11. Kekse und Karma

Hey!

Es geht endlich weiter :D. Aber davor möchte ich unbedingt darauf aufmerksam machen, dass ich bis jetzt vier "Fanarts" zu der Geschichte bekommen habe, die auf Instagram zu sehen sind (@su.yu.san). Vier von Naomi und eins, wo Naomi und Karma drauf sind. So if you are interested in seeing them, I would recommend you to check them out, cause the girls who drew them are really talented (there are also other things on there, aswell as Q&As, but the main thing is, you gotta see those amazing pictures).

Dann noch ein kleiner Disclaimer: this chapter is a bit darker. Aber es ist wichtig, was im späteren Verlauf der Geschichte immer deutlicher wird. So if you are confused and shocked now, the extend will be clear later on. You will see what I mean, I promise.

Es ist außerdem länger geworden als erwartet, jedoch werden die nächsten Kapitel wie ankündigt wieder kürzer :3.

Viel Spaß beim Lesen!
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»... Ich hätte es dir sagen sollen... «

~

»Wenn du erwischt wirst, wirst du Ärger bekommen«, warnte ich Ai am Sonntagnachmittag, als ich sie in der Küche dabei erwischte, wie sie mithilfe eines Stuhls auf die Arbeitsplatte geklettert war, wo sie auf dem Regal da drüber scheinbar wieder einmal die Keksdose gefunden hatte.

Sie antwortete mir nicht, sondern stopfte sich einfach mampfend einen weiteren Keks in ihren Mund, was nicht nur ziemlich krümmelte, sondern auch seine Spuren in ihrem Gesicht hinterließ. Als sie sich einen dritten nehmen wollte, griff ich nach der Dose, die sie jedoch alarmiert von mir weghielt, wobei sie fast heruntergefallen wäre, wenn ich sie nicht festgehalten hätte. Doch meine helfende Hand, schlug sie einfach zur Seite.

»Das sind meine Kekse!«, meinte sie trotzig.

»Erst einmal sind es nicht deine Kekse, die hab ich neulich gekauft, als ich einkaufen war und zweitens, hattest du schon genug«, sagte ich ruhig. »Du sollst vorher fragen, bevor du dir einen nimmst.«

»Nein, das sind meine!«

»Dann werde ich ab heute keine mehr kaufen.«

Unsicher sah sie mich an, bevor sie mir widerwillig die Dose hinhielt. Das war wenigstens ein Anfang. Doch ich ergriff sie und schloss sie kurzerhand, woraufhin das kleine Mädchen einen quengelnden Schrei von sich gab.

»Was ist denn hier schon wieder los?«, fragte meine Tante genervt, die in diesem Moment die Küche betrat.

»Naomi will die ganzen Kekse für sich!«, beschwerte sich Ai, wobei ich mich fragte, ob sie bewusst log. So sicher war ich mir mittlerweile nicht mehr, da sie scheinbar auch sonst zu wissen schien, wie sie ihren Willen bekam.

»Wie du siehst, hat sie dein Versteck wieder gefunden«, sagte ich schlicht.

»Ich hatte noch gar keinen Keks!«

Okay, sie log bewusst. Jeder, der die Krümmel in ihrem Gesicht und auf der Arbeitsplatte sah, bemerkte dies.

»Naomi, gib ihr die Dose wieder«, sagte meine Tante.

Sie lief an uns vorbei zum Herd und würdigte uns nicht einmal einen Blick. Es war klar, dass sie ihre Ruhe haben wollte.

Ich runzelte die Stirn. »Sie hat wieder heimlich gegessen und gerade gelogen.«

»Ich habe dafür keine Zeit«, sagte sie genervt, während sie das Essen im Topf umrührte.

»Hast du jemals Zeit für Erziehung, wenn jemand nicht anwesend ist?«

Es war mir herausgerutscht, doch ich bereute es auch nicht, es gesagt zu haben. Sie drehte sich heftig zu mir herum, sah mich warnend an und entriss mir schon fast die Dose, die sie dann tatsächlich Ai gab. Diese riss sie sofort wieder auf, stopfte sich den nächsten Keks vollständig in den Mund, den sie laut schmatzend zerkaute, bevor sie mir mit sämtlichen Inhalt unapetitlich die Zunge herausstreckte. Da ich nicht wollte, dass sie wirklich herunter fiel, hob ich sie gegen ihren Willen hoch und setzte sie auf den Boden ab.

»Sowas will ich nie wieder von dir hören«, sagte meine Tante.

Die Wahrheit, dachte ich sarkastisch, behielt es aber für mich. Ich hatte viel zu gute Laune heute und wollte diese nicht wegen etwas, was mich eigentlich nichts anging, verlieren. Auch wenn ich wollte, dass Ai wenigstens die Chance auf ein halbwegs normales Leben hatte... Vor allem mit Zähnen, Manieren und ohne Diabetes, wenn ich mir ansah, wie viele Kekse sie da in sich hinein stopfte...

Ein lautes Räuspern sorgte dafür, dass ich mich abwandte. Und erstarrte. Mein Vater stand mit einem sehr strengen Blick in der Tür. Als auch meine Tante sich umdrehte und ihn erblickte, ließ sie fast den Kochlöffel vor Schreck fallen. Das war nicht gut. Das war gar nicht gut. Was machte er überhaupt hier? Normalerweise kündigte er sich vorher an, damit wir uns alle auf ihn einstellen konnten...

Niemand sagte etwas. Das einzige, was man hören konnte, war das blubbernde Geräusch des Kochtopfs und Ais geräuschvolles Kauen, als sie sich direkt wieder einen ganzen Keks in den Mund stopfte und die Hälfte davon in Form von Krümmel auf den Boden landete. Ihre Mutter wurde zumindest dadurch auf sie aufmerksam und nahm ihr schnell die Dose aus der Hand.

»Hey!«, rief Ai schockiert. »Das sind meine! Du hast gesagt, ich darf! Ich hatte noch keinen Keks!«

»Du hattest mehr als genug«, antwortete ihre Mutter, während sie ihr schmutziges Gesicht eilig mit einem Tuch säuberte. Diese versuchte sie jedoch wütend loszuwerden.

»Ich hatte noch keinen...!«

»Ein Kind, das seine eigenen Eltern anlügt«, unterbrach mein Vater sie mit seiner lauten Stimme. Es sorgte dafür, dass sie sich mit großen Augen zu ihm umdrehte. Es war gut, dass sie scheinbar vor ihm großen Respekt hatte - oder Angst, da war ich mir nicht so sicher - und ihr Mundwerk kontrollierte. »Und dann auch noch zu dumm dafür ist.«

»I... i... ich hab nicht ge... gelogen«, stammelte Ai mit ihren Fingern spielend.

