19. Bennet
Wir laufen über den Rasen. Ashley ist barfuß und ihr schwarzes Kleid weht im leichten Wind.
Der Garten ist gut gepflegt und kommt mir wie ein Park vor, in dem man mit seiner Familie spazieren geht.
„Ich bin mit dreizehn nach Deutschland gezogen", fängt sie an und ich schaue zu ihr herunter. Zwei schwarze Pupillen mustern mich.
„Du bist nicht hier geboren?", frage ich überrascht. Das ist überraschend! Sie spricht deutsch so flüssig und fast ganz ohne Akzent.
Ashley schüttelt den Kopf. „Nein, ich komme aus Andalusien, aber lerne Deutsch schon seit meinem sechsten Lebensjahr."
„Wieso?"
„Mein Vater wollte es so, aber ist wahrscheinlich praktisch gewesen, so kann ich es jetzt gut." Sie zuckt mit den Schultern und fasst im Vorbeigehen die Büsche an. „Ich habe damals Geige gespielt."
„Ein extrem schönes Instrument", pflichte ich bei.
Ashley nickt. „Absolut. Ich hab's auch beherrscht. Ist total kompliziert und... na ja, ich will nicht abschweifen." Sie seufzt und wir gehen weiter über den Rasen. „Du siehst ja, dass wir Geld haben."
Ich muss lachen. „Wirklich? Hätte ich gar nicht erwartet."
Ashley kichert und verdreht die Augen. „Mein Vater leitet eine Firma. Beziehungsweise... er hat sie gegründet. Mit seiner Schwester zusammen. Meine Tante leitet den Hauptsitzt in Spanien und nun ja" Sie zuckt mit den Schultern. „Wir sind hier gelandet."
„Was für eine Firma?"
„Ökostrom. Umweltfreundliche Alternative und hundert Prozent nachhaltig."
„Das ist cool."
Sie schaut zu mir auf. „Schon irgendwie. Meine Mutter war Autorin und hat nebenbei bei meinem Vater in der Firma gearbeitet. Sie... war mein Vorbild", flüstert sie und schaut sich um.
„Wie war sie so?", frage ich leise. Ashley lächelt und ich sehe Tränen in ihren hübschen Augen.
„Wie sie war? Wundervoll, nett, immer gut gelaunt. Sie hat so viel gebacken und uns immer mit Essen überhäuft. Selbst, als wir dann hier gewohnt haben, wo uns andere Leute das Essen zubereitet haben... meine Mutter stand immer mit dabei und wollte helfen." Ashley lächelt und schaut mich flüchtig an. „Sie hat andauernd gesungen und war immer gerecht. Sie wollte nie, dass jemand ungerecht behandelt wird. Ihr Deutsch war nicht das beste, aber sie hat sich immer Mühe gemacht, um es besser zu lernen. Als ich klein war, wollte ich immer so wie sie werden. Aufgeschlossen, Freude am Leben... glücklich." Sie schnieft und mir fehlen die Worte. Was soll ich denn bitte auch auf so etwas sagen? „Liebst du deine Mutter, Bennet?"
Ich schaue sie an. Meine Mutter ist die einzige, die mich liebt. „Tue ich, ja."
„Stell dir vor, sie will dich abholen und plötzlich wird sie aus deinem Leben gerissen."
„Was ist passiert?", frage ich leise.
Ashley lacht heiser und bleibt stehen. Sie dreht sich um und schaut auf das riesige Haus zurück.
„Sie hat mich vom Geigenunterricht abgeholt. Meine Eltern haben damals direkt nach Vereinen, Clubs und sowas gesucht, weil ich mit anderen in Kontakt kommen sollte. Ich war immer jemand, der... nicht viele Freunde hatte. Meine Mutter und ich saßen im Auto, ich mit meiner Geige auf dem Schoß." Ihre Stimme zittert etwas. „Es war grün... aber jemand hatte wohl die Regeln nicht verstanden." Ich bemerke, wie schwer es ihr fällt.
„Du musst nicht weiterreden, wenn du nicht kannst..."
„Jetzt habe ich doch schon angefangen", scherzt sie. „Der Typ kam von der Seite, ist über rot gefahren und total in unser Auto reingecrasht. Wir sind von der Fahrbahn geschleudert worden und auf dem Kopf irgendwo am Straßenrand aufgekommen."
„Ach du scheiße", hauche ich.
„Kann man so sagen. Ich weiß nicht wirklich, wie es weiter gegangen ist... ob uns Fachkräfte herausgeholt haben... oder einfach andere Autofahrer? Ich kann es dir nicht sagen. Auf jeden Fall waren am Ende welche vor Ort, denn ich wurde ganze hundertdreißig Sekunden für Tod erklärt. Keine Ahnung, wie das passieren konnte, Wir sind so heftig aufgekommen, dass ich mir irgendwie den Kopf... oder... ich weiß es nicht. Vieles aus der Zeit ist verblasst."
Aus Reflex fasse ich ihr an den Arm, aber ziehe meine Hand zurück, als sie mich anschaut.
„Deine Mutter...?"
„Das Auto ist in Flammen aufgegangen. So schnell, dass die Sanitäter nichts mehr machen konnten. Ich war wohl gerade draußen, als es Feuer gefangen hat."
Wow, das muss ein Schicksalsschlag gewesen sein. „Du hattest einen Schutzengel."
