21. Ich

Hola!

Egal, wie oft ich das Kapitel überarbeite, ich bin immer noch unzufrieden damit, so let's just go with it. It's still an important one.

Das Update wird euch aus meinem Krankenbett präsentiert. Eigentlich würde ich jetzt weiter arbeiten und lernen, aber meine Professorin antwortet mir erst wieder, wenn sie das Gefühl hat, dass ich Zeit zum Genesen hatte :'). So I decided to work on this chapter instead.

Die nächsten werden danach... interessanter, da nun einige konkretere Hinweise kommen.
(Ais Anweisung am Anfang wird später auch Sinn ergeben, but if anyone can guess it now... Das wären sehr gute analytische Menschenkenntnisse.)

Viel Spaß beim Lesen!
.

»... Ich bin irgendwo aufgewacht...«

~

An dem Tag, an dem ich endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, trat ich mit mulmigen Gefühl meinen Heimweg an. Niemand kam, um mich abzuholen, aber das hatte ich auch nicht erwartet und daran war ich auch gewöhnt. Die letzten Jahre war ich selbst allein gewesen, wenn jemand bei mir oder Leute um mich herum gewesen waren. Es war das, was ich gewollt hatte, doch nun wollte ich Koro-Senseis Rat umsetzen. Soweit man es als Rat betrachten konnte.

Seine Perspektive war unglaublich interessant gewesen.

Einmal... ich wollte nur einmal vorher ich selbst sein. Das musste aber niemand wissen.

Jetzt konnte ich eine doppelte Schauspielerin sein. Einerseits würde ich das machen, was meine Familie von mir erwartete, damit alles wie gewöhnt weiterging, anderseits würde ich Naomi sein, ohne, dass es jemand erfuhr, der es nicht erfahren sollte. An diesem Punkt hatte ich jedoch die möglichen Konsequenzen komplett übersehen...

Als ich schließlich die Tür meines Heims aufschloss und in das Haus trat, wurde ich bereits von dem liebevollen Geschrei meiner drei Gäste begrüßt. Es war, als wollte das Universum mir signalisieren, bei meiner Entscheidung zu bleiben. Es brachte wirklich nichts mehr. Die Umstände hatten sich geändert, sie waren schlimmer geworden. Ruhe würde ich nicht mehr bekommen und so musste auch ich mich ändern, um wenigstens mein Leben noch etwas genießen zu können.

Bereits während ich mir die Schuhe auszog, hörte ich Ais lautes Kreischen.

»DU SOLLST MIR DIE FÜßE MASSIEREN! MASSIER MIR DIE FÜßE!«

»GEH VON MIR RUNTER, DU WIDERLICHER ZWERG!«

»LASS DEINE SCHWESTER IN RUHE, ODER DU KANNST ETWAS ERLEBEN!«

Die Frage war, wer von ihnen etwas erleben konnte. Normalerweise war sie immer auf der Seite des Zwergs gewesen und hatte gelacht, wenn diese solche Dinge verlangt hatte. Selbst, wenn ihre ältere Tochter davon absolut nicht begeistert gewesen war. Sie hatte es lustig und sogar süß gefunden.

Ich zögerte nicht einmal, als ich um die Ecke lief und in der Tür zum Wohnzimmer stehen blieb. Ai versuchte scheinbar mit ihren Füßen auf Raikos Gesicht zu treten, die sie abwehrte und dabei defintiv aufpasste, um sie nicht zu verletzen, damit diese nicht vom Sofa fiel und ihre Mutter stand mit einigen Metern Abstand vor mir und schrie irgendwelche Drohungen.

Home sweet home...

»SIE TUN WEH, ALSO MASSIER SIE!«, kreischte Ai jetzt.

»ICH TU DIR GLEICH WEH!«, brüllte ihre Schwester.

Ihr Glück war, dass ihre Mutter sie ausnahmsweise erlöste, Ai am Arm zurück und durch die Luft zerrte, die ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich gab.

Etwas zu fest, sodass es defintiv weh tat, knallte ihre Mutter sie auf den Boden, ergriff ihren Kopf und sah sie wutentbrannt an.