»Mein Bruder scheint wirklich in allen Punkten gänzlich zu versagen.«

Mein Vater ließ seine Augen nach oben zu meiner Tante wandern, die zwar zusammenzuckte, aber sonst schwieg.

»Außerdem gehören schmutzige Tiere nicht in die Küche. Schon gar nicht in meine«, fuhr er fort.

Mir tat es nicht so leid, wie es das eigentlich sollte. Vielleicht lernten sie ja daraus...

»Aber, hier sind doch gar keine Tiere«, sagte Ai und sah sich verwirrt um, während ihre Mutter so aussah, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

Sie wich fast schon ängstlich zurück, als mein Vater auf sie zu trat, obwohl er sie und ihre ganze Familie noch nie körperlich verletzt hatte. Langsam ging er vor Ai in die Hocke und sah ihr direkt ins Gesicht.

»Ich rede von dir, du dummes Tier«, sagte er und sah dann nach oben. »Und von deiner Mutter, die dir scheinbar kein Benehmen beibringen kann.«

Ich hatte das kleine Mädchen noch nie so schockiert erlebt, wie in diesen Moment, sodass ich nicht einmal nach oben zu meiner Tante schauen wollte. Das Schluchzen, das ich vernahm, war genug. Zufrieden mit der Wirkung seiner Worte, erhob sich mein Vater und drehte sich zu mir um. Ich zuckte nicht zusammen. Im Gegensatz zu ihnen hatte ich keine Angst und war seine harten Worte gewöhnt.

»Bring mir einen Tee und folg mir ins Wohnzimmer«, sagte er und setzte sich in Bewegung. »Hoffentlich ist es sauberer als dieser Raum.«

Ich nickte sofort und machte mich an die Arbeit. Mittlerweile wusste ich genau, wie er seinen Tee am liebsten trank.

»Mama, er hat gesagt, dass ich ein dummes, schmutziges Tier bin«, hörte ich Ai weinen, die die Beine ihrer Mutter umarmte und scheinbar einen sicheren Hafen suchte, der sie auffing. Den brauchte aber diese defintiv gerade selbst. Sie rührte sich nicht, auch nicht, als Ai heulend an ihrer Kleidung zog, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. »Ich bin doch kein Tier, oder? Ich bin doch ein kluges Mädchen!«

Umarm sie, dachte ich frustriert, während ich den Tee umrührte. Ich hatte zwar schon schlimmere Dinge gehört, aber verdammt, sie war noch ein Kind und hatte es nicht anders von ihren Eltern gelernt. Meine Normalität sollte nicht ihre werden. Niemand sollte sie haben. Vor allem nicht so ein energiegeladenes Kind wie sie.

»Geh nach oben. Du musst ein Bad nehmen«, sagte ihre Mutter leise.

»A... a... aber... Ich hab doch... schon... ein Bad genommen«, stammelte Ai. Ihre Mutter antwortete ihr nicht, stattdessen packte sie ihren Arm und schleifte sie hastig mit sich.

Ich seufzte. Warum bekamen Eltern überhaupt Kinder, wenn sie sowieso nur genervt von uns sein würden?

Mit dem Tee lief ich ins Wohnzimmer und platzierte ihn vor meinem Vater, der bereits saß und irgendwelche Unterlagen aus seiner Aktentasche, die neben ihm auf den Boden lag, durchsah.

»Du hast genau drei Minuten gebraucht«, sagte er ohne mich anzuschauen. »Scheinbar hat meine Maßnahme vom letzten Mal gewirkt.«

Oh, ja, in der Dunkelheit habe ich meine Teezubereitungskünste perfektioniert, dachte ich.

Da hatte ich drei Minuten und fünfundfünzig Sekunden gebraucht. Anschließend war ich für fünfzehn Stunden im Raum eingesperrt gewesen. Es hatte nur dafür gesorgt, dass ich mich jetzt noch mehr beeilte. Also eigentlich... hatte er mir wirklich damit geholfen... Daher nickte ich.

»Ja, Vater.«

»Wie genau hältst du es mit diesen fehlerhaften Primaten hier überhaupt aus? Keiner von ihnen scheint irgendetwas auf die Reihe zu bekommen. Nicht einmal ihre Kinder können sie richtig disziplinieren. Wenn ich an dieses hässliche, laute Etwas denke... und dann ihre Mutter. Sie ist weder als Hausfrau, noch im Büro zu gebrauchen. Aber etwas besseres, würde mein Versagerbruder wahrscheinlich sowieso nicht bekommen.«

Ruhig bleiben, Naomi. Ruhig bleiben. Sonst hat es nur schlimme Folgen für dich. Atme normal weiter.

»Man gewöhnt sich an ihr Verhalten«, sagte ich kurz. Ich wollte es nicht verneinen, aber auch nicht bejahen. Beide Optionen hätten Nachteile für mich. Also entschied ich mich für den Mittelweg, etwas, was die Wahrheit wiederspiegelte, ohne ihm zu widersprechen.

Mein Vater sah von seiner Zeitung auf und blickte mir direkt in die Augen. Dann nickte er, wobei er seltsamerweise zufrieden aussah.

»Dass du dich nicht beschwerst, zeigt, dass ich dich gut erzogen habe. Du bist keine verwöhnte Göre geworden, was man von diesem undankbaren Vieh in der Küche nicht sagen kann. Doch bei ihren sogenannten faulen Eltern, die selbst keinen Finger krumm gemacht haben, muss man sich nicht wundern, dass der Nachwuchs noch unbrauchbarer wird.«

Es war gut, dass ich mich nicht beschwerte... Er hatte mich gelobt... Er hatte mich wirklich gelobt. Und sich selbst zwar auch, aber wenigstens zeigte er mir, dass ich nichts falsches gemacht hatte... Genau das war, was ich meinte. Mein Vater war kein schlechter Mensch. Er liebte nur Perfektion. Wenn man etwas richtig machte, dann war er zufrieden. Man hatte selbst schuld, wenn man für seine eigenen Fehler bestraft wurde.

»Das stimmt«, sagte ich mit einem weiteren Nicken.

»Jedenfalls komme ich zu dem Anlass meines Besuchs«, sagte er nun und klang plötzlich geschäftsmäßig. »Der junge Ichiba Rey hat Interesse an dir bekundet.«

Mein Körper fror ein und ich erstarrte. Doch ich ließ mir absolut nichts anmerken.

»Scheinbar hast du einen guten Eindruck bei ihm an diesem Abend hinterlassen, obwohl dieses unerzogene Ding sich wie ein wildes Tier benommen hat«, fuhr er fort. »Er würde dich gern wiedersehen.«

Er war mir absolut nicht sympathisch gewesen. Vor allem, weil er nur über sich und seine Erfolge gesprochen hatte. Nur konnte ich nicht nein sagen oder irgendwelche Bedenken äußern. Ich verstand nicht einmal, wieso genau dieser Typ mich interessant fand. Ich hatte kaum gesprochen und hatte anschließend eine ungewollte Dusche erhalten.

