1 : Der Goldene Käfig
Die Hände links und rechts neben mir auf das kalte, graue Geländer aus Stein gestützt, ließ ich meine dünnen Beine im schwachen Licht der untergehenden Sonne einfach einige Stockwerke über dem Boden baumeln. Der Wind fuhr durch meine langen, hellblonden Haare und ließ sie aufwehen. Ich starrte von dem Geländer meines Balkons, auf dem ich saß, in den Garten des Anwesens. Das Anwesen der Sullivans lag im Schatten der untergehenden Sonne. Die rot-orangen Lichter schlangen sich wie Seidentücher um die kunstvoll verzierten Giebel des Herrenhauses, das ich mein Zuhause nannte. Obwohl ich diese Bezeichnung nur selten zu benutzen pflegte. Mein Blick wanderte über die weißen Rosen, die einen Großteil des Gartens ausmachten und soeben die Farben der sterbenden Sonne angenommen hatten. Ich liebte ihren Duft, ihre Farbe, wie sie sich im Wind bewegten und noch viel mehr liebte ich es, den Schmetterlingen zuzusehen, wie sie aus den Blüten tranken, denn diese kleinen Wesen waren frei. Ich beneidete sie regelrecht darum. Ich war hier eingesperrt und die hohen dunklen Hecken, die in der heranschreitenden Dunkelheit so bedrohlich wie eine meterhohe Mauer wirkten, machten mir dies sofort wieder bewusst.
Mein Blick wanderte weiter zu dem eisernen Tor am Ende des Kieselwegs, der durch den Garten führte. Er wanderte zu den gewaltigen Grünanlagen dahinter und anschließend bis zum Horizont, wo die letzten Fetzen der untergehenden Sonne verzweifelt um ihr Überleben kämpften, jedoch schon kurz darauf von dem Dunkelblau des Nachthimmels verschlungen wurde. Dort blieb mein Blick. Am Horizont. An jenem Ort, wo ich jetzt gerne wäre. Als ich mich zwang meinen Blick von der Abenddämmerung abzuwenden, musste ich erschrocken feststellen, wie kalt es doch geworden war. Ich war so auf das tägliche Schauspiel fokussiert gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass man mittlerweile sogar schon meinen Atem sehen konnte. Langsam stellte ich mich auf das Geländer. Die Kälte machte sich von da an langsam aber sicher in meinem gesamten Körper breit. Sie kroch langsam meine Beine empor, eroberte meine schmalen Hände und meine dünnen Arme. Man merkte deutlich, dass der Sommer im sterben lag und der Herbst seinen Platz einnahm. Ich sprang vom Geländer auf den kalten Marmorboden und lief zu den zwei Glastüren, die mein "Zimmer" von dem riesigen Balkon trennten. Ich bevorzugte es dieses Zimmer meinen goldenen Käfig zu nennen. Es besaß ein Himmelbett aus weißem Birkenholz, das für ein Mädchen meiner Statur viel zu groß war, einen schwarzen Marmorboden, eine Decke aus Birkenholz, einen Schrank und einen Schreibtisch. Der dunkle Boden war ein starker Kontrast zu den hellen Möbeln. Die Bettpfosten meines Bettes waren mit aufwändigen Verschnörkelungen verziert worden und meine Bettwäsche war so weiß und rein wie Schnee. Beim Öffnen der Glastür wurden meine Gardinen aus weißem Stoff hinausgezogen und schlugen mir wie eine Wand entgegen. Als wollten sie mich daran hindern, meinen Käfig zu betreten. Hinter mir schloss ich mit Hilfe des goldenen Griffes die Glastür wieder. Ich trug ein weißes, kurzes Kleid. Der obere Teil war mit Spitze versehen, der Rock war vorne kürzer als hinten und eine weiße Schleife zierte meine schmale Taille.
