Prolog

Die Welt war ein einziges Meer aus Dunkelheit. Schwer hingen schwarze Nebelschwaden über den Dächern der Stadt, klammerten sich an Bäume und Büsche. Nicht einmal die Sterne besaßen in dieser Nacht genug Kraft, um sie davon abzuhalten mit einer unerbittlichen Eleganz Straßen und Gebäude in ihre finstere Tiefen zu zerren. Schon vor Stunden hatten sich die meisten Bewohner in die wohlige Sicherheit ihre Häuser zurückgezogen. Das Wachs der letzten Kerzen tropfte bereits hinunter, ließ das verbliebene Licht des Tages endgültig erlöschen. Im Schutz der Schatten bemerkte niemand die zierliche Figur des Mädchens. Niemand spürte den Hauch seiner flinken Bewegungen, während es von einer Gasse zu nächsten huschte. Niemand hörte den Schlag seines angsterfüllten Herzens, während seine eigenen Gedanken ihm den letzten Atem raubten. Nur die Stille war sein einsamer Begleiter. Ebenso wie die meisten Menschen fürchtete sich auch Marthe vor der Dunkelheit. Jeder Muskel ihres Körpers wehrte sich dagegen einen weiteren Schritt zu machen, und jedes Mal befahl ihr Verstand ihr es doch zu tuen. Ihr Entschluss war schon vor langer Zeit gefallen, sie konnte ihn nicht mehr rückgängig machen. Der Preis dafür wäre ihr eigener Tod. Und nicht einmal diesen konnte sie sich leisten.

Krampfhaft schlossen sich ihre Finger um den winzigen Dolch in ihrem Gurt, versuchten verzweifelt einen festen Griff zu erlangen. Es half nichts, ihre Handflächen waren zu feucht vom kühlen Schweiß. Die Waffe entglitt ihr immer wieder aufs Neue.

Sie war keine Mörderin. Sie war eine hoffnungslose Seele, die nach allem rang, was ihr das Gefühl von Sicherheit bot.

Sie war keine Mörderin. Sie war ein einfaches Mädchen, dessen Umstände sie in den Wahnsinn getrieben hatten.

Sie war keine Mörderin und dennoch war sie bereit einem Menschen gnadenlos das Leben zu rauben. Sie konnte das leblose Gesicht bereits vor sich sehen, den ziellosen Blick der Augen und das erkaltete Violett der Lippen. Wann hatte sie sich dazu entschieden das Wohl ihrer Familie über ihre Moral zu stellen? Als der zwielichtige Fremde vor ihrer Tür aufgetaucht war, hatte sie ihn ignoriert. Als er ihr gefolgt war, hatte sie ihren Schritt beschleunigt. Aber als er versprochen hatte, all ihre Sorgen verschwinden zu lassen, hatte sie nicht weghören können. Sein Angebot war einfach, sowie grausam: Das Leben der Königsfamilie gegen ewigen Schutz. Vielleicht hätte sie entsetzt abgelehnt, vielleicht wäre sie sogar mutig genug gewesen den Wachen auf den Straßen von dem Verräter an der Krone zu erzählen, wenn sie nicht erst am Abend zuvor auf ihre Mahlzeit hatte verzichten müssen und so unglaublich hungrig gewesen wäre. Armut ließ die Menschen verzweifeln, dann besaßen sie nichts mehr, das sie verlieren könnten. Das Gehalt einer Zofe war durchaus großzügig, doch es reichte nicht aus, um eine ganze Familie über Wasser zu halten. Erst recht nicht eine Familie, die alles daransetzte, sich das eigene Leben so schwer wie möglich zu machen.

Der Palast war hell erleuchtet, beinahe wie der letzte Krieger im Kampf gegen die draußen lauernde Finsternis. Anders als auf den Straßen begann das Leben hier erst, sobald die Sonne untergegangen war. Ein letztes Mal wischte Marthe ihre nassen Hände an ihrem Leinenkleid ab, dann trat sie auf das silbern schimmernde Tor zu. Die Wachen kannten ihr Gesicht, fragte nicht einmal nach bevor sie ihr Einlass gewährten. Natürlich taten sie es nicht, denn unter den Bediensteten war sie für ihre Ehrlichkeit, für ihre Sanftmut bekannt. Man würde ihr nicht zutrauen, eine Königsmörderin zu sein. Sie traute es sich selbst nicht einmal zu.