»Wieso würde er mich gern wiedersehen?«, fragte ich.

Hoffentlich verstand er meine Frage nicht falsch...

»Sein Vater hat mir berichtet, dass der Junge viel arbeitet und daher wenig Zeit für soziale Kontakte hat. Wir erhoffen uns die Entstehung einer Freundschaft zwischen euch beiden. Das würde geschäftliche Beziehungen in Zukunft unterstützen. Mr. Ichiba und mir ist dies überaus wichtig.«

Freundschaft...

Ich wollte nicht einmal Freunde haben. Und schon gar nicht welche, die ich mir nicht mal selbst ausgesucht hatte...

»Ich verstehe.«

Doch ich konnte nicht widersprechen oder mich wehren. Ich musste mich seinem Willen beugen, um perfekt für ihn zu sein, damit er meine Unperfektion vergaß. Um meinen Vater nicht zu verlieren. Um mein Leben nicht zu verlieren. Um Dankbarkeit zu zeigen, für alles, was er für mich machte und mir ermöglichte.

Deshalb konnte ich auch nichts tun, was ihm nicht gefiel. Ob er sehr sauer wäre, wenn er erfuhr, dass ich mich ausgerechnet in einen Unruhestifter wie Karma verliebt hatte? Ja. Ich war mir sogar sicher, dass ich dann seine ganze Wut zu spüren bekommen würde. Daher war es eigentlich auch gut, dass mich dieser rothaarige Unruhestifter nicht leiden konnte. Ansonsten... Ich hatte an dem Kuss bemerkt, dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit gab, dass ich schwach werden und unglaublich viele Dummheiten begehen könnte...

Ich wollte auch Karma in keinem Punkt verletzen. Also war es okay, wenn ich verletzt wurde.

»Ich wusste, dass du mich verstehen wirst«, sagte mein Vater und streckte seine Hand aus. »Du hilfst mir dadurch wirklich sehr, Naomi.«

Überrascht entspannte ich mich, als er mir über den Rücken strich.

Um mir seine Liebe zu verdienen...

Sie mir irgendwie... zurück zu verdienen... Auch wenn es schmerzhaft für ihn war...
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Mein Vater blieb zum Abendessen, aber nicht über Nacht. Also musste ich nur noch dieses vorfallsfrei überstehen, dann würde ich heute Nacht friedlich in meinem Bett schlafen können und ungestört über Karma sowie meinem Kuss mit ihm nachdenken können. Doch die Tatsache, dass mein Vater momentan sehr zufrieden mit mir war, machte den Druck schlimmer. Ich wollte ihn absolut nicht enttäuschen und alles vermasseln. Es war bereits verdammt schwer, ihn zufrieden zu stellen oder etwas wieder gut zu machen.

Der Grund, warum er blieb, war defintiv nicht die Tatsache, dass sein Bruder ihn mit einem sehr gezwungenen Lächeln, das wieder mal gezeigt hatte, wie wenig sie in den letzten Jahren im Gegensatz zu mir dazu gelernt hatten, dazu einlud. Ich war mir sicher, dass er seine Macht demonstrieren wollte und das machte er bereits, indem er kein einziges Wort sagte, während die beiden in der Küche saßen und ich den Tisch deckte. Egal, wie sehr mein Onkel versuchte ein Gespräch aufzubauen, es klappte nicht. Ich achtete bei meiner Handlung besonders darauf, was mein Vater mir immer beigebracht hatte. Wie die Teller zu liegen hatten, auf welcher Seite die Stäbchen lagen, wo das Glas stand, um perfekt griffbereit zu sein, und wie die Speisen verteilt werden mussten. Ich hatte dies bereits unzählige Male durchgekaut, musste deshalb bereits unzählige Male in den dunklen Raum... Es musste perfekt sein. Damit ich für ihn perfekt war.

Der Druck war defintiv daran schuld, dass meine Hand leicht zitterte und mein Herz raste. Ich war anfällig für sowas. Nervosität tat mir prinzipiell nicht gut. Dennoch hielt ich nicht inne, sondern bemühte mich mehr, denn es musste perfekt sein.

»Wo sind deine Frau und dein Nachwuchs?«, unterbrach mein Vater seinen Bruder plötzlich mitten im Satz.

Verdutzt sah dieser kurz über seine Schulter. »Sie müssten gleich kommen.«

Er hasste es zu warten. Das wussten sie. Warum zur Hölle ließen sie ihn warten? Ich schluckte schwer und hielt mich an der Küchentheke fest. Wenn er schlechte Laune bekam, wurde es übel. Dann ließ er sie willkürlich aus, meist an mir und ich wollte nicht, dass er vergaß, dass er momentan zufrieden mit mir war. Ich hatte etwas richtig gemacht und das sollte er nicht vergessen.

»Pünktlichkeit scheint ihnen also auch schwer zu fallen...«

Nein, eigentlich nicht. Ich fuhr mir mit der Hand über meinen Arm und schloss kurz die Augen, was mein Vater nicht sehen konnte, weil er von mir abgewandt war. Normalerweise war meine Tante immer pünktlich. Sie fand es unhöflich andere warten zu lassen und meinte, dass man damit einen sehr schlechten Eindruck hinterließ. Etwas, was sie normalerweise absolut vermied.

»Naomi.«

Ich zuckte zusammen und fuhr viel zu schnell herum, sodass meine Sicht für einen Moment unscharf wurde und ich mich wieder an etwas festhalten musste. Mein Vater hatte mich direkt angesprochen und sah mich nun forschend an. Er hatte mein Schwanken defintiv bemerkt.

»Du bist blass«, sagte er.

Es brachte nichts zu lügen. Das würde er schärfer verurteilen.

»Mir ist nur etwas schlecht«, murmelte ich. »Verzeihung. Es geht gleich wieder.«

»Setzt dich hin.«

Ich nickte vorsichtig und nahm auf einen Stuhl Platz. Normalerweise wartete ich darauf, bis alle anwesend waren, da es laut meinem Vater höflicher war.

»Gesundheitliche Beschwerden können schwerwiegend sein«, sagte er monoton. »Das Thema hatten wir bereits, nicht?«

»Ja. Deshalb wollte ich mich sofort setzen, nachdem ich meine Pflichten erfüllt habe«, sagte ich. Schau ihm bloß nicht in die Augen... sonst dachte er, dass du wieder frech geworden bist...

