16. Gründe und Kleidchen
Hey!
Es geht weiter und nach diesem Kapitel kann ich endlich die erste wissenschaftlich, psychologische Theorie ausführlich zu dieser Geschichte darlegen und die Charaktere etwas erklären. If you are interested in reading it, es wird auf dem Instagramaccount @su.yu.san veröffentlicht.
Anyways, that's it for now.
Viel Spaß beim Lesen!
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Ich war heute etwas später dran als sonst, obwohl ich das Haus früh und pünktlich verlassen hatte. Sogar früher als an manch anderen Tagen, aber den ganzen Weg über hatte ich mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich machen sollte und dabei sehr getrödelt. Wollte ich meine restliche Zeit in diesem Haus wirklich so verbringen? Zeit war kostbar, hatte mein Vater stets betont. Und meine verschwendet. Das Lernen gab mir wenigstens das Gefühl, dass ich etwas Produktives machte. Etwas, was meinen Vater stolz machen könnte. Doch ich konnte nicht einmal mehr das machen, weil dauernd irgendetwas war.
»Du bist spät«, hörte ich eine Stimme sagen und sah auf.
Direkt vor dem Berg bogen gerade Karma und Nagisa ab, um ihn hochzulaufen. Als sie mich sahen, blieben sie stehen, setzten sich jedoch dann wieder mit mir in Bewegung.
»Dir auch einen guten Morgen, Paprikarma. Ich bin immer noch pünktlich«, sagte ich ohne ihn anzusehen. »Guten Morgen, Nagisa.«
»Guten Morgen«, begrüßte mich zumindest der Blauhaarige mit einem breiten Lächeln. »Karma-kun meinte wahrscheinlich eigentlich, dass du normalerweise immer früher da bist.«
»Wie ein Hündchen, das auf sein Herrchen wartet«, fügte Karma amüsiert hinzu.
»Auch Hunde verschlafen mal«, sagte ich knapp zu Boden blickend.
»Ist denn alles in Ordnung? Du siehst... wirklich müde aus«, merkte Nagisa an.
Man merkte es mir an...? So ein dummer Anfängerfehler.
»Ich konnte kaum schlafen. Die Prüfungen stehen an, deshalb lerne ich viel«, sagte ich.
»Oh, ich schätze, wir stehen da alle etwas unter Druck«, sagte Nagisa und kratzte sich an der Wange.
Ich nickte und sah kurz zu ihm und dann zu Karma, der mich nachdenklich ansah. Als er meinen Blick bemerkte, sah er wieder in den Himmel.
»Ich nicht. Den besten Sieg schnappt man sich im Vorbeigehen«, meinte er. »Im Gegensatz zu euch, bin ich kein kleiner Fisch.«
»Du wärst eher ein Koi-Karpfen. Oder ein Roter Schweinsfisch. Die zweite Möglichkeit würde in beiden Punkten zu dir passen.«
Er sah mich aus den Augenwinkel verärgert an. Auf Nagisas Stirn bildete sich ein Schweißtropfen.
»Gibt es... den wirklich?«, fragte er zögerlich.
»Jap. Er gehört zu der Familie der Lippfische«, sagte ich.
»Ich wusste gar nicht, dass du dich für Tiere interessierst«, sagte er.
»Das tue ich nicht. Aber wenn meine Tante keine Lust auf ihre fünfjährige Tochter hat, schickt sie mich mit ihr in den Zoo. Und dann lese ich mir diese Informationstafeln durch. Da bleibt einiges hängen, schätze ich. Wir hatten sogar eine Jahreskarte dafür. Es gab kein Entkommen.«
»Nervig. Ich verstehe nicht, was genau so toll daran sein soll, eingesperrte Tiere zu beobachten«, sagte Karma.
»Es ist anfangs interessant. Dann aber irgendwann nicht mehr.«
»Ich finde sowas eigentlich ziemlich interessant«, meinte Nagisa. »Die verschiedenen Verhaltensweisen der Tiere zu beobachten, kann lehrreich sein.«
»Schreibst du dir deshalb alles über unseren Oktopuslehrer auf?«, wollte Karma mit einem schelmischen Grinsen wissen.
