Lydia

Ich fuhr auf.

Zuerst dachte ich, ich wäre wieder am Rennen. Weg von dem Schlammmonster, welches immer näherkam, immer lauter wurde, doch es war alles still. Nur der sanfte Wind, den ich aus meinem leicht geöffneten Fenster hören konnte, unterbrach die Stille. Ich lag wieder in meinem Zimmer, sicher vor allem, ausser mir selbst.

Ich hatte gespürt, dass, besonders seitdem ich von Zuhause aufgebrochen war, meine Selbstkontrolle immer kleiner geworden war. Jetzt hoffte ich nur endlich eine Tag ruhen zu können. Ich meine, ich hatte meine Stadt zum ersten Mal in meinem Leben verlassen, hatte eine Prophezeiung empfangen, die besagte, dass ich mit Wildfremden die Welt retten sollte. Ganz nebenbei erwähnte diese auch, dass ein paar von uns nicht überleben würden.

Mir kam ein unwohles Gefühl, als ich wieder daran dachte. Ehrlich gesagt, konnte ich es mir bei keinem vorstellen, einfach so zu sterben. Sie alle waren kampferfahren, und wussten, wie man in der Wildnis überlebte. Etwas, was ich als wohl beschützte und versorgte Prinzessin von Asmea nie gelernt hatte, wenn ich ehrlich war.

Diese letzten Monate waren wohl die ereignisreichsten, die ich jemals erlebt hatte. Zugegebenermassen hatte ich an vielen Orten einen grossen Schrecken bekommen. Doch irgendwie hatte sich dies alles gut angefühlt, so als wären wir als Team unzerstörbar.

Ich hatte endlich gemerkt, dass ich auch ohne den Schutz meines Vaters Dinge vollbringen konnte. Zwar war Astero auch da gewesen, aber ich hatte trotzdem überlebt.

War es wirklich klug, jetzt schon in Euphorie zu geraten? Sofort kamen die Sorgen wieder zurück. Der grösste und schwierigste Teil unserer Reise stand uns noch bevor. Wenn ich realistisch dachte, so waren wir nicht so unbesiegbar, wie ich mir vorstellte.

Hedor und Glann waren wahrscheinlich noch nicht einmal volljährig. Ich und Astero waren erst gerade diesem Alter entwachsen. Nur Arka schien eine Ahnung von dieser Welt zu haben. Sie wusste Dinge, die keiner von uns wissen konnte und trotzdem war sie auf ihre eigene Art verwundbar. Sie hatte die Art einer Einzelkämpferin, welche nie gelernt hatte mit anderen umzugehen. Schon viele waren wegen dieser Einstellung zugrunde gegangen und ich befürchtete, dass ihr dasselbe passieren könnte.

Schon vor dem Schlafen war ich in dieser Spirale von negativen Gedanken stecken geblieben.

Es überraschte mich zu merken, dass ein Teil von mir trotzdem kaum warten konnte wieder hinauszukommen. In die Freiheit, in das Ungewisse. Weit weg von hier, wo ich mich davor fürchten musste, jedem wehzutun. Da draussen hatte ich vor meinen Kräften ich keine Angst gehabt. Ich wusste nicht, ob das gut war, aber ich hatte einige Male mit dem Gedanken gespielt sie zu benutzen und vielleicht sogar kontrollieren zu können. Meine Vorfahren hatten sie auch kontrollieren können. Sie hatten sogar Gutes mit ihnen vollbracht, weshalb könnte ich es ihnen also nicht gleichtun?

Weil du wegen ihr eine Mörderin bist, sprach plötzlich wieder die böse Stimme in meinem Kopf.

Sofort sah ich wieder diese schrecklichen Bilder vor mir. Tote Körper, drei an der Zahl. Rotes Blut aus ihren Mündern tropfend. Augen blutig und die Iris zurückgedreht, sodass nur noch weiss zu sehen war. Ich, alleine auf dem Bett zusammengekauert, noch ein Kleinkind. Doch das Schlimmste war der Blick meines Vaters gewesen, als er im Türrahmen stand. «Was hast du getan?», entsetzte Augen blickten in verängstigte, tränennasse.

Meine Familie war nach diesem Vorfall nie mehr dieselbe gewesen. Mein Vater war abwesend geworden. Nicht nur mir gegenüber, sondern uns allen. Im Gegenteil zu meiner Mutter, welche für einige Zeit nicht einmal zum Schlafen von meiner Seite weichen wollte. Dies war sehr anstrengend, denn nicht nur hatte ich keinen einzigen

Moment für mich, sondern sah ich auch die Angst in ihren Augen, wenn sie mich ansah. Sie fürchtete ihre eigene Tochter, aber ich war schliesslich auch eine Mörderin.