Er musterte mich. Dann nickte er, was mich innerlich aufatmen ließ. Das hieß, er war immer noch zufrieden mit mir. Er konnte jedoch nicht mehr antworten, da in diesem Moment meine Tante mit einem breiten Lächeln in die Küche trat. Sie hatte sich scheinbar umgezogen, da sie ein gelbes Sommerkleid trug und auch ihr Haar hergerichtet hatte. Mit einer unangenehmen Vorahnung stellte ich fest, dass hinter ihr Raiko und Ai, die ebenfalls beide Kleider trugen, liefen. Ais Haare waren zum ersten Mal offen und lagen komplett glatt an ihrem runden Gesicht, was hieß, dass ihre Mutter sie ziemlich durchgekämmt haben musste. Insgesamt sah sie jetzt deutlich gepflegter aus, da auch ihre vom Spielen verdreckte Kleidung weg und ihr Gesicht sauber war, während sie uns glücklich anlächelte.

Diese Situation war so unangenehm... Ich bemerkte praktisch, wie sich mein Vater versteifte.

»Ich hoffe, wir haben euch nicht warten lassen«, sagte meine Tante und ging zum Tisch. Sie wollte gerade nach einem Topf greifen, als mein Vater ihr antwortete.

»Ihr habt uns warten lassen.«

Ihr Lächeln verblasste für eine Sekunden, zuckte aber sofort wieder auf. »Nun, wir mussten...«

»Euch zurecht machen?«

»Unsere kleine Ai brauchte ein Bad«, wich sie seiner Aussage aus und sah erwartungsvoll zu ihrer Tochter, die jedoch mit glitzernden Augen zum Tisch sah.

»Kann ich jetzt endlich mampfen? Ich hab voll Hunger!«

»Ai«, sagte ihre Mutter nun nachdrücklich.

Die Fünfjährige sah sie genervt an, bevor ihr scheinbar ein Licht aufging und sie zu meinem Vater sah. Sie lächelte ihn mit ihrem berühmten süßen Lächeln an und platzierte ihre Hände auf ihren Schoß.

»Mein unartiges Verhalten gerade tut mir leid. Mama hat keine Schuld, ich war unartig«, sagte sie und verbeugte sich leicht, gab jedoch ihre Haltung sofort wieder auf. »Bekomm ich jetzt endlich was zu mampfen?«

Ich stützte meinen pochenden Kopf mit meiner Hand. Wenigstens Raiko schien es sichtlich unangenehm zu sein. Diese Vorstellung war mehr als nur peinlich. Es ging hier nicht einmal darum zu zeigen, dass Ai brav war, sondern darum, dass ihre Mutter ihre Kinder gut erzogen hatte. Ob sie es vorher sogar geübt hatten? Es war mehr als nur deutlich, dass das kleine Mädchen keine Reue wegen der Sache verspürte.

Mir wären gerade sogar Karmas Gemeinheiten viel lieber als diese unangenehme Situation.

»Sehe ich das richtig«, sagte mein Vater, der Ai, Raiko oder seinem Bruder nicht einmal einen Blick würdigte, sondern meine Tante ins Visier genommen hatte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Du hast meine kranke Tochter den Tisch decken und uns warten lassen, weil du versucht hast deine Töchter ansehnlicher zu machen? Und dann zwingst du dieses widerliche Balg dazu, eine Entschuldigung ohne jegliche Bestrafung auszusprechen, obwohl sie scheinbar nicht einmal ihr fehlerhaftes Verhalten einsieht?«

Das war eine ziemlich genaue Zusammenfassung..., doch die Tatsache, dass er mein Befinden erwähnt hatte, lenkte mich ab und freute mich... sehr sogar. Auch wenn er es wahrscheinlich nur machte, weil es ein weiterer Fehler von ihr war, den er auflisten konnte.

»E... e... e... nein...«, stotterte sie. Das Scheitern ihres Plans schien sie ziemlich aus der Bahn zu werfen, da sie Ai nach vorn stieß. »Ai, entschuldige dich vernünftig! Sag ihm, was du falsch gemacht hast!«

»Ich... also...was... hab ich denn falsch gemacht, Mama?«, fragte sie verwirrt. »Onkel war böse zu mir und hat mir Schimpfwörter gesagt. Ich hab doch nichts gemacht! Er muss sich bei mir entschuldigen!«

»Das Mädchen ist noch dümmer als ich dachte«, sagte mein Vater und lachte trocken und freudlos auf. »Aber daran ist die fehlende Erziehung ihrer nutzlosen Eltern wohl schuld. Keine Manieren wie ein Schwein, dumm und hässlich. Wie soll sie so später im Leben Erfolg haben? Einen Mann finden? In diesem Haus lief lang genug alles schief. Das wird sich ab jetzt ändern.«

Niemand wagte es ein Wort zu sagen. Wenn mein Vater sauer wurde und mit seinen verbalen Angriffen anfing, sollte man ihm auf keinen Fall in die Quere kommen. Sonst wurde er nur wütender und man bekam seine Wut ab. Das wusste jeder, bis auf Ai, die trotzig aufstampfte, während sich in ihren Augen kleine Tränen sammelten. Damit würde sie die anschließenden Probleme für ihre Eltern nur schlimmer machen...

»I... ich bin... nicht hässlich...«, sagte sie und versuchte dabei tapfer zu wirken. »Ich bin... süß und... hübsch. Das sagen Mama und Papa immer!«

»Weil sie genau wie du lügen.« Mein Vater hatte defintiv mehr Geduld mit ihr als mit sonst wem. Und ich konnte mir denken, warum...

»Ich hab nicht gelogen!«, schrie Ai.

»Du warst übersät mit Schokolade von diesen Keksen, du dummes Balg.«

»Das war Naomi! Sie hat die Kekse gegess...!«

Ein Klatschen ertönte, das Ai komplett verstummen und mich von meinem Stuhl aufstehen ließ. Es war jedoch nicht mein Vater, der sie geohrfeigt hatte, sondern ihre Mutter, die am ganzen Körper zitterte. Ihre Tochter schien viel zu schockiert, um auf den Schmerz zu reagieren. Stattdessen sah sie ihre Mutter aus großen, glassigen Augen an. Das war nicht nur das erste Mal, dass sie einige Beleidigungen abbekam, sondern auch ihre erste Ohrfeige überhaupt.

»Du hörst... auf der Stelle auf... zu lügen«, sagte diese und betonte dabei jedes Wort. »Sag sofort die Wahrheit.«

»Mama..., wieso... h...«, stotterte Ai überfordert und schien zurück weichen zu wollen, doch wurde sofort eisern festgehalten.

»Sag die Wahrheit, Ai.«

»Lass... mich. Ich... hab doch... nur einen Keks gegessen...«

Dafür kassierte sie eine weitere Ohrfeige... Ich fing an zu zittern, als ich bemerkte, wie ihre Welt gerade zusammenbrach und versuchte so gut es ging ruhig weiter zu atmen. Doch ich konnte... nichts machen... Auch Raiko schien unglaublich schockiert darüber zu sein. Ihre kleine Schwester hielt sich ängstlich und immer noch starr vor Schreck ihre Wange, über die nun große Tränen floßen.