Er glich in solchen Momenten einem Dämon, der nur auf einen Anreiz wartete, um seine Sticheleien los zu werden. Ich verstand wirklich nicht, wieso ich aber gerade das mochte. Klar, wenn es mich traf, dann eher weniger. Aber es wirkte dann immer so, als wäre es ihm egal, was alle von ihm dachten oder die Welt von ihm erwartete.
Er war einfach schlichtweg er selbst. Das bewunderte ich.
»Nun, er ist unsere Zielperson. Das ist eigentlich alles«, sagte Nagisa etwas nervös.
»Habt ihr euch eigentlich jemals gefragt, welche Gründe er dafür hat? Ich meine, wieso genau er die Erde zerstören will«, sagte ich nachdenklich.
Koro-Sensei wirkte so lieb, freundlich und hilfsbereit. Wie eine einzige Frohnatur. Hätte ich ihn selbst nicht wütend erlebt, hätte ich niemals geglaubt, dass er überhaupt zu dieser Emotion fähig war. Seine Beweggründe waren daher umso unverständlicher. Oder aber, er war ein Meister der Manipulation. Vielleicht machte er ja all das, damit es uns eben schwerfiel ihn zu töten... Diese ganze Situation war einfach komisch. Man verschwieg uns defintiv noch einiges. Da war ich mir sicher.
»Das hab ich mich auch bereits gefragt«, gestand Nagisa.
Karma zuckte mit den Schultern. »Er ist eben ein Monster. Ist doch egal, oder? Er ist unsere Zielperson und das wars.«
»Willst du ihn nicht wenigstens verstehen?«, wollte ich wissen und blieb stehen, als wir die Tür erreichten.
Die beiden machten es mir gleich und nun sah mich der Rothaarige direkt an. »Nichts für ungut, aber mich interessieren nicht einmal deine Umstände. Ich muss niemanden verstehen. Sich für eine Verhaltensweise zu entscheiden, ist eine bewusste Entscheidung und dementsprechend auch der Umgang damit. Man entscheidet sich dafür, ob man unehrlich ist, jemanden töten will oder die Welt zerstören möchte. Es liegt eben in unserer Natur, so zu sein, wie wir eben sind. Wenn man es nicht wollen würde, dann würde man sich dagegen wehren.«
Ich nickte langsam. Ich verstand seine Argumentation, aber ich konnte seine Sichtweise nicht nachvollziehen. Es war defintiv nicht die Meinung, die ich vertrat. Ein kurzer Blick auf Nagisa verriet mir, dass er auch erst einmal ziemlich darüber nachdenken musste.
»Nichts für ungut«, wiederholte ich seine Worte, »aber du hast ein ziemlich beschränktes Weltbild und wahrscheinlich kaum Empathie, Akabane. Nicht jeder kann sich gegen Strukturen und Umstände, geschweige denn dem System wehren wie du.«
»Du sprichst wohl aus Erfahrung«, sagte er ruhig. »Zeigt das jedoch nicht, dass du einfach nur schwach bist? Wenn du glaubst, dass jemand das Recht hat die Menschheit auszulöschen, nur, weil Mami und Papi ihm keine Gutenachtgeschichte vor dem Einschlafen erzählt haben, dann ist dir wirklich nicht mehr zu helfen.«
Ich presste kurz meinen Mund zusammen. Als würde er es darauf anlegen, mich nicht zu verstehen. Dieser Pfosten...
»Das hab ich so nicht gesagt oder gemeint. Es geht mir vor allem darum, dass einige es im Gegensatz zu dir nicht leicht haben. Du weißt nicht, wieso ein Mensch so ist wie er ist.«
»Im Grunde widersprichst du dir doch selbst. Du sagst, dass es einige im Gegensatz zu mir nicht leicht haben und ich nicht wisse, wieso ein Menschen eben so ist wie er sei. Aber um das von mir zu behaupten, musst du doch mehr über mich wissen. Du kannst auch nicht wissen, wieso ich so bin wie ich nun mal bin oder ob ich es leicht habe. Du bist sogar in deiner eigenen Denkweise eine Heuchlerin.«
Damit ging er einfach gemütlich an mir vorbei und ließ mich zusammen mit Nagisa stehen. Ich war sprachlos. Sprachlos, weil er mit dieser Aussage zumindest recht hatte. Was genau wusste ich überhaupt über Karma, außer, dass er süß aussah, schöne Lippen hatte und ein Sadist war?
