Hedor

Wind pfiff mir um die Ohren, als ich früh am Morgen aus dem Haus trat und die Sonne auf mich herabscheinen liess. Das Haus war jenes, in dem ich jetzt schon seit fast sechs Jahren lebte, seitdem meine Schwester und ich von der Familie meines besten Freundes und Bruders Glanndairos, auch Glann genannt, aufgenommen wurden.

Genau dieser verspätete sich mal wieder an unserem Vorhaben, heute Morgen jagen zu gehen. Auch seine Zwillingsschwester Alirana war spät dran. Sie redete zwar nicht sehr viel mit mir, doch trotzdem sollte sie uns heute an unserem Ausflug begleiten. Unsere Beziehung war nicht die Beste, denn sie schien irgendetwas gegen mich zu haben. Ich konnte mir aber vorstellen, dass sie es nicht gerne sah, dass ich so nahe zu ihrem Bruder stand.

Erwartungsvoll schaute ich nochmal auf unser kleines Dorf, welches wahrscheinlich aus nicht mehr als zwanzig Holzhäusern bestand. Sie waren alle an eine Strasse angereiht und hatten kleine süsse Vorgärten mit verschiedenen Gewächsen und Kräutern. Kleine verschiedenfarbige Gartentore markierten die Grenze zwischen ihrem Grundstück und der Landstrasse, welche sich durch das ganze Land schlängelte, und durch viele solcher Dörfer wie das unsere führte. Natürlich waren da noch ein wenig mehr Strassen in Feblor, doch sie waren alle eng miteinander verstrickt.

Der trockene Boden auf der Strasse wurde immer wieder von aufkommendem Wind aufgewirbelt und erzeugte Staub, welchen ich jedoch gewöhnt war. Es kamen nämlich oft Sandstürme aus dem Süden bis hier hin und färbten die ganze umliegende Prärie sandfarben.

Ich konnte es jedoch kaum erwarten, wieder aus dem Dorf zu kommen, denn dort war der Untergrund feuchter und Gras wuchs dank der vielen kleinen Bächlein.
Die Luft war an diesem Tag schwer, wie ein Pelzmantel, der dicht über unserem Dorf lag. Die Sonne ging langsam über dem Horizont auf. Eigentlich hatten wir abgemacht, uns noch vor Sonnenaufgang zu treffen.

Ich fand es unglaublich, dass mein Bruder und seine Zwillingsschwester es trotz allem schafften, zu spät zu kommen, obwohl sie keinen ersichtlichen Grund dafür hatten. Ich hingegen hatte mich noch um meine kleine Schwester kümmern müssen, die mal wieder einen Albtraum gehabt hatte und war trotzdem rechtzeitig.

Solche hatte sie viele, seit dem Angriff, der uns unsere Eltern nahm. Seit dem Tag, an dem wir alles verloren, was uns irgendetwas wert war und wir zu Strassenkindern wurden, die von Haus zu Haus wanderten, ohne irgendwo länger bleiben zu können, bis wir hier ankamen.

Eine schlimme Zeit, in der ich Sachen tun musste, die ich immer noch heute bereute. Doch sie waren notwendig gewesen, um mich und meine Schwester am Leben zu halten.

Endlich trat mein Bruder durch die Tür. Seine dunklere, eher rötliche Haut leuchtete beinahe und seine dunkelbraunen, lockigen Haare standen wie immer wie metallene Federn von seinem Kopf ab. Ich sah, dass er mal wieder seinen beträchtlichen Bart gepflegt hatte, der ihn mindestens fünf Jahre älter aussehen liess, als er eigentlich war, nämlich erst knappe 16.

In vielen Punkten sah er Alirana ähnlich, die gleich nach ihm aus dem Haus trat. Sie hatte den gleichen Hautton und die gleichen dunkelbraunen Augen. Nur hatte sie längeres, welligeres Haar, welches verfilzt offen an ihr herunterhing.

Bei Glann und mir bemerkte man jedoch sofort, dass nicht Blut uns als Brüder verband. Meine Haut war etwas heller, meine Haare schwarz und meine Augen auch. Auch bevorzugte ich den Bogen dem Speer, mit dem Alirana und Glann heute jagen würden.