»Du bist widerlich!«, fauchte sie laut. »Sowas macht man nicht!«

»ABER MEINE FÜßE TUN WEH! SIE SOLL SIE MASSIEREN!« Langsam bekam Ai einen roten Kopf, aber sie schien fest davon überzeugt zu sein, dass sie im Recht war. Wahrscheinlich auch, weil sie es sonst immer war.

»Du hast den ganzen Tag draußen gespielt, dann kommst du rein und machst nur Ärger. Du bist ein wildgewordenes Tier!«

Diese Worte trieben ihr die Tränen in die Augen. »ICH BIN KEIN TIER, DU PUPSGESICHT! DU BIST NICHT BRAV! DU...«

Sie brach den Satz ab, als ihre Mutter sie zur Glaswand, die zum Garten führte, zerrte und die Tür öffnete.

»Das reicht mir! Wenn du dich wie ein Tier benimmst, dann bleibst du auch wie ein Tier draußen!«, rief die Erwachsene und schubste das kleine Mädchen, das noch entsetzt versuchte die Tür aufzuhalten, barfuß nach draußen, und sperrte ab.

Erleichtert atmete sie aus, schien die klopfenden und heulenden Laute, sowie das nun tränenüberströmte Gesicht ihrer Tochter komplett auszublenden, bevor sie sich an Raiko wandte. Diese war wütend aufgestanden und funkelte ihre Mutter an, die fast so wirkte, als wäre nie etwas passiert.

Als würde sie ihr Kleinkind nicht absolut traumatisieren und dessen Gesundheit riskieren.

»Das ist alles deine Schuld!«, fauchte Raiko. »Du bist schuld, dass sie sich nicht zu benehmen weiß. Du bist schuld, dass wir jetzt Probleme wegen ihr haben, denn sie hält sich genauso wie du für etwas besseres als alle anderen...!«

»WIE KANNST DU ES...«

»Ist es nicht schön wieder zurück zu sein?«, fragte ich laut, um das panische Klopfen und die laute Stimme halbwegs zu übertönen.

Fast schon entsetzt sah meine Tante zu mir, Raiko wandte sich komischerweise erleichtert um und Ai hatte nun angefangen mit ihren Füßen gegen die Glastür zu treten, wobei der Schlamm unter ihnen diese schmutzig machte. Sie wusste genau, dass es ihre Mutter aufregen würde. Selbst in dieser Lage, wollte sie diese provozieren. Da war ich mir sicher. Und fast, als würde sie es mir bestätigen wollen, drückte sie ihren Fuß gegen die Scheibe und fuhr langsam damit nach unten, um möglichst viel Dreck darauf zu hinterlassen.

Ob so ein provozierendes Verhalten normal für Kinder war?

»Ich bin wieder da«, sagte ich. »Danke für den Empfang und fürs Abholen. Ich werde meinem Dad von jetzt an über diese schönen Ereignisse hier in Kenntnis setzen.«

Meine Tante presste ihre bebenden Lippen zusammen und ich war mir sicher, dass sie mir am liebsten den Kopf abreißen wollte. Und das war okay. Ich hatte lange genug den Mund gehalten.

»Erzieh dein Kind vernünftig, sodass sie weiß, was sich gehört und was nicht. Du weißt, was dir blüht, wenn er wiederkommt und Ai sich immer noch so benimmt, als wäre sie die Prinzessin auf der Erbse. Aber Raiko hat recht. Das Verhalten hat sie von dir«, sagte ich.

Komischerweise schienen meine Worte sie zu treffen. Zwar war sie wütend, aber sie schien auch verletzt davon zu sein. Dennoch sah sie mich kurz darauf hasserfüllt an.

»Was willst du noch? Hast du nicht schon genug angerichtet?«, fragte sie mit überraschend fester Stimme.