Zum Glück waren da meine Brüder gewesen, welche mich unter ihren Arm nahmen und mich so oft wie nur möglich, so weit weg von der Realität bringen versuchten. Doran, welcher immer versuchte mich zum Lachen zu bringen, und Zeno, der Fürsorgliche. Mit ihm hatte ich die tiefgründigsten Gespräche geführt. Sie waren die wichtigsten Personen in meinem Leben. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihnen etwas passieren würde.

Meine Gedanken wurden von Zeno unterbrochen. Er klopfte an und sagte, dass ich mich schnell bereit machen solle.

Für einen kurzen Augenblick sah ich wieder den Tag vor mir, an dem Tag, an dem ich die Weissagung erhielt. Dieser Tag schien mir vor Jahren passiert zu sein, auch wenn er erst maximal zwei Monate her sein konnte.

Schnell zog ich mir also eine lockere Kleidung, insbesondere lockere Hose und eine dicke Jacke, an. Meinen Dolch, welcher auf dem Nachttisch lag, nahm ich nach kurzem Überlegen doch mit. Man konnte schliesslich nie sicher genug sein, zumindest sagte das mein Vater immer.

Draussen im Flur war dafür, dass es mitten in der Nacht war, überraschend viel los. Soldaten rauschten, sich aufregend unterhaltend, an mir vorbei. Doch sobald ich die Worte «Aufstand» und «erster Ring» hörte, war mir klar, was passiert war.

«Es gibt eine Rebellion», sprach Astero, welcher plötzlich neben mir erschien. «Sie haben unsere Ankunft genutzt. Wegen der Feier waren besonders wenige Soldaten im ersten Ring», redete er weiter.

Nun war es also passiert: Das, vor dem sich mein Vater schon immer gefürchtet hatte. Dabei hatte ihn meine Mutter schon immer dafür missbilligt, einen Teil seines eigenen Volkes so zu misshandeln. Doch Erdulfsen hatte die Wut des ganzen dritten Rings befürchtet, wenn er die tausendjährigen Lehren, dass das Volk mit weniger Kräften unreiner wäre, beenden würde. Stattdessen hat er sie immer ärmer werden lassen, sie weggeschickt nach Rorstanath, wo die Strassen noch dreckiger waren als hier. Kinder waren dort am Verhungern. Die Stadt sei überfüllt, doch das hatte meinen Vater nicht interessiert.

Astero und ich kamen am Haupteingang an, wo mein Vater, meine Brüder und meine Mutter schon von Garden umringt, standen. Der Stadthalter gab gerade seinem obersten Befehlshaber die Order, so viele Soldaten, wie er entbehren konnte, in die Gefahrenzone zu schicken und die Lage zu entschärfen.

Da zog mich Doran zu Seite. «Wir haben noch ein kleines Problem», meinte er. «Deine Kameraden. Wir denken sie sind auch im ersten Ring», überrascht blickte ich ihn an. Wieso würden die drei bitte in den dritten Ring wollen? Da antwortete Astero jedoch schon auf meine Frage: «Ich habe gehört, wie sie sich über die Ungerechtigkeit aufregten.» Dabei blickte er betreten auf den Boden. Er hatte Angst, dass er mit diesen Worten, vielleicht meine Familie anschuldigte. Doch Doran nickte nur. «Ich und Zeno holen sie», meinte er mit der verantwortlichsten Stimme, die er hatte. «Nicht ohne uns», sagte ich sofort. Ich wusste, dass sich Astero besonders um Hedor Sorgen macht. Da beide besonders nahe zueinandergekommen waren, nahm ich an, dass er mitkommen wollte. Mein Bruder schaute mich überrascht an. «Schwesterherz, du hast dich wirklich verändert», sagte nun auch Zeno breit lächelnd. Verdutzt stellte ich fest, dass er recht hatte. Mein altes Ich wäre wohl einfach auf ihr Zimmer gegangen und hätte ein Buch gelesen. Ihr wäre es egal gewesen zu helfen, denn sie wäre sowieso nicht betroffen. Besonders wenn helfen hier bedeutete, dass ich mich unter eine wütende, gewaltbereite Masse trauen musste, von der ich wusste, dass alle mich gerne Tod sehen würden.

