Hedor

Astero hatte uns informiert, dass wir zu Fuss wahrscheinlich ungefähr zwei Wochen brauchen würden, bevor wir in Soriath, seiner Stadt, ankommen würden. Für mich schien das eine gute Gelegenheit zu sein, um mit den anderen Kontakt aufzubauen. Schliesslich würde ich mit diesen Leuten einer der wichtigsten Missionen des letzten Jahrtausends beschreiten müssen. Mich interessierte es, wie man in ihren Ländern so lebte, und wie die Kultur dort war.

Glann fing sofort an sich mit Astero zu unterhalten, und Lydia lief vor und schien alleine sein zu wollen. Deshalb liess ich mich zurückfallen, um ein Gespräch mit Arka anzufangen, denn von den beiden anderen Ländern, wusste ich eindeutig weniger von Ustrar als von Asmea.

«Wie war es deine Familie und Freunde zurückzulassen?», versuchte ich das Gespräch so locker wie möglich anzufangen. Sie schaute mich kurz, fast schon abfällig an, bevor sie mit angespannter Miene antwortete: «In Ustrar haben wir keine Familie. Es ist ein Teil unseres Fluches. Wir leben alleine. Nur unsere Panther, unsere Reittiere sind unsere Begleiter».

«In Feblor leben wir in Dörfern und unsere Reittiere sind Nerras», informierte ich sie ein bisschen weniger motiviert, da ich nun wusste, was für ein Leben man in ihrem Land führte.

Ich hatte schon vom Fluch in Ustrar gehört, denn er gehörte zu den bekanntesten Sagen, die sich um das Land spannten. Doch warum es ihn gab, war irgendwie niemanden wirklich klar, aber es wurde gemunkelt, dass das Land irgendeine Mitschuld dafür trug, dass das Böse vor so langer Zeit auf unseren Kontinent gelangen konnte und es deshalb bestraft wurde.

Arka sagte nichts mehr, und nachdem ich für ein paar Minuten unbeholfen neben ihr hergelaufen war, beschloss ich zu meinem Bruder aufzuschliessen. Das Mädchen war mir irgendwie nicht geheuer. Immer wieder drehte sie sich um, so als hätte sie jemanden gehört, oder murmelte irgendetwas unverständliches. Wenn sie mich ansah, hatte ich das Gefühl, dass sie durch meine Augen sah, direkt in mich hinein. Es war ein Gefühl, welches sich nicht erklären liess, jedoch nicht etwas war, was ich wollte.

Den ganzen Tag, liefen wir über hügliges Grasland, bis wir endlich an einen Wald ankamen, der uns ein wenig Schutz bieten konnte, vor allen Gefahren, die dort draussen auf uns warteten.

Wir liefen bis tief in die Nacht hinein, bevor wir uns endlich niederliessen und ein Feuer anzündeten. Wir bauten unser Lager auf einer breiten Lichtung auf, mit weichem Gras und Moos als Untergrund, auf dem man leicht schlafen konnte. Alles wurde ziemlich wortlos organisiert. Wir beschlossen, dass Arka die erste Wache halten würde, bevor sie mich wecken sollte, damit ich übernahm. Wir anderen legten uns also hin, während die Ustrarianerin beim Feuer sitzen blieb.

Die anderen rollten sich in ihre Decken ein und ich hatte das Gefühl ich war der Einzige, der nicht schlafen konnte. Meine Gedanken kreisten um meine kleine Schwester, die gerade allein in ihrem Bett lag und wahrscheinlich von Albträumen geplagt wurde. Sie träumte oft von dunklen Schatten, welche sich im Norden erhoben und ihr immer näherkamen. Das war für mich keine Überraschung, wenn ich daran dachte, was sie alles hatte ansehen müssen, in ihrem bisher kurzen Leben.

So lag ich also da, in Gedanken versunken, als plötzlich Lydia, die neben mir lag, anfing komische Geräusche von sich zu geben. Ihr Atem wurde schnell und laut, und sie wimmerte ein wenig.

Ihre langen Haare waren vollkommen verzottelt und ihre Augen hatte sie fest zusammengekniffen, so als hätte sie Schmerzen. Das sonst eher arrogant wirkende Mädchen sah plötzlich um viele Jahre jünger aus, und plötzlich tat sie mir leid. Irgendetwas tat ihr weh, das sah man.