»Was... war das denn gerade?«, sagte Nagisa langsam und sah Karma verdutzt hinterher.
Ich zuckte mit den Schultern, unsicher, was ich antworten sollte. Karma hatte uns soeben beide mit einem eigentlich recht guten Argument verwirrt. Ich bemerkte, wie mich der Blauhaarige von der Seite musterte, scheinbar ebenfalls unsicher, ob er sprechen sollte.
»Weißt du, Naoko-san, ich bin eigentlich deiner Meinung«, sagte er und ließ mich überrascht innehalten. »Manche... können sich gegen Strukturen und Umstände nicht wehren. Egal, wie sehr sie es auch versuchen.«
Er lächelte mich noch kurz an, bevor er Karma folgte und im Schulgebäude verschwand. Selbst nach der Aussage des Rothaarigen war er also meiner Meinung. Nachdenklich betrachtete ich den Boden. Irgendwie war es mir so nicht wirklich in den Sinn gekommen, dass im Grunde jeder seine Lasten zu tragen hatte. Nagisas Meinung schien mir, als wüsste er, wovon ich sprach. Eigentlich wusste ich auch nicht viel über die Umstände meiner Mitschüler. Aber sie waren defintiv nicht grundlos in der E-Klasse gelandet...
Dementsprechend hatten auch sie ihre Lasten zu tragen...
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Der Sportunterricht verlief heute zum Glück endlich wieder unter der Anleitung von Karasuma-Sensei, der uns mal wieder den Berg hochklettern ließ. Es war sehr viel anstrengender als Kampftraining, weil mir dann immer vor Augen geführt wurde, wie wenig Muskelkraft ich eigentlich hatte. Meine Vorteile lagen in der Technik, Taktik und Strategie. Umso frustrierender war es, wenn dieser blöde Akabane an mir vorbei kletterte und mir auch noch sehr erwachsen die Zunge herausstreckte - was ich aus irgendeinem Grund auch noch attraktiv fand, sodass mir klar wurde, dass ich langsam den Verstand verlor...
Ich verstand nicht ganz, wozu diese Übungen zum Töten dienen sollten. Mir kam es vor, als würde man uns ein ganzes militärisches Training unterziehen, dabei würden wir niemals genug Kraft haben, um Koro-Sensei in dieser Form zu erledigen. Wir brauchten Grips und eine Strategie. Doch gleichzeitig war es mir im Gegensatz zu den anderen egal, ob wir es schafften oder eben ein anderer Killer.
Irgendwie wollte ich auch nicht, dass er starb... Es mochte komisch klingen, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass er der einzige war, der sich um mich sorgte. Natürlich, weil ich seine Schülerin war, doch trotzdem... Sonst machte es ja keiner. Das Best-Case-Szenario wäre, dass er sich umentschied und die Erde eben nicht zerstörte... Dann konnten wir die gemeinsame Zeit mit ihm einfach nur genießen.
Als ich am Nachmittag nach Hause kam, hörte ich bereits auf den Flur die aufgeregte Stimme meiner Tante. Eigentlich wollte ich sofort in mein Zimmer verschwinden, doch sie schien mich gehört zu haben, da sie mich hastig rief. Ich zögerte. Sie war in Ais bunten Prinzessinnenzimmer und irgendwie bezweifelte ich, dass die Interaktion gut gehen würde. Dennoch gab ich nach, als sie mich erneut rief, nun deutlich ungeduldiger, sodass ich dorthin ging und mich lustlos sowie wortlos gegen den Türrahmen lehnte. Meine Tante fummelte gerade hinten an einem pinken Tutukleid, das Ai trug, herum, die aus irgendeinem Grund scheinbar tief eingeatmet und die Luft angehalten hatte.
»Dein Vater hat angekündigt, dass wir in ein paar Wochen zu einer Gala mit einflussreichen Familien eingeladen sind«, sagte sie kurz aufblickend. »Er erwartet von uns einwandfreies Verhalten und die beste Abendgarderobe.«
Sollte sie das nicht ihrer Tochter sagen? Dieses Kleid war aber unmöglich dafür. Es war viel zu verspielt, das hieß, dass es für das Cafe-Treffen war, zu dem die Frauen auch ihre Kleinkinder meist mitbrachten.