»Deine Tochter mit ihrem widerlichen Verhalten stiehlt in einem Geschäft, was dir übrigens absolut peinlich sein sollte, ist uneinsichtig und lügt wie gedruckt, verursacht dann einen Verkehrsunfall, lügt im Krankenhaus weiter und schreit sogar eine Ärztin an, und du gibst mir immer noch die Schuld?«, fasste ich zusammen und lachte unamüsiert auf. »Jetzt wissen wir, vorher sie die Eigenschaft hat, ihre Fehler nicht einzusehen. Das gebe ich so weiter. Viel Spaß noch mit deinem "Tier".«

Bei dem letzten Wort setzte ich Anführungszeichen in die Luft, einfach, weil ich ihr zeigen wollte, wie abgeneigt ich von ihrer Aussage war. Mit einem letzten Blick auf Ai, die mittlerweile unkontrolliert mit Händen und Füßen, sowie einem roten, komplett verheulten Gesicht gegen die Tür hämmerte, drehte ich mich um, verließ das Wohnzimmer und steuerte die Treppe an. Hinter mir hörte ich Schritte, die dafür sorgten, dass ich oben angekommen noch einmal stehen blieb. Es war Raiko, was ich mir gedacht hatte. Sie wollte vermutlich auch einfach nur in ihr Zimmer, blieb jedoch jetzt ebenfalls stehen. Ein stummer Blick reichte, damit sie ihr Schweigen brach und mir die Informationen gab, die ich wollte.

»Sie bekommen diesen Monat komplett keine Unterstützung«, sagte sie leise. »Und sie sollen ihm die Wasserrechnung zahlen. Wenn es so weiter geht, kündigte er Mom und nimmt Dad die Verantwortung für das Dojo weg.«

Ich nickte verstehend. »Sie hört nicht, oder?«

»Es scheint mir eher, als würde sie sogar noch mehr provozieren«, murmelte Raiko. »Aber man kann nicht mal normal mit ihr reden. Meine Eltern... sind einfach absolute Loser, die sich gegen ihr Kind nicht durchsetzen können.«

Ich nickte erneut und öffnete meine Zimmertür, bevor sie wieder anfing herumzunörgeln und nicht mehr stoppte. Sie tat mir leid. Obwohl sie nichts dafür konnte, würde sie die finanziellen Konsequenzen zu spüren bekommen. Gleichzeitig wollte ich aber so wenig wie möglich von diesen Streitereien wissen. Sie sollten mir nicht leid tun und ich wollte mich nicht einmischen oder helfen...
.

Meine Tante hatte Ai irgendwann reingelassen. Das wusste ich, weil man im ganzen Haus ihr Heulen hörte, besonders, als sie gebadet wurde, da sie nicht mit dem Wasser allein spielen durfte. Es hatte wahrlich einen Wutanfall und Schreikrampf ausgelöst, bevor sie irgendwann verstummt war, nachdem sie in ihrem Zimmer eingesperrt worden war. Ich hatte irgendwann die Streitereien übertönt, indem ich mir meine Kopfhörer in die Ohren gesteckt hatte.

Wenn ich ehrlich war, war ich mehrmals kurz davor gewesen, Karma zu schreiben. Ich wollte sehr gern Zeit mit ihm verbringen, wusste aber gleichzeitig nicht, wie ich es anstellen sollte, ohne, dass es zu offensichtlich war. Also hatte ich mich schließlich entschieden, es sein zu lassen und auf dem nächsten Tag zu warten.

Also heute.

Doch ich hatte immer noch keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte. Zwar wurde ich herzlich von meiner Klasse begrüßt, aber danach war alles auch wieder normal. Karma war in den ersten zwei Stunden nicht da, sodass ich dachte, dass er den Unterricht heute komplett schwänzte, jedoch kam er in der dritten Stunde überraschend zu Bitch-Senseis Englischstunde.

Sein Blick ruhte kurz auf mir, bevor er sich ganz natürlich auf seinen Platz fallen ließ und sich streckte. Dass er mich angeguckt hatte, hatte schon einen warmen Tumult in mir ausgelöst. Es dauerte nicht lange bis ich spürte, wie er mir in die Seite piekste und mich damit wieder mal erschreckte, sodass sich eine unangenehme Gänsehaut auf meinen Körper bildete.

Daran würde ich mich niemals gewöhnen. Ich verstand nicht einmal, wieso er das dauernd machte, außer vielleicht, weil er wusste, wie sehr es mich aufregte. Aus irgendeinem Grund freute es mich heute jedoch etwas...

Aber nur etwas.

»Upps, sorry, ich dachte der Platz wäre immer noch frei. Mein Fehler«, meinte er.