»Du bist eine widerliche Lügnerin und nicht brav«, sagte ihre Mutter mit fester Stimme und schüttelte sie dabei heftig.

»Mama... du... tust mir... weh«, weinte Ai brüchig.

»Entschuldige dich. Sofort.«

»E... Es tut mir... leid...«

»Gut. Ab heute laufen die Dinge anders, verstanden?«

Sie nickte hastig und versuchte ihre Tränen aus ihrem Gesicht zu wischen, die jedoch immer wieder nachkamen. Zufrieden presste ihre Mutter die Lippen aufeinander und stand auf. Mein Vater schien fast positiv überrascht zu sein, sodass ich jetzt erst begriff, warum sie es gemacht hatte.

»Lasst uns jetzt essen«, sagte mein Onkel, als wäre nichts passiert und lächelte, was ich... absolut abartig fand.

Als hätten sie gerade nicht ihrer eigenen Tochter, die sie selbst so geformt hatten, etwas unglaublich Wichtiges genommen und sie verletzt...

Und meine Tante lächelte ebenfalls. »Sehr wohl. Setzt euch...«

»Nein«, stoppte sie mein Vater und deutete auf die immer noch weinende Ai, die schluchzend versuchte auf einen Stuhl zu klettern. »Sie isst wegen euch wie ein Schwein. Ich möchte nicht, dass mir das Essen wieder hochkommt.«

»Das stimmt. Wer sich nicht benehmen kann, darf nicht in Gesellschaft essen. Du isst allein in deinem Zimmer«, sagte meine Tante sofort und nickte heftig.

Eine Ja-Sagerin. Sie war noch nie vorher eine Ja-Sagerin gewesen. Und jetzt schien sie praktisch auf Kommandos zu warten. Entsetzt und mit einem Tränen überströmten Gesicht, sah Ai ihre Mutter an.

Sogar ich hatte das absolute Bedürfnis gerade, sie in den Arm zu nehmen. Wie konnten ihre Eltern ihr sowas antun...? Im Gegensatz zu mir hatten sie eine Wahl...

»Aber, Mama... i... ich... mö... mö... möchte mit euch... essen...«, weinte sie.

»Keine Widerrede. Geh in dein Zimmer.«

Meine Welt begann sich ab diesen Punkt zu drehen. Die Tatsache, dass ich stand, bemerkte ich erst jetzt... Etwas unkoordiniert umklammerte ich den Stuhl. Ich hatte irgendwann vergessen, auf meine Atmung zu achten...

»Naomi?«

»Ich will aber nicht!«, schrie Ai und schluchzte laut auf.

Ich kniff die Augen zusammen.

»Naomi, setzt dich wieder.«

»Zwing mich nicht dich...«

Den Rest des Satzes meiner Tante, bekam ich nicht mehr mit, da meine Beine in diesem Moment nachgaben, wofür ich mich selbst unglaublich verfluchte. Aber schlimmer war meine Machtlosigkeit in diesem Moment, da es nun klar war...

Die Realität hatte Ai jetzt ebenfalls eingeholt.

Und das unglaublich grausam und heftig.
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»Ihr Bluthochdruck hat verrückt gespielt, aber ansonsten ist alles in Ordnung. Es war nur ein weiterer kleiner Schwächeanfall. Sie muss sich schonen, dann wird sie sofort wieder auf die Beine kommen«, hörte ich eine Stimme sagen, rührte mich jedoch nicht, damit sie dachten, dass ich schlief.

Und ich keinen Ärger bekam.

Die Sicherheit meines Bettes erinnerte mich glatt an mein kindliches Denken damals, dass die Monster der Dunkelheit mich nicht bekommen könnten, wenn ich unter meiner Bettdecke lag. Es war wirklich albern gewesen...

Als Kinder hatten wir einen Art Tunnelblick, der in Zuckerwatte gehüllt war. Unsere Eltern waren unsere größten Helden, jede Kleinigkeit, die wir bekamen, löste bei uns unglaublich viel Freude aus und der Satz, dass der Tag der beste Tag unseres Lebens gewesen wäre, kam uns sehr oft über die Lippen. Wir hielten uns für besonders und mächtig, um uns selbst zu schützen und bezogen vieles auf uns. Erst allmählich lernten wir, dass nicht alles nach unserem Willen lief und lernten dann auch damit langsam umzugehen. Doch je stärker unsere Scheinwelt ausgeprägt war, desto schlimmer war dieser Prozess, vor allem, wenn er nicht behutsam verlief.

Und in Ais Fall war es wahrscheinlich einer der schlimmsten gewesen.

Sie hatte nicht nur plötzlich ihren Willen nicht mehr bekommen, sondern wurde zum ersten Mal auch verbal misshandelt. Etwas, woran sie sich gewöhnen würde, aber was sie nicht sollte. Ob man sich daran gewöhnte oder nicht, es änderte nichts an der Tatsache, dass es schmerzte oder erheblich das Erleben und Verhalten beeinflusste.

Die Stimme meines Vaters klang fast schon fremd, als er dem Arzt antwortete, den er scheinbar zu unserem Haus bestellt hatte und sich von ihm verabschiedete. Ich fragte mich, wer mich in mein Zimmer getragen hatte. Keiner der Anwesenden schien normal genug dafür zu sein und einmal mehr bemerkte ich, wie kaputt meine Familie doch mittlerweile eigentlich war.

Wäre meine Mutter noch hier, würde es ganz anders laufen. Obwohl sie diejenige war, die sie kaputt gemacht hatte. Das sagte mein Vater stets.

Beinahe wäre ich zusammengezuckt und hätte mich verraten, als ich seine Hand plötzlich auf meinem Oberarm spürte, womit ich nicht gerechnet hatte. Berührungen von ihm waren normalerweise nur gewalttätiger Natur und hatten selten einen anderen Hintergrund.

»Es ist nicht deine Schuld, Naomi«, sagte er überraschenderweise. Ob er wusste, dass ich wach war? Nein, dann würde er dies defintiv nicht sagen. »Das Verhalten dieses peinlichen Haufens ist wirklich stressig. Aber keine Sorge, das wird sich ändern.«

Meine anfängliche Erleichterung verschwand bei seinem letzten Satz. Es verkündete Unheil, deshalb hoffte ich sehr, dass ich mich irrte und seine Maßnahmen... eine positive Wirkung haben würde.
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Als ich am nächsten Tag aufwachte, stellte ich fest, dass man nicht einmal versucht hatte mich für die Schule zu wecken. Es war bereits elf Uhr, also hieß es wohl, dass ich für heute krankgeschrieben war. Ich lauschte angestrengt, um herauszufinden, wie sich alles gestern noch entwickelt hatte, auch wenn dies wahrscheinlich eher so nicht herauszufinden war. Doch im ganzen Haus schien es ruhig zu sein. Raiko und Ai müssten in der Schule sein, während mein Onkel nun die Seniorengruppe im Dojo unterrichtete und meine Tante auf der Arbeit war. Also verlief alles normal... Das war gut. Ich hatte die Befürchtung, dass er sie feuern würde oder sonst was, eine Drohung, die sie oft zu hören bekommen hatte.