»Okay. Und was genau macht ihr da?«, fragte ich und deutete auf den mittlerweile rot angelaufenen Kopf des kleinen Mädchens.
»Dieses Schweinchen ist zu pummelig geworden«, sagte meine Tante mit einem genervten Stöhnen. »Na, geht doch!«
Sie hatte scheinbar den Reißverschluss zu bekommen, sodass Ai endlich erleichtert weiter atmen konnte, wobei sich die Nähte gefährlich dehnten. Wenn ich ehrlich war, passte es nicht einmal zu ihr. Man sah ihr an, dass es viel zu eng war und sie sich kaum bewegen konnte, so, wie sie die Arme ausgebreitet hatte.
»Perfekt. Jetzt wirst du wieder das süßeste Mädchen dort sein!«, sagte ihre Mutter zufrieden.
»Aber, Mama, ich kann mich nicht bewegen«, beschwerte sich Ai laut. »Es tut voll weh! So kann ich nicht spielen!«
»Selbst schuld, wenn du wie ein Schweinchen alles in dir hineinstopfst«, sagte meine Tante und piekste ihr in den Bauch. »Bist du stolz auf deine Speckröllchen? Das kommt von den ganzen Keksen. Mit Raiko hatte ich nie so ein Problem.«
»Lass das«, sagte Ai und versuchte ihre Hand wegzudrücken. »Ich bin nicht pummelig!«
»Du wirst sogar immer fetter. Was sollen die Leute nur von dir denken, wenn sie deine Speckröllchen sehen? Was sollen sie bloß von mir denken? Sie werden dich mit einem Schweinchen verwechseln.«
»ICH BIN KEIN SCHWEINCHEN!«, schrie Ai und wollte die Arme in die Seiten stemmen, als jedoch ein lautes reißendes Geräusch ertönte.
Sie schien zu erstarren, während sie versuchte nach hinten zu schauen, um den Grund des Geräusches zu erfassen. Ihre Mutter drehte sie jedoch sofort rücksichtslos um, und betrachtete es selbst. Das Kleid war hinten an der Naht komplett aufgerissen.
Das war schon fast abzusehen gewesen...
Besser jetzt als auf dem Café-Treffen, dachte ich mir innerlich gegen die Stirn schlagend.
»So, du bist also kein pummeliges Schweinchen?«, sagte meine Tante wütend und drehte Ai wieder zu sich um, die sie mit Tränen in den Augen ansah. »Siehst du nicht, was deine Speckröllchen gemacht haben? Das liegt daran, dass du immer alles in dir hineinfrisst, wie ein hungriges, wildes Tier. Aber ab heute laufen die Dinge anders.«
»Ich bin aber kein pummeliges Schweinchen«, schluchzte Ai. »Ich bin süß!«
»Das wirst du bald nicht mehr sein. Du wirst ab jetzt eine strikte Diät halten, damit du wenigstens auf der Gala perfekt aussiehst. Keine Kekse, keine Nascherein und kein Nachschlag. Verstanden?«
»ABER ICH LIEBE MAMPFEN!«
»Das kann jeder sehen, du Pummelchen. Bald werden dich alle auslachen und dich die pummelige Ai nennen, möchtest du das?«
Sie schüttelte langsam den Kopf und legte die Hände an ihren Bauch. Tatsächlich hatte sie etwas zugenommen und er hatte sich defintiv aufgebläht, doch in meinen Augen war es normal für ihr junges Alter. Viele Kinder waren... gut ernährt. Die Herangehensweise meiner Tante war absolut nicht gut, doch ich sollte und konnte mich auch nicht einmischen. Ich würde alles nur schlimmer machen.
»Ich bin die süße Ai«, sagte Ai und wischte sich über die Augen.