Ich drehte mich langsam, wenn auch etwas steif zu ihm um. Wie sollte ich das Gespräch jetzt aufrecht erhalten? Wie sollte ich antworten? Und vor allem, wie konnte ich ihn davon überzeugen, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen sollten? Überstürzte ich das ganze nicht vielleicht?

»K... k... kein Problem«, stammelte ich schließlich und drehte mich wieder nach vorn.

Was zur Hölle war das denn?! Kein Problem? Was für eine tolle Unterhaltung. Absolut unauffällig, natürlich, normal und geschickt. Meine Wangen erwärmten sich und ich senkte den Blick, als ich realisierte, dass mein fehlender normaler Umgang mit Menschen sich defintiv bemerkbar machte. Oder? Nein, vielleicht übertrieb ich es einfach nur und er hatte es nicht bemerkt...

»Kein Problem?«, wiederholte Karma und klang dabei verdutzt.

Okay, damit verblasste meine Hoffnung komplett und mir war es noch peinlicher.

»Was soll das? Eine neue Taktik? Oder hast du endlich deine Gefühle aus der Kiste herausgeholt?«

Und natürlich musste er es schlimmer machen. Konzentriert schloss ich meine Augen. Wie sollte ich jetzt darauf reagieren? Normalerweise würde ich ihn ignorieren oder eine knappe, teilnahmslose Antwort von mir geben doch jetzt war ich einfach heillos überfordert. Was war natürlich? Was war normal?

Ich liebe dich.

Genervt schüttelte ich den Kopf. DAS WAR NICHT NORMAL, SONDERN NUR NATÜRLICH. Was genau war los mit mir? Ich...

Eine Hand auf meinem Kopf riss mich aus meinen Gedanken.

»Hey, ignorierst du mich jetzt doch etwa wieder?«, sagte Karma, der ohne, dass ich es bemerkt hatte, aufgestanden war und nun vor mir stand.

Ich sah zögerlich auf und begegnete seinen Blick. Für einen Moment schien er zu stocken, während er den Augenkontakt aufrecht erhielt. Aber er sagte nichts und ich erst recht nicht. Weil ich einfach nicht wusste, was ich sagen sollte.

»Good morning, ihr Rotznasen«, sagte Bitch-Sensei, die in diesem Moment in die Klasse kam.

Perfekter Zeitpunkt... Meine Erlösung...

Für einen Moment wirkte Karma so, als ob er ins kalte Wasser geworfen worden war. Er riss sich aus seiner Starre heraus, hielt kurz inne und lief dann wortlos zurück zu seinem Platz hinter mir.

Na, toll... Ich hatte ja einen tollen neuen Eindruck bei ihm hinterlassen...
.

In der Pause setzte ich mich mit meinem Bento auf einen freien Platz an Nakamuras, Yaras, Kayanos und Kanzakis Tisch, wobei ich die fragenden Blicke sofort bemerkte. Ich schluckte schwer und traute mich nicht einmal aufzuschauen. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie das ganze auf sie wirkte, aber nach meiner Interaktion mit Karma hatte ich bemerkt, dass mir das ganze nicht ganz so gut gelang wie erhofft.

»Ist das... okay?«, fragte ich daher unsicher.

»Aber natürlich!«, sagte Kayano etwas zu schnell.

Eine kurzes betretenes Schweigen kehrte ein. Ja, es war eindeutig, dass die Situation nicht ganz so gelassen aufgenommen wurde, wie erhofft.

»Es ist nur überraschend, normalerweise isst du immer allein«, versuchte Kanzaki ihre Reaktionen zu erklären.

»Ja... Stimmt schon. Tut mir leid«, murmelte ich und überlegte, ob ich einfach wieder aufstehen und gehen sollte.

Ich war aufdringlich und viel zu schnell, das bemerkte ich selbst. Aber ich wusste nicht einmal, wie ich ich sein sollte.

Was genau war mein normales Verhalten? Ich hatte mich vor langer Zeit aufgegeben, sodass ich es nicht mal mehr wusste. Ich war nur bei ihr immer ich selbst gewesen.

Bei meiner Mutter.

