Fehler... Außerdem sagte mir jeder, dass ich genauso wie meine Mutter aussähe. Das war das größte Kompliment für mich, nicht nur, weil sie wirklich wunderschön gewesen war.

Sie war in so vielen Punkten mein Vorbild...

»Die Jungs in unserer Klasse finden mich tatsächlich nicht ansprechend«, sagte ich mit einem leichten Seufzen. »Es reicht nicht, nur optisch ansprechend zu sein.«

Ein Schweißtropfen bildete sich auf Nakamuras Stirn. »Das ist nicht böse gemeint, aber...«

»Mein Charakter ist eben schrecklich«, sagte ich mit einem Nicken. »Ich weiß.«

Ihre Augen weiteten sich. »Nein! Nein, das wollte ich nicht sagen. Ich wollte sagen, dass du einfach... naja, sehr distanziert und uninteressiert wirkst. Du weißt ja... wir hatten das Gefühl, als würdest du nicht mal etwas mit uns zu tun haben wollen...«

Eher können...

»... und als würdest du uns nicht leiden können«, beendete sie ihren Satz.

»Das stimmt nicht... Tut mir leid, falls es dich oder eher euch verletzt hat. Das war nicht meine Absicht gewesen...«, sagte ich.

»Ich weiß«, sagte Nakamura mit einem breiten Lächeln. »Du hast einfach deine Gründe dafür, schätze ich. An sich bist du aber nicht so schlimm, wie wir dachten.«

Ich verzog nicht das Gesicht, lachte aber leicht und schüttelte den Kopf. »Beruhigend.«

»Und die Jungs in unserer Klasse sind sowieso alle unreif. Also kann dir ihre Meinung egal sein, oder hast du es auf einen von ihnen abgesehen? Vielleicht, auf einen gewissen rothaarigen Typen?«

»Nope«, kam meine Antwort prompt. »Aber was ich dich in der Hinsicht fragen wollte... wieso genau hattest du meine Tasche?«

Ein fast schon heimtückisches Grinsen bildete sich in ihrem Gesicht, was mich irgendwie an Karma erinnerte. Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, waren sie sich in einigen Punkten sehr ähnlich. Sie hatten praktisch beide diese freche Note in ihrem Charakter verinnerlicht. Vielleicht fiel es mir gerade deshalb leicht, mit ihr zu sprechen...

»Karma hat mich angeschrieben und gesagt, dass du Ärger bekommen würdest, wenn sie herausfinden, wo du eigentlich warst und wahrscheinlich auch, wenn du ohne deine Tasche nach Hause kommst«, sagte sie. »Und dein Vater... ist wirklich unheimlich. Deshalb wollte ich dir aushelfen.«

Sie hatten es gemacht, um mir zu helfen... Natürlich war mir der Gedanke gekommen, dass sie es freiwillig und aus guten Intentionen heraus gemacht hatten, aber ich hätte nicht gedacht, dass sie wirklich explizit an mich gedacht hatten...

Diese Erkenntnis löste etwas sehr warmes in meiner Brust aus und ich konnte nicht anders, als zu lächeln. Ich war ihnen dankbar. Beiden. Sie würden wahrscheinlich nie erfahren, wie viel sie mir eigentlich geholfen und welche schlimme Strafe sie mir eigentlich erspart hatten...

Und trotzdem wollte ich mich erkenntlich zeigen.

»Der Milchshake geht auf mich«, sagte ich. »Als Dankeschön. Und außerdem sind die Desserts hier sehr gut, also such dir etwas aus.«

Ihre Augen weiteten sich erneut und nun vor absoluter Begeisterung, als ich ihr die Karte reichte, damit sie noch etwas bestellen konnte.

Ich war in diesem Moment wirklich glücklich.

Es war zwar nicht das wahre Treffen mit einer Freundin, wie ich es mir vorgestellt hatte, doch es fühlte sich trotzdem echt an. Und es war defintiv sehr angenehm.
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[20:01] Ich: Danke für heute, Karma. Du hast etwas gut bei mir.

Zufrieden und wirklich tiefenentspannt lief ich nach Hause. Es war bereits dunkel, doch ich hatte erst fast zwei Stunden lang mit Nakamura verbracht, ohne es überhaupt zu bemerken, bevor ich im Café weiter gelernt hatte, nachdem sie nach Hause musste, um ebenfalls für die erste Prüfung am Montag zu lernen. Zu Hause wäre dies defintiv nicht möglich gewesen. Doch dahin musste ich früher oder später zurückkehren, um zu schlafen. Morgen würde ich wahrscheinlich erneut einfach in ein Café gehen, da ich festgestellt hatte, dass ich dort, trotz der regen Umgebung, sehr viel besser lernen konnte als bei mir zu Hause.