Erst dann fiel mir ein, dass ich das Baseball- und das Basketballspiel meiner Klasse verpasste. Ich drehte mich auf meinen Rücken und starrte seufzend an die Decke. Ich hätte gern zugeschaut. Einfach, um mich abzulenken und um Karma beim Spielen zuzuschauen. Ich war mir sicher, dass er gut sein würde, so wie er es in fast allem war...

Selbst im Küssen...

Ich kicherte bei diesem Gedanken leicht und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Die Freude über den Kuss war gestern in Vergessenheit geraten, aber jetzt war die Erinnerung nicht nur schön, nein, sie tröstete mich auch. Seltsamerweise kam mir der Gedanken, dass es eine meiner wenigen eigenen Entscheidungen war, die ich treffen durfte. Scheinbar wollte mein Vater jetzt auch noch entscheiden, mit wem ich mich anfreundete...

Die Entscheidung Karma zu küssen, hatte mich glücklich gemacht. Sehr sogar. Es hatte sich so gut und so richtig angefühlt. Ich bezweifelte, dass es sich für ihn richtig angefühlt hatte, aber vielleicht hatte er es aufgrund seiner Hormone genossen. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum er das Mädchen, das er absolut nicht leiden konnte, zurückküssen würde.

Ich war so glücklich, dass sogar dieser Gedanke mich nicht betrübte... Karma Akabane, was hast du nur mit mir angestellt?

Ein leises Klopfen an der Tür sorgte dafür, dass ich mich erschrocken aufsetzte. Ich dachte, ich wäre allein, doch Raiko öffnete die Tür und lugte kurz hinein. Ich sah sofort ihre leicht geröteten Augen, was zeigte, dass sie geweint hatte. Etwas, was sie nie machte.

Ich hatte mich geirrt. Es war alles nicht normal verlaufen, wie ich es angenommen hatte.

Sie öffnete die Tür ganz und trug ein Tablet hinein, das sie wortlos auf meinen Schoß absetzte.

Frühstück ans Bett...

Es verlief alles absolut nicht normal.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich Raiko, die gerade wieder gehen wollte und dann innehielt. Sie sah kurz in den Flur, bevor sie die Tür schloss und sich zu mir wandte.

»Mom will, dass du isst, um wieder zu Kräften zu kommen, damit dein Vater nicht mehr sauer ist«, erklärte sie mir ungewöhnlich ruhig und mit gesenkter Stimme. Ich nickte kurz verstehend. »Wir durften nicht in die Schule, weil sie mit uns neue Regeln besprechen wollten. Besonders wegen Ai...«

»Ist... etwas passiert...?«, wollte ich besorgt wissen.

Raiko seufzte, lief auf mein Bett zu und setzte sich. »Sie dachte wohl, dass alles wieder normal sein würde. Sie hatte einen... heftigen Wutanfall, weil heute ihr Ausflug ist und sie unbedingt mit wollte und wurde wieder eingesperrt. Erst nach zwei Stunden hat sie aufgehört...«

Die Kleine würde sich defintiv schwer damit tun, dass sie nicht mehr ihren Willen bekam...

»Jetzt muss sie hundert Mal den Satz "Ich bin eine Lügnerin" aufschreiben«, fuhr Raiko fort. »Dein Vater hat meinen Eltern für diesen Monat die Mittel um die Hälfte gekürzt. Er sagte, wenn Ai sich beim nächsten Mal nicht besser verhält, er Mom kündigen würde. Jetzt ist sie... noch angespannter als zuvor.«

»Das ist nicht gut«, murmelte ich.

»Wem sagst du das...«

»Sie sind gleichzeitig jedoch... selbst schuld. Wie oft hat Ai Probleme gemacht und sie haben ihr... einfach ihren Willen gegeben?«

»Ich weiß.« Raiko sah mir direkt in die Augen. Das war etwas, wofür ich sie bewunderte. Sie hatte eine sehr starke Seite. »Ais Energie hat sie genervt, also haben sie ihr direkt keine Regeln und Grenzen gesetzt. Gleichzeitig haben sie sie verwöhnt... Sie sind selbst schuld, dass sie sich nicht benehmen kann und die Aktion gestern war ja mal sowas von peinlich! Meine Mutter dachte echt, dass wir so bezaubernd aussehen würden, dass dein Vater bemerken würde, wie gepflegt wir seien und was für eine gute Mutter sie sei und er Ai die Entschuldigung einfach nicht abschlagen könnte, wenn sie ihr Engelsgesicht aufsetzt. Dabei weiß sie doch, wie rücksichtslos er sogar dich behandelt! Er würde ganz bestimmt nicht ein kleines Mädchen ins Herz schließen, nur weil es mit den Wimpern klappert, wenn er sogar seine eigene Tochter für absolut jede Kleinigkeit bestraft. Schon gar nicht, wenn es so aufgesetzt war. Mom hat ihr fünf Packungen Kekse versprochen, wenn sie das sagt. Vorher hat sie sich geweigert und...«

»Deine Mom kann ihre Fehler nicht zugeben«, unterbrach ich sie leise. Ihre Worte taten weh, obwohl ich wusste, dass sie recht hatte. »Sie hat so ein großes Bedürfnis nach Kontrolle, dass sie sogar versucht zu kontrollieren, wie die anderen sie wahrnehmen. Im Grunde seid ihr zwei ihr auch egal..«

Raiko schwieg. Ihre Worte hatten tatsächlich ziemlich weh getan, doch sie war nur ehrlich gewesen und das wollte ich auch sein.

»Und mein Vater ist ein Angsthase«, sagte sie ebenso leise. »Ich dachte immer, du wärst der Loser, der sogar von seinen eigenen Eltern nicht geliebt wird, aber eigentlich... ist es bei uns nicht besser...«

Dieses Mal sagte keiner mehr etwas. Ich wollte es nicht verneinen, jedoch auch nicht bestätigen. Wir hatten beide Eltern, denen Ansehen wichtiger war als unser Wohlbefinden. Ich hatte mich noch nie von Raiko ansatzweise verstanden gefühlt, sie schien ja nicht einmal zur Empathie fähig, aber nun hatten wir eine sehr unschöne Gemeinsamkeit.
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Ich aß nachdenklich, nachdem Raiko wieder gegangen war und nutzte die Zeit danach, um mich wirklich mal auszuruhen. Dafür las ich jedoch eines der Schullektüren für English, die uns Koro-Sensei wärmstens empfohlen hatte. Von Bitch-Sensei konnte man solche Empfehlungen leider nicht erwarten.