Nervös fuhr ich mir über meinen Arm. Wieso musste ich denn jetzt so sentimental sein? Wieso war ich so überfordert? Das ganze war doch nicht so leicht wie erhofft.

»Das braucht dir nicht leid tun«, sagte Nakamura und klopfte mir etwas unsanft auf meine Schulter. »Schön, dass du aus deinem Schneckenhaus rausgekrochen kommst.«

Ich lächelte ein leichtes, müdes Lächeln, während Yara sie ermahnte und eine Diskussion entbrannte, die ich nicht mehr mitbekam. Das traf es irgendwie. Ich kam erst langsam aus meinem Schneckenhaus herausgekrochen. Noch steckte ich da drin fest... Ich musste es los werden, um meine ersten Erfahrungen zu sammeln.

Noch war ich nicht normal. Ich musste meine zweite Klinge erst einmal schärfen...
.

Auf dem Heimweg hielt ich den Blick die ganze Zeit gesenkt. Den ganzen Tag hatte ich die verwirrten Blicke und das Tuscheln meiner Mitschüler bemerkt. Da wollte ich endlich ich selbst sein und bemerkte erst dann, dass ich nicht einmal wusste, wer genau ich war. Hatte ich überhaupt eine Identität?

Mein komisches Verhalten war so auffällig gewesen, dass sogar Kimura mich bei unserem gemeinsamen  Kampftraining gefragt hatte, ob alles okay wäre.

Ich hatte einfach keinen Ahnung, wie man sich normal verhielt!

Zum ersten Mal hatte ich sogar nicht einmal im Unterricht aufgepasst, weil ich mir so sehr den Kopf darüber zerbrochen habe. Darüber, wie ich ich sein konnte und nicht ein Familienmitglied der Naokos...

Aber das war ich und es fühlte sich so an, als wäre das meine ganze Identität. Als würde das mein Leben vorher bestimmen und strukturieren. Genau, wie ich es mir gedacht hatte. Als könnte ich mich dem nicht entziehen.

Vor meinem Haus stand unser Wagen, weshalb ich noch an der Ecke stehen blieb. Ich beobachtete, wie meine Tante ausstieg und erst einmal eine genervte Raiko heraus ließ, bevor eine hyperaktive Ai heraussprang. Ihre Mutter wollte nach ihr greifen, sie schien in gesenkter Stimme mit ihr zu schimpfen und kassierte gleich darauf einen Tritt, bevor das kleine Mädchen mit einem lauten Kreischen davon und ins Haus rannte. Ich wusste, dass, wenn ich dort jetzt reinging, ich den nächsten Streit und das nächste Unglück mitbekommen würde. Meine endlosen Gedanken würden dann von dieser Familie bestimmt und eingenommen werden. In diesem Haushalt würde ich die Antwort auf meine Frage, wer ich eigentlich war, nicht bekommen.

Dort war ich schließlich zu dem geworden, was ich nicht mehr sein wollte. Was ich nie hatte sein wollen...

Und so trugen mich meine Füße einfach weiter. Weg von dem toxischen Aspekt meines Lebens. Fast schon automatisch schienen sie den Weg zu finden, den ich selten einschlug. Einerseits, weil ich immer Angst hatte, dass mein Vater es irgendwie mitbekommen könnte, andererseits, weil ich wusste, dass ich zu schwach war und zusammenbrechen würde. Ob sie deshalb sauer auf mich war? Nein, eher nicht. Ich lächelte traurig. Sie war nie sauer auf mich. Aber wahrscheinlich war sie traurig. Ich war mir sogar sicher, dass ich sie traurig gemacht hatte...

Denn sie hatte mich nicht zu einem Feigling erzogen. Oder zu einem falschen Menschen. Sie hatte mich niemals zu dem Menschen erzogen, der ich heute war.

Meine Mutter war immer lieb, warmherzig, freundlich und bodenständig. Sie war so lebensfroh und talentiert gewesen. Sie hatte gern mit mir herumgealbert, mich zum Lachen gebracht und mit mir gekuschelt. Ich verstand sogar jetzt noch, wieso mein Vater sich Hals über Kopf in sie verliebt hatte und wieso er jetzt so verbittert war.