Ich sehnte mich wirklich absolut gar nicht danach, dort wieder hinzugehen.

Doch bereits vor der Tür stellte ich fest, dass es ungewöhnlich leise war. Dementsprechend öffnete ich sie genauso leise, nur um von einem komplett dunklen Erdgeschoss begrüßt zu werden. Lediglich aus dem ersten Stockwerk schien etwas Licht auf die Treppe und ich hörte leises, kindliches Schluchzen.

Vielleicht konnte ich mich ja in mein Zimmer schleichen... So musste ich keinen von ihnen sehen. Nach dem heutigen Tag wollte ich sie am liebsten gar nicht mehr sehen. Weder meine Tante, noch Ai. Ob sie nun bewusst gelogen hatte oder nicht, sie hätte dafür gesorgt, dass mein Vater mich krankenhausreif geprügelt hätte und anhand ihrer Reaktion hatte ich sehen können, dass ihr dies sogar lieb gewesen wäre.

Ich fragte mich, ob ein Kind wirklich bereits so weit denken konnte... Sowas wirklich bereits bewusst mögen konnte...

Ich presste meine Lippen zusammen. Egal was, es war schlichtweg besser, wenn ich sie ab jetzt komplett ausblendete. Sie und ihre Mutter. Deshalb wollte ich auch einfach am Badezimmer vorbei laufen. Eigentlich... Damit sie mich auch wirklich nicht bemerkten. Doch es war eine schluchzende Aussage, die mich schon auf der Treppe innehalten ließ, obwohl ich nicht einmal sagen konnte, welches Gefühl es in mir ausgelöst hatte.

»A... aber... du... du... hast... gesagt, d... d... dass Naomi so Haue be... bekommt.«

Von meiner Position aus konnte ich genau sehen, wie Ai nackt im Badezimmer stand. Ihre Mom stand neben ihr und schmierte ihr wohl irgendeine Creme auf ihren Hintern. Beide schienen mich nicht zu sehen. Ich erkannte auch einen roten Abdruck am Arm meiner Tante und um ehrlich zu sein wollte ich ungern die restlichen Verletzungen der beiden sehen.

Unter anderen aufgrund dieser Aussage...

Ich musste mich verhört haben... Ich war mir sicher, dass ich mich verhört hatte.

»Sei still!«, zischte meine Tante, völlig unberührt über den Fakt, dass ihre Tochter gerade weinte und bei jeder Berührung wimmerte. Die Erwachsene schien genervt, defintiv selbst Schmerzen zu haben und geladen.

Diese "Strafe" und Demütigung hatte sie eindeutig tief getroffen. Ich bezweifelte jedoch, dass es überwiegend physisch war. Es war vermutlich eher ihr Stolz, den sie versuchte aufrecht zu erhalten.

»Aber... w... wieso habe ich... H... Haue bekommen...?«, fragte Ai und weinte jetzt stärker. »Du... du... hast gesagt, dass... ich sagen s... so... soll, dass Naomi nicht a... angerufen hat, d... damit sie H... Haue be... bekommt. Wie... wieso hab ich H... Haue bekommen?«

Eine unglaubliche Kälte fuhr mir den Rücken herunter und meine Beine fühlten sich plötzlich taub an. Ich hätte damit rechnen sollen, doch... ich hatte nicht mit dem Ausmaß oder dieser Wahrheit gerechnet. Die beiden hatten nicht einfach so gelogen. Meine Tante hatte nicht einfach nur gelogen. Sie hatte es geplant, mit dem Ziel, dass ich bestraft und verletzt werden sollte. Und sie hatte es mit ihrer fünfjährigen Tochter geplant sowie diese sogar eingeweiht, was mir blühen würde.

Deshalb hatte sie sich also darüber gefreut, als sie dachte, dass ich die Strafe bekommen würde. Ihre Mutter hatte ihr das quasi versprochen. Es war ihr Ziel gewesen.

Sag, dass Naomi nicht angerufen hat, damit sie Haue bekommt.

Und das kleine Mädchen hatte dies... mit einer plötzlich erscheinenden, unmenschlichen Begeisterung ausgeführt. Sie hatte es gewollt.