»Dann friss nicht mehr so viel. Was soll ich denn jetzt machen? Das war dein niedlichste, pinkes Kleid...«
»Zieh ihr doch das neue blaue an«, sagte ich stirnrunzelnd. »Das wird ihr defintiv noch passen.«
»Es ist aber nicht so niedlich oder passend«, sagte meine Tante abwinkend, im pinken Kleiderschrank von Ai kramend. »Sie soll das süßeste Mädchen dort sein. Das Mädchen der Tetsuyas hat immer diese absolut niedlichen Kleider an. Da muss sich unser pummeliges Schweinchen nun mehr anstrengen.«
»ICH BIN KEIN PUMMELIGES SCHWEINCHEN!«, schrie Ai, während sich die ersten Tränen lösten und über ihr Gesicht kullerten. »TETSUYA-CHAN IST HÄSSLICH!«
Also musste ihre Tochter unbedingt wie ein pinkes Bonbon aussehen, um als süß angesehen zu werden? Ich war wirklich sehr froh, dass meine Mom nie so mit mir umgegangen war.
»Dann stimmst du also der Diät zu. Sehr gut«, sagte meine Tante zufrieden und hielt ihr ein anderes pinkes Kleid hin. »Das ziehen wir dir jetzt an und wenn es nicht passen sollte, schmeiß ich ein paar deiner Spielsachen weg.«
»Nein, nein! Nicht meine Spielsachen!« Wütend stampfte das kleine Mädchen auf und gab einen Schrei von sich.
»Ich gehe Hausaufgaben machen«, murmelte ich, da mein Kopf langsam anfing zu pochen.
Ich verschwand aus dem Zimmer, gerade als meine Tante anfing Ai umzuziehen, die sich lauthals beschwerte und direkt eine weitere Drohung bekam. Die beiden konnten es nicht lassen...
Wenigstens waren sie gleich weg...
Die meisten hatten am Freitag Pläne. Sie gingen raus oder feiern, trafen sich mit Freunden, unternahmen etwas lustiges und ich setzte mich erst einmal an meinen Hausaufgaben und lernte etwas für die Prüfungen, bevor ich nach einer halben Stunde entschied, dass ich mir heute einen schönen Tag machen würde. Ich hatte irgendwie gerade keinen Kopf dafür, und wollte entspannen. Zwar allein, doch ich konnte mir trotzdem Knabberzeug holen und den nächsten Avengers-Film schauen. Das war meine Definition eines schönen, einsamen Tages. Also stand ich wieder von meinem Schreibtisch auf und wollte mein Zimmer verlassen, blieb jedoch stehen, da Ai direkt vor meiner Tür stand.
Besorgt runzelte ich die Stirn. Das zweite Kleid war nicht besser. Wenn ich mich nicht irrte, hatte sie es letztes Jahr bekommen. Es war in einem strahlenden Rosa, hatte einen Tüllrock und eine große Schleife in der Mitte. Der Stoff war zumindest dehnbar, ansonsten wäre er defintiv gerissen, so eng wie es anlag und obwohl sie ziemlich steif aussah, grinste sie mich selbstbewusst an.
»Ich werde die hübschste und süßeste dort sein«, meinte sie zufrieden und strich sich in einer komischen Bewegung, die man in Filmen sah, ihre kurzen Haare nach hinten.
»Wir müssen los, komm Ai!«, sagte ihre Mutter und lief an ihr vorbei die Treppe runter.
Das kleine Mädchen nickte und lief mühsam und steif zur Treppe, fast als würde die Enge des Kleides ihre ganzen Bewegungen einschränken. Ein Schweißtropfen bildete sich auf meiner Stirn. Wenn sie nicht wollte, dass ihre Tochter als pummelig bezeichnet wurde, wieso steckte sie sie dann in ein Kleid, dass wirklich jeden Zentimeter hervortreten ließ sowie viel zu sehr betonte? Als sie auch noch bereits nach der ersten Stufe beinahe mehrmals fast ihr Gleichgewicht verlor, hielt ich ihr meine Hand hin, die sie zögerlich nahm, damit ich ihr die Treppe herunter half. Ich wollte ungern, dass sie diese herunter fiel oder ein weiteres Missgeschick passierte.
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Im Supermarkt hatte ich mir einige Snacks besorgt, um meinen Tag allein zu genießen. Im Wohnzimmer pflanzte ich mich dann auf das Sofa, doch bevor ich den Film starten konnte, hörte ich leises Kichern aus dem Flur. Eigentlich dachte ich mir nichts dabei, bis ich eine männliche Stimme, hörte, die ich nicht kannte und die versehentlich zu laut sprach.