Sie zu verlieren hatte ihn gebrochen. Das wusste wahrscheinlich jeder.

Vor dem Tor blieb ich stehen und holte noch einmal tief Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Ich steuerte den schmalen Pfad an und lief geschickt hindurch, ohne irgendwohin zutreten, wohin ich nicht treten sollte. Der Gärtner hatte mir mal erzählt, wie viel Arbeit es war alles ordentlich und schön zu halten. Er gab sich wirklich Mühe und das vom ganzen Herzen, deshalb wollte ich nichts kaputt machen. Auch, wenn unser Gespräch fast ein Jahr her war...

Ob sie bemerken würde, dass ich da war?

Ich redete es mir gern ein. Leider hatte ich in diesem Feld jedoch keine Ahnung.

Irgendwann blieb ich stehen. Mein Blick war die ganze Zeit gesenkt gewesen, doch meine Augen hatten bis zu diesem Punkt trotzdem nichts gesehen, nichts realisiert, und mich nichts spüren lassen. Bis jetzt.

Jetzt bemerkte ich erst die heißen Tränen, die über mein Gesicht liefen, als ich zum wie vielten Mal auch immer die Realität begriff, in der ich eigentlich lebte, die ich versuchte zu ignorieren und zu unterdrücken. Ich schloss meine Augen, während meine Beine nachgaben und ich meine Lippen zusammenpresste, um kein Laut von mir zu geben. Dann öffnete ich sie jedoch wieder, in der Hoffnung, dass ich es auch wirklich begriff, denn ich wusste, dass ich es wieder unterdrücken würde, sobald ich mich auf den Heimweg machte.

Naoko Akira
22.05.1982 - 05.08.2012

Ihr Tod hatte ihn gebrochen. Und er hatte mich gebrochen, aber auf einer komplett anderen Art.

Ich vermisste sie. Viel zu sehr. Viel zu sehr... Sie war immerhin der einzige Mensch, der mich wirklich liebte und geliebt hatte... Mein Vater hatte seine Bindung zu mir danach komplett aufgegeben.

Aber seine Liebe zu ihr, würde er niemals aufgeben und genau das ließ ihn durchdrehen.

Und jetzt hatte ich das Gefühl, dass ich langsam durchdrehte.

Ich vergrub mein Gesicht in meine Arme, die ich auf meinen Knien abstützte. Wenn ich ehrlich war, war es schon ironisch. Alle hatten sie geliebt. Sie war wie Engel gewesen. Man hatte sie lieben müssen. Und ich, ihre eigene Tochter, hatte fast die letzten vier Jahre damit verbracht dafür zu sorgen, dass alle mich mieden. Weil es meine Verpflichtung war...

Weil es... vielleicht auch einfach ich war...

Eine Person, die nicht zu aufrichtigen, normalen Gefühlen im stande war und ihren Menschen in so vielen Punkten auf die Nerven ging.

Als meine Mutter noch am Leben gewesen war, war alles so viel besser gewesen. Mein Vater war super gewesen, wir hatten allein in unserem Haus gelebt, wir waren eine wirklich sehr glückliche, kleine Familie gewesen. Damals hatte ich auch viel Liebe und Aufmerksamkeit bekommen, mich mit anderen anzufreunden war eine Leichtigkeit gewesen und wenn ich mal einen Fehler gemacht hatte, dann hatten sie mit mir sehr liebevoll darüber gesprochen. Sogar als ich wegen der Prügelei mit Karma abgeholt werden musste...

Sie hatten mich nie körperlich auf meine Fehler hingewiesen.

Vielleicht hatte ich damals auch einfach nicht so viele Fehler gehabt wie jetzt... Mein Leben allein war schließlich fehlerhaft...

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich da saß. Es hieß immer, dass man sich den Toten näher fühlte, wenn man ihr Grab besuchte, doch für mich fühlte es sich so an, als würde meine Sehnsucht nach ihr dadurch einfach nur stärker werden. Frustriert rieb ich mir mit dem Ärmel meiner Schuluniform über die Augen, um die Tränen etwas aufzuhalten. Ich weinte so selten. Aber wenn es um sie ging, war ich sehr nahe am Wasser gebaut. Sie war defintiv meine Schwäche. Umso wütender machte es mich, dass jetzt eine so unglückliche, toxische Familie in unserem einst glücklichen Haus lebte. Eine, die undankbar war und ihre Kinder nicht mit gesunder Liebe behandelte, sodass diese genauso wurden wie ihre Eltern.

