✔Kapitel 1
Kapitel 1
1 ... 2 ... 3 .... dreimal strich Harry über seine Bettdecke, damit er zufrieden war. Sein Kissen am Kopfende mit genau fünfzehn Zentimeter Abstand auf jeder Seite zum Rand seines Bettes. So mochte es Harry. Wenn sein Bett nicht akkurat gemacht war, ging er nicht aus dem Haus.
Sein Wecker klingelte zuvor, wie jeden Morgen, um genau 6:23 Uhr. Nachdem er sich geduscht und für die Schule zurechtgemacht hatte, ging er nach unten in die Küche, um mit seiner Mutter Anne und seiner Schwester Gemma gemeinsam zu frühstücken.
"Guten Morgen, Schatz", grüßte ihn seine Mutter mit einem liebevollen Lächeln. Nach einem schnellen "Morgen" seinerseits setzte er sich auf seinen Stuhl, den er schon seit 8 Jahren benutzte. Anne wollte den Stuhl schon längst entsorgen, da er alt, die Farbe verblasst und das Holz rissig war. Aber Harry bestand darauf, seinen Stuhl zu behalten, und kein anderer durfte ihn benutzen.
Für Anne und Gemma war es am Anfang nach Harrys Diagnose von Asperger nicht einfach. Harry war gerade mal vier, als der Arzt seinen Eltern das Ergebnis mitteilte. Schon längere Zeit hatte Anne sich Sorgen gemacht, weil Harry anders war als die Kinder ihrer Freundinnen und die der Nachbarn. Harry spielte meist allein, ruhig in einer Ecke. Er malte gern oder schaute sich mit einer Lupe den Ameisenhügel hinter ihrem Haus an. Tiere und Natur waren für Harry interessantere Spielgefährten als die Menschen um ihn herum. Am Anfang dachte Anne noch, dass Harry einfach nur schüchtern war oder ein Einzelgänger, aber am meisten fiel ihr auf, dass Harry körperliche Nähe nicht mochte und anderen Menschen grundsätzlich nicht in die Augen schauen wollte oder konnte.
Daraufhin hatte sie sich an Doktor Miller gewandt und diesen um Rat gefragt. Eine Woche und unzählige Tests später bekam sie dann die Diagnose. Asperger. Anne wusste nichts darüber, hatte keine Ahnung, wie sie mit ihrem Sohn umgehen sollte. Im Laufe der Jahre entwickelte Harry noch einige Zwangsstörungen und es brauchte viel Zeit, um damit umgehen zu können.
Aber Anne und Gemma hatten viel dazugelernt und jetzt, wo Harry bereits 18 war, kamen alle gut miteinander aus.
Harry aß sein Frühstück, Rührei mit Speck, wie jeden Morgen. Etwas anderes wollte er nicht.
"Guten Morgen, Hazza", begrüßte ihn nun auch seine Schwester und betrat die Küche.
"Morgen, Gemma. Du warst nicht hier", grummelte Harry, während er eine weitere Gabel seines Frühstücks in den Mund schob. Gemma schaute ihn verwundert an. "Was meinst du, Harry ?", fragte sie, während sie sich Kaffee in ihre Tasse mit der Aufschrift 'Best Sister of the World' goss. Harry hatte sie einmal vor vielen Jahren für sie gemacht, als er einen Töpferkurs besuchte. Sie war schief und etwas unförmig, aber als Harry ihr an diesem Abend stolz sein Kunstwerk zeigte, hatte sie sich sofort in die Tasse verliebt und benutzte sie seitdem jeden Morgen. "Du warst nicht hier, du hättest hier sein sollen, wie bei jedem Frühstück." Gemma überlegte noch kurz, bis sie endlich verstand, was Harry ihr damit sagen wollte. "Hazza, das tut mir leid, ich habe verschlafen und brauchte länger im Bad. Ich bin eine Lady und muss mich doch hübsch machen und schminken, das braucht seine Zeit. Aber ich verspreche dir, dass ich morgen früh wieder am Tisch sitze, wenn du in die Küche kommst, okay?" Harry nickte. "Okay, aber ich finde, du brauchst keine Schminke, Gemma. Du bist auch so schön." Mit einem breiten Grinsen ging Gemma auf Harry zu und wuschelte durch seine braunen Locken. "Lass das", fauchte er und schaute seine Schwester, die noch immer breit grinste, böse an. "Ach Haz, du bist so süß. Danke für das Kompliment. Ich muss jetzt los. Bis später. Bye Mum, bye Harry." Ohne noch eine Antwort abzuwarten, lief sie auch schon aus dem Haus und schloss die Tür mit einem lauten Knall hinter sich.