„Darüber habe ich auch viel nachgedacht. Vielleicht hat meine Mutter mich noch... ach das ist Quatsch", sagt sie schnell.
„Nein, erzähl es mir."
„Vielleicht hat sie sich irgendwie geopfert, weißt du? Damit ich leben kann..."
„Wäre möglich. Wie geht es dir damit?"
Ashley seufzt. „Ich war ein halbes Jahr in Therapie und musste danach noch weiter mit Depressionen kämpfen. Ich kann von Glück reden, weil ich danach normal weiterleben konnte. Hier" Sie dreht sich zu mir und schiebt ihre Haare zur Seite.
Über ihrer rechten Schläfe befindet sich eine Narbe. „Da hat sich ein Teil des Autos in meine Haut gebohrt. Ich kann es gut verdecken oder überschminken." Ashley zuckt mit den Schultern, richtet ihre Haare wieder und wischt sich die Tränen weg. „Sie fehlt mir jeden Tag und ich werde niemals damit leben können, dass sie tot ist. Daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen."
„Verstehe ich... könnte ich glaube auch nicht."
Ashley lächelt. „Ich wurde mit einem Hubschrauber weggebracht, mein Vater war zu dem Zeitpunkt für einige Tage in Spanien, weil er was klären musste. Es war für uns alle ein Schlag ins Gesicht."
Es vergehen einige Minuten, in denen wir schweigend nebeneinander hergehen. Ashley schnieft ab und zu und ich überlege hektisch, was ich ihr von mir erzählen soll. Sie war so ehrlich zu mir, da muss ich auch ehrlich sein.
„Wir sind ziemlich gleich, Ashley." Ich mustere eine Amsel, die ein paar Meter vor uns landet und auf dem Boden herumpickt.
„Wie darf ich das verstehen?", fragt sie freundlich.
Ich muss lächeln. „Wir versuchen beide mit unserem Verhalten, die Person zu verstecken, die wir eigentlich sind." Meine Partnerin zieht die Augenbrauen zusammen. „Vor drei Jahren ist mein Opa gestorben. Herzfehler. Es war der Vater meines Vaters."
„Mein Beileid", sagt Ashley leise und ich bedanke mich.
„Das hat meinen Vater ziemlich mitgenommen. Seitdem ist er nicht mehr derselbe. Du weißt, dass er meine Mutter auf Montage kennengelernt hat?"
Sie nickt. „Ich habe es gehört, ja."
„Das stimmt. Er arbeitet bei einer Firma, die ihn viel im Ausland einsetzt, das ist gut, denn die Tage, die er weg ist, sind die guten Tage. Mein Opa ist gestorben und mein Vater hat mit dem Trinken angefangen."
„Oh, in welchen Maßen?"
„Zu viel, Ashley, viel zu viel. Er kann sich selber nicht mehr kontrollieren und ist nicht mehr bei Verstand. Wir leiden alle darunter, ich, meine Mutter, meine Schwester."
„Wie alt ist deine Schwester?"
„Sechs, sowas sollte so ein junges Mädchen nicht erleben."
Ashley seufzt. „Das tut mir leid."
„Das braucht es nicht. Ich gelernt, damit zu leben."
„Solltest du aber nicht, Bennet. Sowas sollte niemand." Sie bleibt wieder stehen und schaut zu mir auf.
„Wäre das Trinken das einzige Problem, wäre es noch toll. Hier." Ich ziehe mein Shirt hoch und zeige ihr den Bereich, wo meine Niere sitzt. Sie hört schnappt nach Luft und hält sich die Hand vor den Mund.
„Madre mía. Qué he pasado?", fragt sie erschrocken und fährt mit ihren zarten Fingern über die Striemen. Schnell richte ich mein Oberteil wieder und stelle mich richtig hin.
„Er ist ausgerastet. Mein Vater schämt sich für mich und für das, was ich tue. Alles ist falsch und ich wäre nicht der Junge, den er sich gewünscht habe", gebe ich meinen Vater wieder. „Er ist nie stolz auf mich und nie zufrieden mit mir. Er verbietet mir alles und will, dass ich ein richtiger Mann werde. Einmal hat er gesagt, dass ich eine Pussy wäre, weil ich Gefühle zeige."
„Ich mag es, wenn Jungs Gefühle zeigen", sagt sie lächelnd und mir wird ganz warm. „Mir tut es leid, dass dein Vater so ist. Aber ich danke dir, dass du es mir verraten hast."
„Das war der Kompromiss", erkläre ich und zucke mit den Schultern. Ashley kommt mir etwas näher und wir schauen uns lange in die Augen. Ich habe das Gefühl, dass mein Körper unter Strom steht.
„Küss mich", flüstere ich.
Ashleys Augen weiten sich und sie errötet. „Was?"
„Küss mich."
„Nein." Sie schüttelt den Kopf.
Ich muss schmunzeln und verschränke meine Finger hinter meinem Rücken miteinander. „Wieso?"
„Weil... das gerade nicht passt."
Ich lege den Kopf schief. „Wann dann, Ashley?"
„Wenn sich der Teufel und der Engel die Hände geben."
„Dann küsst du mich?"
„Dann küsse ich dich, Bennet Perez."
Ich gebe mich mit dieser Antwort zufrieden und so gehen wir zurück zum Haus.
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