So gingen wir also in den Garten hinaus und nahmen die Erste versteckte Tür in den zweiten Ring. Mein Vater dachte wohl, dass meine Brüder mich in Sicherheit bringen würden. Deshalb liess er uns gehen. Ich wollte mir gar nicht ausdenken, wie wütend er werden würde, wenn er erfahren würde, was wir gerade wirklich taten.

Schnell kamen wir im ersten Ring an, wo es überraschend leise war. Nur in der Ferne war wütendes Schreien zu hören. Ich hoffte, dass unsere Gefährten intelligent genug gewesen waren, nicht genau dort hinzugehen. Generell war ich ziemlich genervt, dass sie überhaupt hier hingegangen waren. Ich meine, sie wussten nichts, sie waren seit einem Tag hier und dachten schon alles verstanden zu haben. Es war nicht so einfach wie es aussah. Wenn diese Revolution Erfolg hatte, würde das ganze System, von dem auch sie lebten, zusammenbrechen.

Plötzlich sah ich drei kapuzentragende Gestalten, die über die Strasse rannten und dann wieder verschwanden. Ich war mir sofort sicher, dass sie das gewesen waren, denn die eine Gestalt war ein wenig kleiner gewesen. Zu allem Unglück liefen sie jedoch direkt in die Richtung, aus der die Schreie zu kommen schienen.

«Haltet ein», schrie Doran, als er realisierte, dass sie es gewesen waren. Wir vier fingen an zu rennen, und folgten den drei Gestalten.

Nach einigen Abbiegungen kam ich ihnen endlich näher. Ich wollte nicht zu laut schreien, denn es lagen immer noch Betrunkene herum und es schien mir keine gute Idee, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, auch wenn ich mein Gesicht bedeckt hielt.

Doch da musste ich plötzlich stehen bleiben. Die Verfolgungsjagt war unterbrochen, denn unsere Gefährten waren verschwunden. «Warum rennen sie vor uns weg?», fragte Astero atemlos. «Psst!», meinte ich jedoch. Ich hatte etwas gehört. Aus eine der Seitengassen drang gedämpfte Stimmen und höhnisches Lachen. Sofort drehte ich mich zum Geräusch um. Ich lief langsam darauf zu. Die anderen folgten mir. Ich hatte tatsächlich recht gehabt: In einer breiten Sackgasse standen sie, jedoch nicht alleine. Vermummte Gestalten hielten ihre Münder zu und nahmen ihnen gerade ihre Waffen weg.

Es war klar, dass wir keine Zeit verlieren durften, denn einer der Gestalten hob ein Messer an Hedors Hals. Doch mehr konnte diese auch nicht tun, denn plötzlich stand ein wütender Astero vor ihr und schlug ihr das Messer aus der Hand. Auch meine Brüder kamen in Fahrt, und begannen die anderen zu befreien, und so schnell wie sie gekommen waren, rannten die vermummten Gestalten wieder weg.

Zurück blieben wir, laut atmend und uns in der ungefähr acht Meter breiten Sackgasse umschauend, ob im Schatten der Fässer, die überall herumstanden, nicht noch jemand stand.

Astero half Hedor zu stehen, da dieser eine tiefe Schnittwunde am rechten Bein hatte. Der Feblorianer sah merkwürdig blass aus, was wahrscheinlich am Blutverlust durch seine Verletzung lag. Sie sah nicht tödlich aus, doch trotzdem brauchte sie eindeutig dringend Behandlung.

«Was habt ihr euch bitte gedacht?», fing mein ältester Bruder an zu schimpfen. Seine hellblauen Augen schauten sie hart an und erlaubten keinen Wiederspruch. «Wisst ihr, wie viele sterben werden? Und das für absolut gar nichts». Er wurde immer wütender und immer lauter, und Hedor und Glann schauten betreten zu Boden. Ich konnte an Glanns zusammengeballten Fäusten sehen, dass er nur zu gerne etwas sagen würde. Doch das erledigte Arka schon für ihn. «Diese Leute hätten sowieso angegriffen, auch ohne uns. Im Gegenteil, wir haben versucht sie zu überzeugen, dies alles doch noch friedlich zu lösen, doch sie hörten nicht. Und ausserdem, vielleicht öffnet euer Vater endlich einmal seine Augen für sein Volk», sagte, das um einiges kleinere Mädchen trotzig und schaute mit leicht zusammengekniffenen Augen zu meinem Bruder auf.