Plötzlich fuhr sie auf. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund war zu einem Schrei geöffnet, welchen sie jedoch nie ausstiess. Schnell schloss ich meine Augen. Ich wollte nicht, dass sie dachte, dass ich sie beobachtete oder irgendetwas derartiges.

Lydias plötzliche Bewegung schien niemand anderen aufgeweckt zu haben, doch da hatte ich Arka vergessen. Ich lauschte gespannt, als diese anfing zu sprechen.

«Du wirst es nicht für immer verstecken können, das weisst du. Eines Tages wird es wieder ausbrechen, und du wirst es nicht kontrollieren können, so wie damals», hörte ich plötzlich die Stimme der Ustrarianerin, welche nur wenige Meter weiter weg beim Feuer sass. Ich öffnete meine Augen einen Spaltbreit, um zu sehen, dass sie uns den Rücken zugewandt hatte. «Woher?», hörte ich Lydias entsetzte Stimme. «Mein Volk kann nicht nur in der materiellen Welt wandeln, Prinzessin. Wir wandeln genauso gerne in Gedanken- und Traumwelten, in der Zwischenwelt, wenn du es so willst. Ich habe die Geschichte von euch allen schon gelesen, als ich euch sah.»

«Es wird gesagt, dass dein Volk mit Geistern und dem Tod im Bund steht, dass ihr Hexen und Magier seid, und man euch nicht trauen kann», sagte Lydia kalt, deutlich nicht zufrieden damit, dass ihr jemand in den Kopf schaute. Auch ich musste zugeben, dass mir der Gedanke auch nicht gefiel. Das erklärte nun auch das komische Gefühl, welches ich bekam, wenn sie mich ansah. Ich fragte mich, ob die Ustrarianerin wusste, dass ich wach war.

«Natürlich kommunizieren wir mit den Toten. Mein Land ist die Grenze zwischen Leben und Tod. Wir sorgen dafür, dass jedes Jahr sowohl dein Volk als auch die Feblorianer über das Meer in das Land hinter den Horizont reisen können».

Ich spürte, wie sich Lydia anspannte, doch sie antwortete nicht, so wie ich es erwartet hätte.

Stattdessen sagte sie nur kurz und knapp, «Gute Nacht», bevor sie sich auf die Seite legte, sodass sie mich nicht sah.

Ich starrte sie an, mich wundernd was alles noch passieren würde. Wir waren nicht einmal einen Tag gereist, und die Stimmung war jetzt schon angespannt.

Ich wusste nicht, was ich von Lydia halten sollte. Sie erinnerte mich ein wenig an Alirana, Glanns Schwester. Gleich stur und bestimmt, aber irgendwo auch zerbrechlich. Jedes Mal, wenn man mit ihr sprach, so fauchte sie einen an, als wäre das eine Art

Abwehrmechanismus, obwohl sie manchmal auch fast scheu, gar ängstlich wirkte.

Irgendetwas hatte die Asmeanierin, was mich beunruhigte. Irgendetwas versteckte sie, das hatte ich schon vor dem Gespräch zwischen Arka und ihr gespürt. Irgendetwas Böses und Dunkles.

Die Stimmung hob sich zum Glück im Verlaufe der nächsten Tage deutlich. Zumindest freundete ich mich schnell mit Astero, dem Begleiter von Lydia an.

Ich fand ihn eine interessante Person. Er war anders, als alle die ich jemals getroffen hatte. Er war eine Person die offen mit Dingen umgehen konnte, so wie es mir schien. Mich beeindruckte vor allem wie verantwortungsbewusst er war, ohne engstirnig oder langweilig zu wirken.

Während ich mich mit Astero unterhielt, schaffte Glann es tatsächlich auch Kontakt mit Arka aufzubauen. Ich glaubte sogar an einem Punkt ein Lächeln auf dem Gesicht der kleinen Kriegerin zu sehen, wenn sie sich mit meinem Bruder unterhielt.

Auch Lydia gesellte sich immer mehr zu mir und Astero, und beim sechsten Tag unserer Wanderung liefen wir in einer mehr oder weniger kompakten Gruppe.