Doch ihre Aussage jetzt, zeigte mir noch mehr. Meine Tante hatte es also geplant und ihr Kleinkind eingeweiht. Diese schien mir generell ziemlich abgeneigt, gab mir Befehle und oder schob mir die Schuld zu... Wie viel genau erzählte ihr diese Frau? Könnte es sein, dass sie ihr noch weitere Dinge einredete?

Es klang absurd, doch gleichzeitig... traute ich ihr das ziemlich zu. Denn sie hatte mit dieser Aktion bewiesen, dass sie zu unvorstellbaren Dingen bereit was.

»Sei still! Es ist alles deine Schuld!«, sagte meine Tante. »Wieso hast du mir nicht gesagt, dass sie angerufen hat? Hättest du es mir gesagt, wäre er nicht wütend geworden!«

Ich ballte meine Hände zu Fäusten.

»ICH HAB ES DIR GESAGT!«, kreischte Ai weinend. »DU HAST GESAGT, DU WILLST NICHT MIT IHR REDEN!«

Das hatte sie. Ich wusste, dass sie ihr es gesagt hatte.

Diese Frau war also absichtlich nicht an ihr Handy gegangen. Sie hatte dafür gesorgt, dass ihre Tochter den Anruf annahm und anschließend sie dazu gebracht zu lügen, mit dem Versprechen, dass ich so eine körperliche Bestrafung bekommen würde.

Und jetzt gab sie diesem kleinen Mädchen die Schuld, um sich ihren Fehler nicht einzugestehen. Ob sich diese erwachsene Frau wirklich selbst einredete, dass Ai gelogen hatte und sie das unschuldige Opfer in der Situation war? Obwohl sie... diese Gespräche geführt und selbst vor meinem Vater "Informationen" präsentiert hatte, die ich ihr nie so gegeben hatte?

Mir war es angeblich ja wichtiger gewesen, bei meiner Freundin zu übernachten, weshalb ich nicht nach Hause kommen wollte....

Ein Gespräch, das ich nie mit ihr geführt hatte...

Wieso genau dachte ich überhaupt darüber nach und suchte nach weiteren Lügen, wenn ich gerade selbst den Beweis bekommen hatte? Wieso wollte mein Verstand sich davon überzeugen, dass... ich eben nicht verrückt war...?

»Hör auf zu schreien!«, sagte meine Tante drohend und schlug ihrer Tochter mit der flachen Hand auf den wunden Hintern, die schrecklich aufjaulte und nun laut anfing zu heulen, während sie sich diesen hielt.

Es musste weh getan haben... Was war das dann für eine Kälte, die ich spürte? Wieso wollte ich ihr nicht helfen...?

»Die ganze Sache ist die Schuld von Naomi«, fuhr meine Tante wütend fort. »Wäre sie nicht hier, gäbe es die Situation nicht. Sie wollte bei ihrer Freundin übernachten.«

Ai nickte sofort. Ich konnte ihr Gesicht zwar nicht sehen, doch ich war mir sicher, dass ihr Tränen darüber strömten, da sie ziemlich stark weinte. Wieso war mir dies egal?

»Siehst du! Was hab ich dir gesagt?«, sagte meine Tante und fing wieder an mehr Creme auf ihre Tochter zu verteilen.

Ob sie ihr Linderung für ihren eigenen Schlag verschaffen wollte? Ich bezweifelte es.

»Niemand... w... w... wi... will Naomi!«, weinte Ai.

Und damit hatte ich auch die letzte Bestätigung.

Meine Tante sprach mit meiner fünfjährigen Cousine offen über ihre Abneigung mir gegenüber. Sie gab mir offen die Schuld für die ganze Situation. Die ganzen Sätze hatte Ai von ihr, genauso wie die Eigenschaft, mir scheinbar für alles, was falsch lief, die Schuld zu geben. Ich fragte mich, wie man so blöd sein konnte? War dieser Frau nie in den Sinn gekommen, dass ihr Kleinkind womöglich alles verraten oder sich verplappern konnte? Hatte sie gewollt, dass Ai mir diese Sprüche servierte? Dachte sie, dass sie mich dadurch mehr verletzen konnte?

Denn obwohl Ai in den letzten Wochen mehrmals bewiesen hatte, dass sie mir vor allen für die dümmsten Dinge die Schuld gab, machte ihre Mutter weiter und erzählte ihr noch mehr.

Also entweder die Frau war einfach dumm und beging diesen Fehler weiter oder ihr Plan war dumm und nicht durchdacht.