Mutter hatte es für mich gekauft, auch wenn ich fand, dass es mich noch blasser erscheinen ließ, als ich ohne hin schon war. In meinem Zimmer war es auch nicht viel wärmer als draußen, da es hier keinen Kamin gab. Gemächlich lief ich zu meinem Schreibtisch und zündete mit einer einfachen Handbewegung die Kerze auf meinem Tisch an, nahm auf dem Stuhl platz und lauschte. Bald würde mein Vater nach Hause kommen, man würde seinen schweren Schritte unten vor dem Haus, auf dem Kies hören. Man würde hören, wie die Tür sich öffnet. Er würde meiner Mutter einen kalten, schnellen Kuss auf die Stirn hauchen und mit Sicherheit würde es nicht lange dauern, dann würde er den cremefarbenen Couvert entdecken, der nichts als weißes, reines, dickes Pergament enthielt und mit dunklen Lettern beschrieben worden war. Ich stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Mein Käfig wirkte so stumm und leer, hatte es, als ich klein war, noch so schön und traumhaft gewirkt. Plötzlich hörte ich Schritte im Haus. Mein Vater hatte direkt vor die Tür apperiert. Keine Schritte auf dem Kies. Ich schlich zur Tür und öffnete sie einen kleinen Spalt breit. Mein Blick fiel in den dunklen Flur. Ein teurer smaragdgrüner Teppich schmückte den dunklen Dielenboden. Meine Beine trugen mich langsam zu den dunklen Marmortreppen, die hinunter in die Eingangshalle führten. Ich nahm auf der obersten Stufe der Treppe platz und beobachtete die Szene, die sich mir bot. Mein Vater wollte gerade einem Hauselfen seinen Reisemantel geben, als meine Mutter ihm zuvor kam. Sie hing, nachdem mein Vater ihr einen sanften Kuss gegeben hatte, den Mantel auf und begann das Gespräch: "Wie war es heute im Ministerium?", fragte sie und erzwang sich ein Lächeln. "Wie immer stressig.", antwortete mein Vater knapp, seine dunklen, kurzen Haare zurückstreichend. "In einer Woche dürfte Irene zurückkommen, hab ich recht?", fragte er und ich merkte wie mir das Blut in den Adern gefror. Meine Mutter räusperte sich und fuhr mit einer Hand verlegen durch ihre blonden Haare. Meinem Vater stand die Skepsis ins Gesicht geschrieben. Selbst von hier oben konnte ich spüren, wie seine Pupillen in seinen grünen Augen sich verengten. "Liebes, du weißt, wie sehr ich Geheimnisse hasse. Was ist los?" "Nun, Irene ist...", sie unterbrach als mein Vater sich plötzlich umdrehte und zu mir hochblickte. Wie auch immer er mich bemerkt hatte, jetzt wegzulaufen wäre ein Zeichen von Schwäche, also stand ich auf und schritt anmutig, so wie man es mich gelehrt hatte, die Treppe hinunter. "Irene?", in seiner Stimme lag ein Hauch von Überraschung, den er nicht gänzlich verbergen konnte. Schnell strich ich mir eine Strähne meines blonden, fast weißen Haares hinters Ohr. " Guten Abend, Vater.", ich machte eine leichte Verbeugung und senkte meinen Blick. Ich gab mir alle Mühe jegliche Emotion, die ich jetzt gerne zeigen würde zu verbergen. Ich hörte, wie seine dunkle Gestalt auf mich zu kam. Ich verharrte in meiner Position. Ich spürte, wie er auf mich herabsah. Wie sein Blick mich ganz genau kontrollierte. Nach einer Weile begannen meine Beine von der unbequemen Position zu schmerzen, doch ich hielt stand. Das jahrelange Training, was Ballett anging, hatte seine Vorteile. Schließlich nahm er meine Hand und half mir auf. Erleichtert, aber dennoch anmutig erhob ich mich. Er strich wenige Male mit seinem Daumen über meinen Handrücken, bevor er meine Hand wieder sinken ließ. Mein Vater war Argon Sullivan, hohes Tier im Ministerium, Ehemann von Lilia Sullivan und Vater von mir, Irene Sullivan. Er war recht groß, hatte dunkle, kurze Haare, strenge Gesichtszüge und