«Gehen wir endlich los?», fragte das Mädchen mit ihrer gewöhnlichen kalten Art, und mit einem zustimmenden Nicken gingen wir los.

Sobald wir aus dem Dorf heraustraten, riefen wir nach unseren Reittieren und natürlich kamen diese schon nach kurzer Zeit auch. Grosse, pferdeartige Tiere mit gebogenen Hörnern auf ihrer Stirn, die es noch schwieriger machten, sie zu bändigen.

Mein Hengst kam als erstes, doch bald darauf folgten Glanns und auch Aliranas Stuten, und somit konnten wir endlich losreiten.

Kurze Zeit später waren wir endlich in der Prärie. Sie war ein bisschen anders als die, in der ich aufgewachsen war. Weniger trocken und eher feucht. Immer wieder gab es kleine Ansammlungen von Bäumen, die einem Schatten spendete und ein oder zwei kleine Bächlein flossen in der näheren Umgebung.

Ich war eher im Süden von unserem Land Feblor aufgewachsen, näher an der Wüste, auch wenn trotzdem noch Prärie um mich herum gewesen war.

Kurz danach hatten wir unseres erstes Opfer gesichtet, ein mittelgrosses Reh, welches ich mit einem Pfeil erlegte und auf dem Rücken meines Hengstes auflud.

So ging unsere Jagd weiter, bis wir schlussendlich zwei Vögel, zwei Rehe und sogar einen Fuchs erlegt hatten.

Die Sonne hatte ihren Zenit erreicht, als wir beschlossen, umzukehren. Es war warm geworden und ich spürte, wie mir der Schweiss über das Gesicht lief, als ich plötzlich eine Stimme hörte.

Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, doch ich war mir sicher, sie gehört zu haben. Aus der Richtung eines kleinen Wäldchens zu meiner Rechten. Glann schien auch etwas gehört zu haben, denn sein Kopf drehte sich zu der gleichen Stelle hin. Nur Alirana lief ungerührt weiter.

Die Stimme hörte sich wehleidig an, fast so, als würde sie schreckliche Schmerzen erleiden.

«Wir sollten nachsehen», meinte Glann zu mir und schnell ritten wir zum Ursprung der Stimme. Alirana rief uns zurück, aber als wir nicht reagierten, folgte sie uns.

Vor dem Wald stiegen wir ab, denn unsere Reittiere weigerten sich, in das dichte Gestrüpp zu gehen. Die Bäume erhoben sich hoch über unseren Köpfen und waren wie drohende Schatten, die uns sagten, fernzubleiben, doch darauf hörten wir natürlich nicht.

«Was macht ihr?», fragte Alirana sichtlich genervt, als wir Anstalten machten, im Wald zu verschwinden.

«Warte einfach hier, Schwesterherz», meinte ihr Bruder jedoch abgelenkt, von der Stimme, die immer klarer zu werden schien.

Sie rief noch etwas, doch ich verstand nicht, was.

So liefen wir in den Wald hinein. Ich spürte, wie die Dornen der Sträucher am Boden an meiner Kleidung rissen, doch das interessierte mich im Moment nicht sehr, denn ich konnte immer mehr Worte verstehen, die die Stimme sagte. Ich versuchte so sehr, ihr zuzuhören, dass ich nicht bemerkte, dass wir irgendwann auf einer Lichtung angelangt waren. Sofort verstummte die Stimme. Glann und ich tauschten verwirrte Blicke aus, als wir sie wieder vernahmen. Rau, tief und klarer als je zuvor.

Sie sprach von einer Prophezeiung. Sechs Helden, die unseren Kontinent retten sollten. An dem Punkt, an dem sich alle Grenzen berührten, sollten sie sich treffen. Etwas über einen Schlüssel, der entweder gezogen oder gedreht werden könnte und schlussendlich noch, dass manche von diesen Helden sterben würden.

«Findet euch am Tag des roten Mondes an diesem Punkt wieder», sprach die Stimme zum Schluss, bevor ein starker Wind aufkam und sie verschwand.

Ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass wir beide gemeint waren. Glann und Hedor, wir sollten helfen, das Böse im Norden zu vertreiben. Ich sollte endlich meine Rache haben, für das, was der Norden meiner Familie angetan hatte.  

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