»Sobald diese Göre endlich tot ist, können ihr Vater und sie uns nicht mehr schikanieren«, sagte meine Tante und erhob sich.

Meine Mundwinkel zuckten nach oben und meine Lippen formten ein freud- und inhaltsloses Lächeln. Ohne zu zögern lief ich die letzten Stufen nach oben. Das Geräusch der Treppenstufen sorgte dafür, dass meine Tante mich bemerkte und Ai sich umdrehte, während ich vor der Badezimmertür stehen blieb. Die Farbe war aus dem Gesicht der Frau gewichen, doch die Wut blieb.

Denn im Gegensatz zu mir, hatte sie ihre Emotionen nicht im Griff. Sie würde sie wahrscheinlich niemals in den Griff bekommen.

»Ich frage mich, woher diese Annahme stammt«, sagte ich und sah sie leicht neugierig an. Die Verwirrung war in ihrem Gesicht deutlich zu sehen. »Wieso du glaubst, dass nach meinem Tod alles besser wird«, half ich ihr auf die Sprünge. »Deine Aufgabe ist es, dich um mich zu kümmern. Sobald ich nicht mehr da bin, hat er keine Verwendung mehr für dich.«

Sie sah mich zähneknirschend an. Ich war mir sicher, dass sie mir gerade am liebsten den Kopf abreißen wollte. Und das war absolut okay. Ich wusste nämlich immer noch nicht, was ich in dieser ganzen Situation überhaupt fühlen sollte.

»Obwohl du vielleicht doch recht hast«, fuhr ich fort. »Danach wird er wirklich keinen Einfluss mehr auf euch haben. Denn wenn er keine Verwendung mehr für euch hat, verliert ihr sowieso alles und er schmeißt euch raus. Seine Unterstützung ist nicht gratis, das weißt du. Das heißt, sobald ich tot bin, verlierst du auch dein momentanes Leben, das sowieso nie dir gehört hat.«

»DIESES LEBEN GEHÖRTE MIR!«, schrie sie mit einem Mal, was mich doch etwas überraschte. »DEINE MUTTER! SIE HAT ES MIR WEGGENOMMEN! IHR BEIDE...!«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, als Ai mir jedoch mit einem schrillen Kreischen zuvor kam.

»MAMA, GEBEN WIR IHR HAUE! GEBEN WIR IHR HAUE! LASS UNS SIE RICHTIG VERHAUEN!«

Genervt biss ich die Zähne zusammen, als dieser Knirps wirklich am Hosenbein ihrer Mutter zog, bevor sie mit einem lauten Kampfschrei scheinbar auf mich zurennen wollte. Diese Situation war so albern, so lächerlich und so nervig, dass es mir in diesem Moment egal war, was jetzt noch folgen würde.

Ich ergriff einfach die Tür und schloss sie direkt vor ihr.

Dieses Kind dachte wirklich, dass es stark genug war, um mir die Strafe zu geben, die sie mir vorher geben wollte. Das wirklich nervige an der ganzen Situation war jedoch eher, dass ich gerade Informationen eingeholt hatte, die sehr wichtig und essentiell waren und sie hatte es mit ihrem selbstüberschätzenden Verhalten gerade unterbrochen, weil sie dachte, dass sie wirklich in der Position war, Macht auszuüben. Dass sie wichtig genug war...

In diesem Moment verstand ich meinen Vater mehr als zuvor.

Ich fühlte mich weder schlecht, noch spürte ich eine Genugtuung, als ich hörte, wie Ai mit einem dumpfen Knall in ihrer Eifer tatsächlich gegen die Tür rannte und wieder laut kreischend anfing zu weinen.

Ich stellte eher schockiert fest, dass ich genervt von ihrer Stimme war und als ich dann noch die nörgelnde, genervte und fluchende Stimme meiner Tante hörte, drehte ich mich einfach um und lief die Treppe runter. Ihre Rufe, ihre wütenden Drohungen, dass das alles Konsequenzen haben würde, ignorierte ich schlichtweg.

Ich lief einfach nur aus dem Haus und auf die Straße. Meine Beine bewegten sich, ohne, dass ich ihnen eine Anweisung geben musste. Ich hatte nicht einmal eine Ahnung, wohin ich wollte oder was mein Ziel war. Ich wusste nur, dass ich von diesem Ort ganz weit weg wollte, auch wenn ich immer noch eine wirklich beängstigende Leere in mir spürte.