»Ich dachte, wir sind allein.«
»Pssht. Es ist nur meine Cousine«, flüsterte Raiko.
Danach schien sie ihre eigenen Vorsätze zu vergessen, da sie etwas zu laut kichernd mit dem Typen, der defintiv dieser Oberschultyp war, nach oben verschwand. Wenn ihre Mutter sie erwischte, würde sie sie ein Kopf kürzer machen. Doch ich hatte weder vor sie zu verpetzen, noch vor sie aufzuhalten und das wusste sie wahrscheinlich auch. Sie konnte machen, was sie wollte. Ich würde dicht halten.
Dennoch stellte ich den Fernseher lauter, bevor ich den Film startete. Ich wollte nicht unbedingt hören, was die beiden miteinander machten.
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Ob Koro-Sensei die Avengers mochte und sie ihn aufnehmen würden? Der Gedanke kam mir während des Films, und irgendwie stellte ich es mir lustig vor. Ob sie eine Chance hätten, ihn zu töten? Das könnte eigentlich ein spannender Kampf werden...
Nachdem der Film zu Ende war, stand ich auf und streckte mich ausgiebig. Ich war so in ihn versunken gewesen, dass ich meine Umgebung komplett ignoriert hatte - ich hatte die Wohnzimmertür geschlossen, damit Raiko ihren Typen herausschmuggeln konnte, ohne, dass ich ihn sah. Es war bereits abends, also entschied ich mich heute früher schlafen zu gehen, um morgen meinen Samstag dann mit lernen zu verbringen.
Es klang zwar traurig, doch ich hatte selbst entschieden, dass ich keine sozialen Kontakte brauchte. Also war es meine Entscheidung, dass ich mein Leben so verbrachte. Auch wenn ich... schon gern mit Karma etwas unternehmen würde.
Er mochte mich nicht, also war er safe. Solange er mich nicht mochte, tat es zwar weh, aber es war sicherer für uns beide.
Als ich die Tür des Wohnzimmers wieder öffnete, nahm ich sofort den Mixer aus der Küche wahr und stellte fest, dass meine Tante wieder da war. Sie sah... genervt aus. Wirklich sehr genervt. Ich seufzte leise. Gut, dass ich ihre Rückkehr nicht mitbekommen hatte. Irgendetwas hatte ihr defintiv die Laune verdorben. Doch bereits auf der Treppe, hörte ich Ais Weinen, was mir zeigte, dass ich entgegen meiner Annahme nicht sicher war. Ich fand sie sitzend in der Badewanne wieder, die ungewöhnlicherweise nur zur Hälfte voll und kein schaumiges Paradies war wie sonst. Sie rieb sich unentwegt ihre geröteten Augen, während immer wieder neue Tränen nachkullerten und sie heftig schluchzte.
Irgendwie konnte ich es nicht ignorieren. Ich wollte gern, doch es ging nicht.
»Ist etwas passiert?«, fragte ich Ai.
Normalerweise hatte sie viel zu viel Spaß, wenn sie badete. Um so ungewöhnlicher war der Anblick, sie weinend in der Badewanne zu finden. Außerdem war das Badezimmer auch in einem normalen Zustand, obwohl ihre Mutter nicht da war, um aufzupassen.
»I... ich... ich... hab... mir in die Hose gepullert«, schluchzte sie, sich die Tränen wieder wegwischend.
»Auf dem Café-Treffen?«, wollte ich vorsichtig wissen und hockte mich vor der Badewanne. Ich wollte ihr Trost spenden...
Sie nickte heftig. »Ich h... hab... mein... Kleidchen... nicht aus bekommen und dann... wo... wollte ich Mama fragen, ob sie mir h... hilft, aber sie hat... nicht... geantwortet und dann hab ich... gepullert.«
Ich wusste, dass Ai es immer bis zum letzten Moment ließ und nicht sofort auf die Toilette ging, wenn sie das Bedürfnis bemerkte. Gleichzeitig wusste ich, dass ihre Mutter in Gesellschaft viel zu sehr mit Tratschen beschäftigt war und dann wirklich nicht zuhörte. Schuld an der Situation waren wohl irgendwie beide, doch angesichts ihres Alters, sollte man eher nachsichtig mit Ai sein.