Ich sah den Zorn in seinen Augen aufflackern und in diesen Moment erinnerte er mich nur allzu sehr an meinen Vater, und das nicht auf eine gute Art. Ich tauschte besorgte Blicke mit Zeno aus, welcher auf Dorans rechten Seite stand und beruhigend eine Hand auf seine Schulter gelegt hatte.

Da geschah etwas, dass uns schnell wieder ablenkte. Plötzlich stürzten von überall her Gestalten von den Dächern. Sie kamen mit Seilen, an denen sie herunterrutschten. Zwischen ihren Mündern hatten sie gekrümmte Säbel. Schwarze Gesichtsmasken hatten sie an, nur mit zwei Löchern für die Augen.

Sie waren ungefähr zwanzig an der Zahl und sie alle griffen gleichzeitig an. Die Gestalten von vorhin mussten wohl Verstärkung geholt haben.

Wir zogen alle unsere Waffen, wobei ich mich, mit meinen kleinen Dolch, ein bisschen fehl am Platz fühlte. Meine Brüder und Astero versuchten zwar eine Art Kreis um mich zu bilden, doch das funktionierte nicht so gut, denn nach einigen Momenten kam schon eine Gestalt auf mich zugesprungen mit dem gebogenen Messer in der Hand. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also fuchtelte ich nur mit meiner Waffe vor mich herum und kniff meine Augen fest zusammen. Doch als ich mit dem Dolch auf Widerstand traf, öffnete ich schnell meine Augen wieder. Ich hatte tatsächlich in die Waffenhand meines Gegners geschnitten, welcher nun schmerzerfüllt aufheulte.

Leider hielt diese Abwehr nicht lange. Nach wenigen Sekunden nahm mein Angreifer seine Waffe in die andere Hand und kam wieder auf mich zu. Seine dunklen Augen leuchteten boshaft in der Dunkelheit. Doch bevor er irgendetwas tun konnte, schlug ihm plötzlich jemand mit voller Kraft mit einem Schwertknauf auf den Kopf. Mein Bruder Zeno schaute mich beeindruckt an und ich nickte als Zeichen, dass es mir einigermassen gut ging.

Das änderte sich jedoch schnell. Als ich auf den Körper vor mir blickte, sah ich wieder den in meinem Zimmer. Die weissen Augen, das ganze Blut. Die Flashbacks wurden auch nicht besser, als ich Doran sah, welcher seinem Gegner sein Schwert in den Magen stiess, woraufhin dieser zusammenbrach.

Mir wurde schlecht und alles wurde immer verschwommener. Gegner, die die anderen schon erledigt hatten, lagen überall, höchstwahrscheinlich tot, auf dem Boden.

Ich war wieder in meinem Bett, es war das gleiche Gefühl. Dieses Gefühl der panischen Angst, als die drei Eindringlinge hereingekommen waren, um weiss nicht was mit mir zu tun. Ich sah, wie meine Hände zitterten und mein Körper wurde wieder heiss. Verzweifelt versuchte ich mich zurückzuhalten, doch alles wurde so unglaublich laut.

Das Schreien der Sterbenden, es war alles zu viel. Ich war nicht vorbereitet auf solche Situationen. Nicht auf diese ganze Gewalt, auf nichts dergleichen.

Etwas Anderes übernahm die Kontrolle über meinen Körper. Ich liess meine Wut heraus, und schrie laut auf. Etwas in mir hatte sich wieder ausgelöst, etwas das ich seit Jahren eingeschlossen hielt.

Ich musste nur meinen Blick auf meine Gegner lenken, und sofort brachen diese mit Blut aus dem Mund spritzend zusammen, wie aufgewärmte Wachsfiguren. Entsetzt stellte ich fest, dass mich dieser Gedanke irgendwie amüsierte.

Hilflos musste ich zusehen, wie ich schlussendlich alle Gestalten tötete und meinen Blick nun schweifen liess. Und dann passierte es, mein Blick fand ein neues Opfer. In seinen Augen sah ich die Verzweiflung und das Entsetzten. Innerlich schrie ich, ich wollte nicht. Nicht er! Und tatsächlich spürte ich, wie ich wieder Kontrolle bekam, immer mehr.

Doch es war zu spät. Mein Blick war zu lange auf ihm verweilt. Mein Bruder brach zusammen. Ich hatte Doran, den Erben von Asmea, meinen Bruder, umgebracht.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top