Am Nachmittag klopfte es jedoch dann zum zweiten Mal an meiner Tür und wieder war es Raiko, die ihren Kopf hineinsteckte, wobei sie mich dieses Mal mit großen, überraschten Augen und einem fast schon neugierigen Glitzern ansah.

»Naomi, du hast Besuch«, sagte sie und trat scheinbar zur Seite, um den Besuch durch zu lassen.

Ich saß in meinem Schlafanzug bestehend aus einem alten Hoodie und kurzen Shorts mit halbherzig zusammengebundenen Haaren und einem Buch also auf meinem Bett, als Karma mein Zimmer betrat und mein Herz komplett vor Aufregung zerstörte, sodass es mich nicht wundern würde, wenn ich auf der Stelle wieder bewusstlos wurde. Was genau machte er denn hier...?! Gleichzeitig sah er sich so gelassen um, als wäre es das normalste auf der Welt, während meine Cousine die Tür mit einem letzten erwartungsvollen Blick schloss. Mich würde es nicht wundern, wenn sie wusste, wer genau Karma eigentlich war. Sein Ruf eilte ihm defintiv voraus. Und er war nicht gerade positiv. Doch gleichzeitig wurde er von vielen, selbst von den Mädchen aus meiner Klasse, als sehr attraktiv eingestuft.

Ich sah ihn fragend an, unfähig zu sprechen. Mein Blick blieb kurz an seinen Lippen hängen, deren Gefühl ich mittlerweile kannte und kaum mehr abschütteln konnte. Es machte mich tatsächlich nervös. Das war das erste Mal nach dem Kuss, dass ich ihn wiedersah. Ich hatte keine Ahnung, ob er mir meine Handlung nicht doch übel nahm. Unsicher fuhr ich mir über den Arm und wartete darauf, dass er mir den Grund seines Besuches erklärte. Hoffentlich war es nicht Rache... Dafür hatte ich gerade keine Nerven.

»Dein Zimmer ist noch mädchenhafter als ich erwartet habe«, sagte er spielerisch.

Ich legte den Kopf schief. Was auch immer er damit sagen wollte... Ich verstand es nicht. Mein Zimmer war ein ganz normales Mädchenzimmer, in meinen Augen. Vielleicht fand er ja meine komplett weißen Möbel ungewöhnlich...? Ob er sowas nicht kannte? Jetzt war ich nur noch verwirrter. Er war defintiv nicht hier, um meinen einzigen Wohlfühlort zu kritisieren, oder? Wobei... es war Karma... sowas würde er wahrscheinlich tatsächlich bringen, nur um jemanden zu ärgern.

Er bemerkte meinen Blick und verdrehte fast schon genervt die Augen.

»Schau nicht so blöd«, sagte er und setzte sich seufzend auf den Rand meines Bettes. Ganz zu meiner Überraschung. Er verhielt sich viel zu natürlich, während mein Herz ziemlich schnell schlug. Sich einfach so neben mir auf mein Bett setzen... als wäre es das normalste auf der Welt. Dann öffnete er seine Tasche und fing an darin herumzukramen. »Du bist diejenige, die schon wieder krank ist. Um ehrlich zu sein glaubte ich, dass du eigentlich schwänzt. So schnell wieder krank zu werden, ist echt eine Meisterleistung. Aber wer schwänzt, wäre nicht so blöd und würde ein langweiliges Buch für die Schule lesen. Hast du eigentlich jemals Spaß in deinem Leben?«

Karma blickte kurz über seine Schulter, bevor er wieder in die Tasche sah. Ich ignorierte seine Frage.

»Mein Kreislauf hat Probleme gemacht«, sagte ich knapp.

»Sollte man sich dann nicht schonen?«

»Lesen ist keine Extremsportart, Akabane. Jedenfalls nicht für einen normalen Menschen. Wie es bei dir aussieht...«

»Ich kann mit deinen Unterlagen auch einfach wieder gehen«, drohte er.

Es wirkte. Ich presste meinen Lippen zusammen. Doch viel mehr überraschte es mich, dass er sie mir überhaupt vorbei brachte. Deshalb war er also hier... und gleichzeitig erklärte es absolut nicht, wieso gerade ER hier war. Wieso brachte sie mir nicht jemand anderes? Klar, mit den anderen war ich auch nicht unbedingt gut befreundet, doch sie waren besser auf mich zu sprechen als Karma, der gefühlt jede Stunde einmal erwähnen oder zeigen musste, dass er mich nicht sonderlich gut leiden konnte. Oder überhaupt leiden konnte.

»Hier, Streberin«, sagte er und hielt mir einen Stapel Zettel entgegen.

Dankend nahm ich ihn an, musterte jedoch Karma, statt mir den Lernstoff anzuschauen. Er sah so süß aus. Meine Gefühle schienen nach unserem Kuss ziemlich verrückt zu spielen... Sie fühlten sich intensiver an, was ich vorher nicht für möglich gehalten hatte. Klar, ich war verknallt, doch gleichzeitig schien sich dieses Gefühl weiter zu entwickeln.

Vielleicht irrte ich mich ja... vielleicht gingen meine Gefühle für ihn über eine einfache Rebellion gegen diese konstante Kontrolle in meinem Leben hinaus? Vielleicht... waren sie noch echter, als ich es gedacht hatte...? Das war einerseits schön, andererseits... wäre dies absolut nicht gut.

Ich wusste schließlich, dass es für uns niemals eine Zukunft geben könnte. Nicht nur, weil Karma meine Gefühle nicht erwiderte...

»Wie liefen die Spiele heute?«, fragte ich, da ich noch nicht wollte, dass er wieder ging. Es war schön ihn zu sehen, nach allem, was gestern passiert war. Wahrscheinlich war das absolut merkwürdig, doch irgendwie baute mich seine Anwesenheit auf.

»Die Mädchen haben verloren. Wir wiederum haben die Baseball AG geschlagen. Du hättest ihre dämlichen Gesichter sehen müssen.«

Ein teuflisches Grinsen bildete sich auf seinem Gesicht und man konnte ganz klar die Genugtuung aus seiner Stimme heraushören, weshalb ich leicht lachen musste. Genau in diesem Moment verschwand sein Grinsen jedoch und er starrte mich schweigend an. Fragend runzelte ich die Stirn.

»Ist etwas?«

Karma schüttelte den Kopf und schloss seine Tasche. Er wollte bereits wieder gehen... Natürlich.

»Hat Koro-Sensei dir gesagt, dass du mir die Unterlagen vorbeibringen sollst?«, fragte ich, als er sich erheben wollte.