smaragdgrüne Augen. Vom Charakter her erinnerte er mich stets an Lucius Malfoy. Beide waren gute Freunde und vertraten dieselbe Meinung, was Ordnung, Disziplin und Blutstatus anging. Meine Mutter war ganz anders. Sie war eine hochgewachsene, schlanke, wunderschöne Frau mit den selben blonden Haaren, wie ich sie hatte. Meist trug sie diese zusammengebunden. Ihr Charakter war wohl mehr bestimmerisch als zurückhaltend, nur in der Gegenwart meines Vaters gehorchte sie. Lilia hatte sturmgraue Augen und hätte auf den ersten Blick ebenso gut eine Malfoy sein können. Die grünen Augen meines Vaters durchbohrten mich regelrecht. Ich senkte meinen Blick und starrte zu seinen Füßen. "Du trägst ja schon wieder keine Schuhe.", erklang die raue und arrogant klingende Stimme meines Erzeugers. Sie klang so rau, wie, wenn Schleifpapier auf Holz gerieben wurde. Ich verkrampfte mich, kaum das er es hätte mitbekommen können. Eine Antwort erwartend stand seine große, dunkle Gestalt vor mir. Sein Blick immer noch den meinen suchend, doch ich wich ihm immer wieder aus. "Warum trägst du keine Schuhe?", fragte er erneut, nun deutlich strenger und mit Nachdruck. Ich hob meinen Kopf ein wenig, ließ ihn aber in Angesichts des Sturms, der in dem Wald seiner Augen wütete, meinen Kopf schnell wieder sinken. "Es tut mir leid. Ich hatte sie vergessen anzuziehen, Sir.", erst jetzt wurde sein Blick ruhiger. Der Sturm legte sich, vorerst. "Ihr beiden verhalte euch so merkwürdig.", den Kopf so haltend, dass er mit der Nase die Wolken am Nachthimmel hätte wegschieben können, ging er zu den großen unheimlich teuren Flügeltüren, die zum Salon führten. Mit einer einzelnen, schnellen Handbewegung gab er zwei Hauselfen zu verstehen, dass sie die Türen öffnen sollten. "Nehmen wir doch unser Abendessen zu uns, während ihr beiden mich aufklärt, warum ihr euch so rätselhaft verhaltet.", er überließ mir und meiner Mutter den Vortritt und wir betraten den riesigen, einladenden Salon.
Ein Feuer tanzte im Kamin und verbreitete eine wohlige Wärme im gesamten Raum. Erst zu Beginn der Sommerferien war ich in diesem Raum gewesen, hatte mich mit einem meiner Bücher über Tränke und Kräuter auf das samtig rote Sofa gesetzt und gelesen, während mein Vater und meine Mutter in jeweils einem der roten Kaminsessel saßen und sich über alles mögliche unterhalten hatten. Ich war nur für ungefähr zwei Tage in diesem Haus geblieben, denn meine Eltern sahen es vor, dass ich in den Sommerferien eine ziemlich teure private Tanzschule besuchte, um meine Fähigkeiten im Ballett auszubauen.
Mit einem mulmigen Gefühl nahm ich auf einem der Stühle an der Tafel Platz. Mir war so unwohl, dass ich kaum etwas von dem wirklich exzellenten Essen in mich hinein bekam, ohne, dass mir auf der Stelle schlecht wurde. Während des Essens herrschte absolute Stille, nur das Feuer im Kamin knisterte fröhlich vor sich hin. Nach dem Abendessen ließ mein Vater sich mit einem Glas Wein auf dem Sofa nieder und dirigierte mich mit einem Lächeln zu sich. Ich muss zugeben, sein Lächeln wirkte sehr gespielt und hochnäsig. Ich ging zu ihm und nahm neben ihm platz. Meine kleinen Hände ineinander gefaltet, den Kopf gesenkt und ein Bein über das andere geschlagen saß ich angespannt neben ihm. "Also...", begann er, "... was ist los?" Ich atmete tief durch und machte eine geschmeidige Handbewegung. Der cremefarbene Couvert erhob sich von dem Kaminsims und flog zu mir. Das rote Siegelwachs betrachtend, welches das Zeichen der Tanzschule zeigte, wurde mir klar, dass dies die letzten ruhigen Momente des Abends waren...
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