Ironisch. Sogar jetzt, am Grab meiner Mutter sorgte ihr negatives Verhalten dafür, dass mein Kopf sich auch damit beschäftigte. Ich schien nie wirklich Ruhe davon zu haben. Sie bestimmten wirklich in jedem Aspekt mein Leben. Erneut wischte ich mir über das Gesicht und schluchzte auf. Ich war deutlich frustrierter gerade als ich erwartet hatte. In der Hoffnung irgendwie Antworten zu bekommen, war ich hier hin gekommen, doch ich konnte nicht einmal ihr Grab ansehen.

Erschrocken fuhr ich zusammen, als sich plötzlich eine Hand behutsam auf meine Schulter legte und fast automatisch griff ich mit meiner linken Hand in einer Abwehrreaktion danach, obwohl ich sofort bemerkte, dass von ihr keine Gefahr ausging. Erst dadurch starrte ich in das mir bekannte Gesicht unseres Klassensprechers, der neben mir hockte und mich mit einem sehr mitfühlenden Blick betrachtete, sodass ich komplett aus dem Konzept kam. Ich konnte mich nicht mehr rechtzeitig abwenden, damit er mein Gesicht nicht sah, doch irgendetwas sagte mir, dass es sowieso bereits zu spät war. Natürlich hatte er es bereits bemerkt. Sonst wäre er jetzt nicht neben mir und würde mich so ansehen.

Dennoch wischte ich mir schnell meine Tränen weg und wollte aufstehen. Er musste nicht unbedingt mehr mitbekommen. Doch mit sanfter Gewalt, ließ er es nicht zu, sodass ich sitzen blieb und ihn nun leicht fragend ansah. Seine Augen wanderten jedoch zum Grab und mit einem Mal sah auch er unendlich traurig aus.

»Sie... gehört zu deiner Familie, oder?«, fragte Isogai leise.

Ich presste meine Lippen zusammen und starrte nun ebenfalls dahin. Das Grab war sehr gepflegt, sodass ich mich erst in diesem Moment fragte, wer sich eigentlich darum kümmerte. Hatte mein Vater irgendjemanden dafür eingestellt? Kam er sie überhaupt besuchen?

»Das ist meine Mutter«, flüsterte ich und neue Tränen schossen mir in die Augen, auch wenn ich versuchte es zu unterdrücken.

»Verstehe... Du hast es... nie erwähnt«, sagte er vorsichtig.

Das hatte ich nicht, weil ich mich dieser Realität auch nicht stellen wollte. Deshalb wollte ich andere auch nicht darüber in Kenntnis setzen. Ich blinzelte mehrmals, als Isogai seinen Arm um meine Schulter schlang und nicht einmal die Anstalten machte, sich zu entfernen. So viel körperliche, beruhigende Nähe hatte ich schon lange nicht mehr gespürt, daher wich ich auch nicht zurück.

»Was machst du hier?«, fragte ich schließlich mit brüchiger Stimme.

Wir waren auf einem Friedhof. Er konnte unmöglich hier einfach zufällig vorbeigelaufen sein. Kurz sah er über seine Schulter, bevor er sich wieder zu mir wandte und mich leicht anlächelte.

»Mein Vater liegt hier«, sagte er leise.

Meine Augen weiteten sich und ich verfluchte mich selbst. Hatte er es mal erwähnt? Ich war mir sicher, dass die anderen es wussten. Nur ich war viel zu beschäftigt gewesen, mich von allen fernzuhalten, um zu bemerken, dass ich einen Klassenkameraden hatte, der mich in diesem Punkt verstehen konnte. Als hätte Isogai meine Gedanken erraten, zog er mich leicht nach oben und half mir auf, bevor er in den Himmel sah.

»Es regnet gleich«, sagte er und bedeutete mir, mich in Bewegung zu setzen, wobei er seinen Arm nicht zurückzog. »Lass uns woanders hingehen und reden. Okay?«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top