»Ist das so wichtig, ob dein geliebter Koro-Sensei an dich gedacht hat?«, fragte Karma mit einem belustigten Schnauben.

»Nein... Ich... ich bring dich zur Tür.«

Es hatte nicht geklappt. Er würde sofort wieder gehen. Also wollte ich wenigstens ein paar Sekunden länger mit ihm haben. Wenn ich so weiter machte, würde er meine jämmerlichen Versuche, Zeit mit ihm verbringen zu wollen, bemerken. So schlug ich meine Decke zur Seite und stand mit ihm auf, wobei er mich verständnislos ansah. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich doch bereits etwas zu auffällig verhalten hatte...

»Es ist höflicher«, sagte ich und wich seinem intensiven Blick aus.

»Seit wann ist dir Höflichkeit wichtig, Eiskönigin?«

Diesen Ruf würde ich wohl niemals los werden... Dabei wollte ich nicht einmal emotionslos wirken. Das war nicht meine Intention gewesen.

»Schon immer«, sagte ich daher und verschränkte die Arme vor meiner Brust.

»Hast du etwas Ansteckendes?«

Verwirrt über seine Frage, blickte ich ihn an und bemerkte, dass er mich immer noch anstarrte. Das war ihm ernsthaft wichtig? Als ob ihm mein Wohlbefinden überhaupt interessierte...

»Nein, es war wie gesagt nur mein Kreis...«

Weiter kam ich nicht, da er einen Schritt auf mich zugetreten war. Bevor ich überhaupt reagieren konnte, presste er seine Lippen plötzlich einfach wortlos auf meine. Einfach so. Ohne Vorwarnung.

Meine Augen weiteten sich absolut schockiert, überwältigt und verwirrt zugleich. Ich wollte mich bewegen, ich wollte den Kuss sowas von erwidern, doch irgendwie sprang mein Gehirn nicht an, bevor der Kuss auch schon wieder vorbei war. Das war viel zu kurz gewesen... viel zu kurz, um ihn richtig zu genießen... Es war Karmas Grinsen, das mich aus meiner Trance riss, aber ich brauchte dennoch drei Anläufe, um ein einziges Wort herauszubringen.

»W... w... warum...?«

Er zuckte mit den Schultern. »Du hast damit angefangen. Außerdem hat es keinen Grund, außer, dass es sich wirklich gut anfühlt. Das reicht doch, oder?«

Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, herunter und ignorierte den schmerzhaften, nicht physischen Schlag, den ich plötzlich in meiner Magengrube verspürte. Es hatte ihm gefallen. Aufgrund seiner Hormone und Bedürfnisse... Das war alles. Er hat Gefallen daran gefunden, weil er ein Teenager in der Pubertät war und ich ein Mädchen. Für mich war es jedoch... so viel mehr...

»Du bist also ein Perversling«, sagte ich, um die Situation schnell zu überspielen.

Ich hatte Angst, dass man mir meine Enttäuschung anmerken konnte. Gerade fiel es mir ziemlich schwer, meine Gefühle zu überspielen und meine unbeeindruckte Maske wieder aufzusetzen. Das war gerade vor Karma kontraproduktiv. Er sollte nicht bemerken, dass es mich - verständlicherweise - verletzt hatte.

»Sagte diejenige, die mich als erstes geküsst hat«, meinte er fast schon tadelnd. Wieso ging er so gelassen damit um...? War er nicht rot geworden? Und jetzt... schien er mit diesem Thema absolut keine Verlegenheit mehr in Verbindung zu bringen. Er verhielt sich so natürlich wie immer, wenn er jemanden aufzog. »Was genau bist du dann? Ich jedenfalls bin ich ehrlich. Ich war schon seit einer Weile neugierig darauf, wie sich diese... Erfahrungen mit einem Mädchen überhaupt anfühlen und ich muss zugeben, dass es mir gefällt, obwohl du es bist.«

Ich fragte mich ernsthaft, ob der letzte Teil des Satzes wirklich so notwendig gewesen war... Aber wenn er wusste, wie sehr es mich verletzte, würde er lediglich nur noch mehr darauf herumhaken, also ließ ich es mir nicht anmerken. Er durfte auch auf keinen Fall bemerken, wie besonders er und die Küsse für mich waren.

»Daran sind wohl die Hormone schuld«, meinte ich schlicht und so gelassen wie möglich.

»Das denke ich auch«, sagte er amüsiert.

»Und darauf bist du stolz?«

»Es ist doch etwas ganz natürliches. Wieso sollte man sich dafür schämen?« Karma sah mich leicht skeptisch an, bevor er lachend den Kopf schüttelte. »Sag mal, wieso hab ich das Gefühl, dass du dich plötzlich dafür schämst, obwohl du damit angefangen hast?«

Er hatte mein Verhalten falsch gedeutet. Zum Glück. Das ist gerade nochmal gut gegangen. Ich hatte meine Gefühle also noch im Griff.

»Das tu ich nicht«, sagte ich nun deutlich gefasster. »Es ist natürlich. Und würde ich mich dafür schämen, hätte ich es nicht gemacht. Außerdem hast du dadurch verloren.«

»Verloren?«, wiederholte er ungläubig. »Du hast mich nicht bewegungsunfähig gemacht. Ich hätte gewonnen, wenn du nicht zu diesem unfairen Mittel gegriffen hättest.«

Unfairen Mittel...

Ich konnte nicht anders. Es entlockte mir ein Lachen, das ich jedoch sofort wieder in den Griff bekam, als ich bemerkte, wie Karmas Gesichtszüge sich etwas entspannten. Ich wusste nicht, wie ich dies einordnen sollte, doch eins war klar; es hatte keine besonders förderliche Wirkung auf mich.

»Niemand hat gesagt, dass wir fair kämpfen«, zitierte ich ihn und lehnte mich leicht gegen meinem Schreibtisch, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. »Das hast du doch selbst gesagt, Akabane, oder?«

Selbst seine Nähe brachte mich aus dem Konzept...

Seine Mundwinkel zuckten leicht nach oben, was nichts gutes verhieß. Ich wollte ihn damit aufziehen und ebenfalls ärgern, doch es schien absolut nicht zu funktionieren. Im Gegenteil. Er sah gerade sogar noch selbstbewusster aus als zuvor.

»Das hab ich«, bestätigte er mir. »Dementsprechend hat keiner von uns beiden gewonnen, weil du geschummelt hast. Also hätte ich da ein kleines Angebot für dich, Naoko...«

Abwartend sowie verwirrt zugleich, sah ich ihn an und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Innerlich machte ich mich gerade auf die nächste Gemeinheit bereit, da sein Verhalten gerade viel zu selbstsicher wirkte. Als würde er irgendetwas im Schilde führen...

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