Zumindest war mir jetzt wirklich bewusst, dass ich keinen Ort hatte, an dem ich hingehörte. Mein Zuhause war nie ein richtiges Zuhause gewesen. Das hatte ich immer gespürt und jetzt hatte ich eindeutig die Bestätigung bekommen.

Ironischerweise lag es an den Menschen, die selbst nicht in dieses Haus gehörten... Es war auch nicht ihr Zuhause. Wahrscheinlich verdrängten sie diesen Fakt jedoch einfach.

Ich verstand meinen Vater und das war etwas beängstigend.

Sie waren so überzeugt von sich, so selbstsicher, so ignorant, obwohl sie in ihrem Leben nichts erreichten. Stattdessen wurden sie von einem Mann, den sie scheinbar hassten, finanziert und waren nicht nur undankbar, nein, sie waren sogar der festen Überzeugung, dass sie keine Gegenleistung erbringen mussten. Selbst ihr fünfjähriges Balg, das nichts machte, außer herumzukreischen und jedem Kopfschmerzen zu verursachen, hatte so ein überhöhtes Selbstwertgefühl, das sie glaubte, sie hätte die Macht Strafen über andere zu verhängen.

Die Gedanken, die ich hatte, schienen nicht mir zu gehören... Das bemerkte ich selbst... Ein Lächeln bildete sich erneut auf meinen Lippen. Was war nur gerade los mit mir? Was genau fühlte ich?

»Naoko!«

Ich blieb stehen und sah auf. Das Licht der Arcade-Halle hatte ich gar nicht bemerkt, auch wenn es sich penetrant in mein Sichtfeld drängte. Eigentlich hätte ich es bemerken sollen...

»Kurai«, sagte ich, wobei meine Stimme ungewöhnlich monoton klang.

Der Angestellte der Arcade-Halle stand an einem der großen Fenster und schien ein Plakat aufgeklebt zu haben. Die wenigen Schritte, die mich von ihm trennten, überbrückte er vorsichtig, während er mich argwöhnisch musterte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er. »Ist etwas passiert?«

Sah man es mir an? Oder war es nur er, der das konnte? Dabei kannte er mich eigentlich nicht einmal wirklich... Es war also wahrscheinlicher, dass man mir meine momentane Taubheit ansah, doch es war mir zum ersten Mal egal.

»Nur etwas Stress«, sagte ich. Es brachte nichts zu lügen... so zu tun, als wäre ich unbekümmert. »Ich möchte um ehrlich zu sein nicht darüber reden.«

Er nickte verständnisvoll und sah kurz über seine Schulter, als wollte er sich vergewissern, dass die Kids in seiner Abwesenheit seine Halle noch nicht in Brand gesetzt hatten. Dann wandte er sich wieder mir zu.

»Hast du Stress mit deinem Freund?«, fragte er vorsichtig.

Er dachte wirklich immer noch, dass Karma mein Freund war. Komisch... Diese Vorstellung munterte mich gerade etwas auf.

»Nein«, murmelte ich.

Kurai nickte erneut. »Dann solltest du vielleicht zu ihm. Es ist kalt und du hast keine Jacke an und... vielleicht tut dir etwas Gesellschaft gut. Natürlich kannst du auch gern reinkommen, auch wenn du eher so aussiehst, als würdest du gerade gern allein sein.«

Es war kalt? Ich hatte die Kälte nicht gespürt, wahrscheinlich weil meine innere Kälte gerade eher präsenter war. Aber irgendwie brachten mich seine Worte zum Nachdenken. Vielleicht sollte ich wirklich zu Karma. Nach Hause wollte ich heute sowieso nicht mehr, aber ich konnte auch nicht außerhalb schlafen und sonst hatte ich niemand...

Und außerdem machte er mich... auf seine Art und Weise ja auch irgendwie glücklich...

Diese Aufregung vor den Prüfungen tat mir nicht gut. Etwas Beruhigung wäre defintiv vorteilhaft... Die Tatsache, dass Kurai es sogar vorgeschlagen hatte, wertete ich gerade einfach als Schicksal. Genau... das Schicksal wollte, dass ich zu Karma ging.

Auch wenn ich nicht mal an so etwas glaubte.

»Ich bin gerade auf dem Weg zu ihm«, sagte ich.

Kurai lächelte erleichtert. »Sehr gut. Bitte pass auf dich auf, es ist schon spät und dunkel. Man weiß nie, wer sich so spät noch herumtreibt.«

»Mach ich. Danke...«

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