Astero erzählte mir viel über sein Land, über die fünf Städte, die es dort gab, und über die Kräfte, die sein Volk hatte. Nämlich feste Gegenstände mit der reinen Gedankenkraft bewegen zu können. Mich beindruckte diese neue Information stark, doch ich wurde auch ein bisschen neidisch, denn nun war mein Volk das Einzige, welches nicht eine spezielle Fähigkeit besass. Deshalb hatte ich auch nicht viel über mich zu erzählen, nur dass ich in einem kleinen Dorf wohnte, und dass mein Volk viel auf Reisen ging und auch gerne jagte. Trotzdem waren die anderen beiden ziemlich beeindruckt von meinen Erzählungen, denn sie konnten sich nicht vorstellen ausserhalb der sicheren Mauern zu leben die ihre Städte umringten. «Ich kann es kaum erwarten endlich dein Land zu sehen», meinte Astero staunend.

Später an diesem Tag war ich dran Wache zu halten, während alle anderen versuchten zu schlafen. Doch ich blieb nicht lange alleine, denn anscheinend konnte Astero nicht schlafen und er setzte sich zu mir an das warme Feuer. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, dass es in den letzten Tagen immer kälter wurde, denn wir liefen immer höher. Wälder gab es auch weniger, weswegen wir unser Lager einfach im Schatten eines steilen Abhangs aufgebaut hatten, in der Hoffnung, dass der Hügel hinter uns, uns ein wenig Schutz bieten könnte.

Eine ganze Weile sassen wir beide einfach da, in die hell lodernden Flammen starrend, welche sich nur noch schwach in der Schwärze der Nacht züngelten.

Astero hatte seine Knie hochgezogen und stütze seinen Kopf auf seine dünnen Beine. Seine sonst ordentlich gekämmten Haare waren etwas unordentlich und seine dunkelblauen Augen starrten gedankenverloren in die Glut.

«Freust du dich, bald wieder zuhause zu sein?» Fing ich vorsichtig ein Gespräch an. Ich war mir nicht sicher, ob das ein heikles Thema war, denn plötzlich füllten sich die Augen meines Kameraden mit Sorge.

«Ich bin mir nicht sicher, ob ich das sollte. Meine Eltern sind krank, und ich muss mich um sich kümmern. Nur bin ich jetzt nicht mehr da, und sie haben niemanden mehr. Ich weiss nicht was für ein Schicksal sie erleiden», meinte er und schaute mich dabei hilfesuchend an, wie ein kleines Kind, welches verloren in der Flut der Verantwortung war, in die es viel zu früh hereingeworfen wurde.

«Irgendetwas sagt mir, dass sie tot sind», flüsterte er. Seine leeren Augen waren auf mich gerichtet. Jegliche Hoffnung oder Freude war aus ihnen gewichen, und nur tiefe Trauer war zu sehen.

Sofort musste ich an das Gefühl denken, als ich gespürt hatte, als meine Eltern starben. Wie ihre Geister in die Welt der Erinnerungen verschwunden waren.

«Spürst du sie noch? Gibt es noch irgendetwas in dir, dass dir sagt, dass sie noch da sind?», fragte ich nach.

Lange sah mich mein Gegenüber an, und ich konnte tatsächlich einen Funken Hoffnung in seinen Augen erkennen. «Ja, ich spüre ihre Geister. Es hat sich nichts verändert», meinte er ein wenig hoffnungsvoller.

«Glaub mir, man spürt es, wenn sie gehen, wenn ihre Geister dir ihren letzten Abschied geben».

Astero verstand mit diesen Worten, was mein Schicksal war, und plötzlich waren seine Arme um meinen Bauch geschlungen und ich befand mich in einer festen Umarmung.
«Es tut mir so unendlich leid», meinte er dabei leise. Ich schüttelte nur traurig lächelnd den Kopf. «Es ist schon lange her, ich habe mich daran gewöhnt. Mir tut es ebenfalls leid», konterte ich. Auch wenn der erste Teil eine Lüge war, soweit verdrängen keine Gewöhnung war. Irgendwo tief drin waren sie noch. Die Erinnerungen, die wie Scherben in mein Herz schnitten.

Astero umarmte mich noch einige Minuten. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so umarmt wurde, doch das Gefühl der Geborgenheit, welches ich bekam, hatte ich schon lange nicht mehr gehabt, das wusste ich.

Einige Tage später liefen wir immer noch, nun unserem ersten Ziel deutlich näher. Ich lief neben Glann und Astero war vor mir, als dieser plötzlich stehen blieb und scharf einatmete, so als hätte ihn etwas gestochen.

Ich musste nicht einmal sein Gesicht sehen, um zu wissen, dass seine Befürchtungen bewahrheitet wurden.

Wie grausam, war alles, was ich mir denken konnte.

Wie schrecklich grausam.   

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