»Das war unangenehm, nicht? Tut mir leid, dass dir das passiert ist«, sagte ich sanft und strich ihr über den Kopf, um sie irgendwie zu trösten.
»Nein, du... du Blödie! Mich h... haben alle ausgelacht. Diese g... ganzen blöden... K... Kinder und Mama hat mich gehauen und mir gesagt, dass sie mich n... nicht... mehr lieb hat«, weinte sie nun heftiger. »Aber alle haben mich doch lieb!«
Ich zog meine Hand nicht zurück, verzog jedoch auch nicht das Gesicht. An diese Enthüllung war ich bereits gewöhnt, sie wiederum hörte es wahrscheinlich zum ersten Mal. Sie war wohl fest davon überzeugt, dass es unmöglich wäre, sie nicht lieb zu haben.
»Hat sie dich hier gehauen? Zu Hause?«
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie es vor ihren Freundinnen machte. Wahrscheinlich hatte sie darauf gewartet, bis sie mit Ai allein war...
»J... ja... Und dann ist das Kleidchen gerissen, weil sie mich ge... schubst hat und sie h... hat gesagt, dass ich ein pummeliges Schweinchen bin.« Sie wischte sich über die Augen, bevor sie plötzlich meine Hand wegschlug und aufstand. »ABER ICH BIN KEIN PUMMELIGES SCHWEINCHEN! ICH BIN SÜß!«
Wütend fing sie an auf das Wasser einzuschlagen, als würde sie jemanden bekämpfen, bevor sie ausrutschte. Schnell ergriff ich sie, damit sie sich nicht verletzte oder sich den Kopf stieß, wobei sie trotzdem untertauchte und dann mit einem kreischenden Heulen wieder auftauchte. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich hatte kindliche Aggression schon mehrmals mitbekommen, doch aus irgendeinem Grund wirkte ihr Verhalten gerade anders. Sehr viel unkontrollierter... Sie schien über die Bezeichnung wütender zu sein, als über den Schlag...
»Was ist denn schon wieder hier los?«, fragte meine Tante, die in der Tür auftauchte.
Ich sah über meine Schulter und entdeckte Raiko, die Ai genauso unverständlich musterte wie ich. Ihre Mutter wiederum schien sehr sauer zu sein.
»Mommy, Naomi hat mich einfach ins Wasser gedrückt!«, schrie Ai und zeigte auf mich.
Verdutzt sah ich sie an. Doch ihr heulender Blick war auf ihre Mutter gerichtet, während sie ihre Arme ausgestreckt hielt, als erwartete sie verzweifelt in den Arm genommen zu werden. Sie wollte mit dieser Lüge scheinbar die Liebe ihrer Mutter zurück bekommen. Indem sie sich als Opfer darstellte. Was genau sollte ich...?
»NAOMI!«
Wenn ich sie verriet, würde es ihre Situation schlimmer machen. Wenn ich sie nicht verriet, machte es meine Situation schlimmer und sie würde auch keine Lektion bekommen... Das war eine Zwickmühle. Was genau sollte ich machen?
Was wenn mein Vater benachrichtigt wurde? Dann wäre ich in größeren Schwierigkeiten... aber ich konnte doch auch nicht...
»Sie lügt«, sagte Raiko überraschenderweise hinter mir. Ai hörte sofort auf zu schreien und sah ihre Schwester mit bebenden, schmollenden Lippen an. »Naomi hat ihr geholfen. Ai ist ausgerutscht, weil sie wieder einen Wutanfall hatte.«
»Ist das wahr Ai?! HAST DU ETWA SCHON WIEDER GELOGEN?!«
Das kleine Mädchen zuckte zusammen und schüttelte langsam den Kopf. Da war ich jedoch bereits aufgestanden und hatte mich zwischen meiner Cousine und ihrer Mutter durchgezwängt. Wenn ich blieb, machte ich es schlimmer. Wenn ich nichts tat, machte ich es schlimmer. Und wenn ich etwas unternahm, machte ich es noch schlimmer.