"Soll ich dich fahren, Schatz?", fragte Anne, während sie Harrys Frühstücksteller in die Spüle stellte. "Nein, Mum, ich möchte laufen, aber danke." Harry schnappte sich sein Frühstücksbrot inklusive einem Apfel und steckte alles in seine Schultasche. Dann zog er seine Jacke und Schuhe an, bevor er seine Tasche schulterte, seiner Mum einen schnellen Kuss auf die Wange gab und das Haus ebenfalls verließ.
Die kühle Septemberluft umhüllte Harry, als er durch die Straßen seiner Nachbarschaft ging. Fest schlang er seine Arme um seinen Körper, um sich zu wärmen, doch viel half es ihm nicht. Er hätte sich eine wärmere Jacke anziehen sollen, dachte er sich und betrachtete die Bäume, die sich über seinen Kopf erstreckten. Die Blätter waren bereits in Gelb- und Rottöne getaucht, was bedeutete, dass sie bald von den Bäumen fallen werden. Harry mochte den Herbst, ihn faszinierte das Farbenspiel, was ihn um diese Jahreszeit geboten wurde. Gern würde er jetzt ein paar Blätter aufsammeln, um sie für seine Sammlung, die er zu Hause aufbewahrte, zu nutzen. Er liebte das Muster der verschiedenen Blätter. Stundenlang könnte er sie sich anschauen. Kein Blatt glich dem anderen, sie waren individuell wie ein Fingerabdruck. Aber jetzt hatte er keine Zeit dafür, er musste zur Schule. Deswegen beschloss er nach Schulschluss ein paar Blätter mitzunehmen.
Harry ging jeden Morgen den gleichen Weg. Die Lange Christel Lane entlang hinüber zum Park, der zu einer großen Kreuzung führte. Doch er benutzte den Zebrastreifen nicht, der ihn nur wenige Meter von seiner Schule trennte. Harry mochte keine Zebrastreifen, sie erschienen ihm unheimlich und machten ihm Angst. Also lief er die Straße weiter zu einer Ampel in der Bakerstreet und benutzte diesen Weg. Dadurch brauchte er zwar fünf Minuten länger bis zur Schule, aber das war Harry egal, er fühlte sich so sicherer.
Als er an seiner Schule ankam, standen schon viele Schüler vor dem Schultor. Sie rauchten, küssten sich oder redeten einfach nur über den vergangenen und den heutigen Tag. Harry verstand nicht, warum die Menschen rauchten und was sie so toll daran fanden. Es schmeckte unangenehm, stank, sah nicht schön aus und machte einen krank. Warum also taten es dann so viele? Harry hatte es einmal probiert, vor ein paar Jahren, ganz heimlich. Er dachte sich, dass die anderen auf seiner Schule ihn dann vielleicht mochten, wenn er das tat. Aber Harry fand es schrecklich, sein Hals brannte schrecklich und er musste stark husten. Nach dieser Erfahrung hatte er beschlossen, dass Rauchen nichts für ihn war, somit war dies seine einzige Erfahrung mit dem glühenden Stängel.
"Hey Freak, bleib mal stehen." Harry kannte diese Stimme. Sie gehörte Louis Tomlinson, dem beliebtesten Jungen seiner Schule. Louis ärgerte Harry manchmal, aber Harry war nicht böse deswegen. Er wusste, dass viele Menschen ihn seltsam fanden und ihn einfach nicht verstanden, aber sollte er deswegen böse sein? Böse sein, weil ein Mensch unwissend war? Nein, das konnte Harry nicht. Er wusste, irgendwann würden sie ihn verstehen und dann mochten sie ihn vielleicht auch ein kleines bisschen. Und auf Grund der Hoffnung auf eine Freundschaft war er stets freundlich zu Louis, auch wenn dieser es meist nicht war.
"Guten Morgen, Louis", grüßte er deshalb freundlich wie immer. "Hast du meine Aufgaben?" Harry nickte, ohne Louis auch nur eine Sekunde anzusehen. Es fiel ihm schwer dies zu tun. Schnell öffnete er seine Tasche und holte die Papiere für Louis heraus, um sie ihm zu übergeben. Das tat er manchmal. Harry war nicht dumm, nein, er war sehr intelligent, was den Schulstoff anging, und das Lernen bereitete ihm keine Probleme. Er wusste, dass Louis auch nicht dumm war, er glaubte, dass Louis einfach keine Lust auf Schule hatte, somit half Harry ihm hin und wieder. "Gib her." Ohne ein Dankeschön riss Louis die Aufgaben aus Harrys Hand und ging ohne ein weiteres Wort in das Schulgebäude.
Harry folgte ihm die Stufen hinauf und blieb vor der Eingangstür stehen. "1,2,3,4,5", zählte er leise und betrat dann das Gebäude. Er musste immer bis fünf zählen, sobald er ein Gebäude oder ein Wohnhaus betrat. Einen anderen Weg gab es für Harry nicht.
Auf einen erfolgreichen Schultag, dachte Harry und machte sich auf den Weg zu seinem Schließfach.
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