Vielleicht hatte meine Tante mit ihrem Gedanken recht. Vielleicht, war ich wirklich der Eindringling. Meine bloße Anwesenheit schien alles schlimmer zu machen.
Unten zog ich mir schnell meine Schuhe an, schnappte mir meine Jacke und verschwand nach draußen. Es war dunkel, doch es störte mich nicht. Ich brauchte jetzt eine Ablenkung. Irgendeine Ablenkung, die mich vergessen ließ. Mein erster Gedanke war Karma. Doch bei ihm konnte und wollte ich nicht einfach so auftauchen. Ich wusste nicht einmal, was ich sagen sollte. Also entschied ich mich erst einmal für einen Spaziergang durch die Straßen. Die Straßenlampen beleuchteten sie genug, sodass ich entspannen konnte. Für einige Momente einfach nur die Ruhe genießen konnte und einmal nicht an Ai, ihrer Mutter, meinen Vater, dem Krankenhaus, meiner Klasse, den Typen, der mir mein so schon angeknackstes Herz gestohlen hatte oder an die Zerstörung der Erde durch unseren künstlich erschaffenen Klassenlehrer denken musste.
Ich sah nach oben zu dem Rest, das von dem Mond übrig geblieben war. Irgendwie passte es. Der Teil, der ihm fehlte, war wie der Teil, der mir fehlte. Meine Mutter. Als sie noch da gewesen war, waren wir so so glücklich gewesen. Mein Vater war sehr glücklich gewesen. Doch als sie gegangen war, hatte sie nicht nur sich selbst, sondern auch ein Stück von ihm mitgenommen.
Und seitdem war ich allein und ein Eindringling und eine Gefangene.
Als sie gegangen war, hatte ich festgestellt, dass ich irgendwann auch frei sein würde und ich sehnte mich danach. Aber das durfte mein Vater nicht wissen. Bis dahin wollte ich ihm eine gute Tochter sein.
Laute Geräusche rissen mich aus meinen Gedanken und ich blieb verdutzt stehen. Ich lief an einer Arcade-Halle vorbei. Die bunten Lichter strahlten mir viel zu stark entgegen, während ich die glücklichen Jugendlichen durch die Scheiben spielen sah. Glücklich, ungezwungen, frei. Es war defintiv mein Wunsch nach Ablenkung, der dafür sorgte, dass ich die Eingangstür ansteuerte und eintrat. Ich war noch nie in einer gewesen, doch die Spiele in den Spielautomaten und die ganzen Charaktere kannte ich aus einigen Videospielen, die mein Vater mir früher gezeigt hatte, als er noch lebenslustig gewesen war.
Etwas unbeholfen sah ich mich um, unsicher, wie das ganze hier ablief. Es schien, als wären alle mit ihren Freunden und Kameraden hier, umso mehr fühlte ich mich fehl am Platz. Ich wandte mich zur Theke, wo jemand stand, der hier arbeitete und überlegte, ob ich ihn einfach um Rat fragen sollte. Es war ein junger Mann mit schwarzen Haaren und einem ziemlich süßen, spitzbübischen Gesicht, der mir zulächelte, als er meinen Blick bemerkte. Das ermutigte mich dazu, mich in Bewegung zu setzen, doch bereits nach zwei Schritten, piekste mir jemand mit dem Finger in die Seite und ließ mich erschrocken herumwirbeln. Ich hatte nicht sofort erraten, dass er es war, besonders, weil wir nicht in der Schule waren. Deshalb entspannte ich mich erst, als ich ihn sah.
»Karma«, sprach ich überflüssigerweise seinen Namen aus.
Er hatte sein übliches Grinsen aufgesetzt, während er lässig seine Hände hinter seinem Kopf verschränkte und mich kurz eingehend betrachtete.
»Ich hab dich nicht gesehen, mein Fehler«, meinte Karma und gab sich dabei nicht einmal die Mühe glaubwürdig zu klingen.
»Naoko-san!«, hörte ich eine weitere Stimme und drehte mich nach rechts zu den Shootergames, wo ich Sugino, Kanzaki, Kayano und Nagisa erblickte.
Sie waren also auch hier...
Das war ein komischer Zufall... aber einer, den ich gerade defintiv brauchte.
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