Frostig umspielte die leise Melodie des Windes ihr Gesicht. Erinnerungen an längst vergangene Tage, an denen sie eine Fremde am Hofe gewesen war, pulsierten durch ihre Adern. Damals hatte sie geglaubt das Schicksal hätte sie gefunden, hätte ihr endlich den Rettungsring zugeworfen, der sie davor bewahren sollte in ihren finanziellen Sorgen zu ertrinken. Die Einstellung als Zofe hätte alles besser, alles leichter machen sollen. Wären nicht die Spielschulden ihres Bruders gewesen, die all ihr Erspartes binnen weniger Wochen in Luft aufgelöst hatten. Wäre nicht die Krankheit ihres Vaters gewesen, die ihn bis auf weiteres zum Arbeiten unfähig machte. Wäre nicht das Kind ihrer Schwester gewesen, das jede Sekunde ums Überleben kämpfte.

Die Flure des Palasts waren Marthe in den letzten Jahren so vertraut geworden. In allen nur erdenklichen Silbertönen schimmerten sie, erinnerten an die Sterne, die beinahe jede Nacht den Himmel erleuchteten. Nie wieder würde sie ihre Schritte durch die langen Gänge hindurch hallen hören, nie wieder würde sie sich vorstellen können wie das Leben gewesen wäre, wenn sie eine Prinzessin gewesen wäre, wenn sie das Licht der Sterne im Blut getragen hätte.

„Marthe?", bei dem Klang ihres eigenen Namens zuckte sie zusammen, biss sich vor Schreck auf die Innenseite ihrer Wange. Sofort erfüllte der eisige Geschmack von Blut ihren Mund. Sie hätte wissen müssen, dass jemand sie erkennen würde. Sie hätte sich darauf vorbereiten müssen, anstatt auf ein wenig Glück zu hoffen. Das Glück hatte in ihrem Leben selten mit ihr auf einer Seite gestanden. „Was machst du hier? Solltest du nicht schon längst zu Hause sein?"

„Ich habe bloß etwas vergessen", die Worte klangen in ihren eigenen Ohren schrecklich falsch, eine offensichtliche Lüge. Sie hob ihren Blick etwas, sodass sie die vertraute Gestalt nun vollständigen sehen konnte. Eldia. Wie immer hatten sich einige Strähnen aus dem rötlichen Haar gelöst und wie immer bildeten die dunklen Ringe unter ihren Augen einen viel zu starken Kontrast zu ihrer hellen Haut. Als Marthe als Zofe angefangen hatte, war Eldia diejenige gewesen, die sie unter ihre Fittiche genommen hatte. Während sie ihr die wichtigsten Dinge erklärt hatte, war zwischen den beiden Frauen eine sanfte, ehrliche Freundschaft erblüht.

„Kann ich dir irgendwie helfen?"

„Nein", schärfer als gewollt glitten die Worte über ihre Lippen. Die Anspannung ihres Körpers war deutlich zu spüren. „Nein, danke", wiederholte sie schnell, dieses Mal darauf bedacht ihren Tonfall mit Freundlichkeit zu zieren.

„In Ordnung. Aber beeil' dich, bitte."

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, beschleunigte Marthe ihren Schritt und ließ die andere Zofe so schnell wie möglich hinter sich. Sie war sich sicher, wenn sie auch nur eine Sekunde länger geblieben wäre, hätte die Wahrheit einen Weg aus ihr herausgefunden. Mittlerweile glaubte sie ohnehin ihr Herz würde vor Furcht bald aus ihrer Brust herausspringen. Schuldige Tränen stachen bereits in ihren Augenwinkeln, drängten danach ihre Wange hinabzulaufen. In diesem Moment schien die Realität zu verblassen. Das alles war nicht mehr ihr Leben, das hätte es niemals werden dürfen. Einst war sie stolz auf ihre Güte gewesen, jetzt verriet sie diese und somit sich selbst.

Es war das Geschrei eines kleinen Kindes, welches ihre Gedanken wieder ordnete. Die Geburt der Prinzessin war erst wenige Wochen her und der größte Teil des Volkes wusste zu ihrer Sicherheit noch nicht davon. Man hatte sie auf den Namen Lisanda getauft, die Leuchtende - und sie machte diesem alle Ehre. Schon jetzt war sie wunderschön mit ihrem Haar so weiß wie das ihrer Mutter und ihren Augen so dunkel wie die ihres Vaters. Der Sternenhimmel hätte in ihr irgendwann einmal eine wahre Konkurrentin gefunden. Doch dazu würde es niemals kommen. In dieser Nacht würde nicht nur das Herz der Prinzessin aufhören zu schlagen, auch die Sterne würden aufhören zu funkeln.

Sie wusste genau aus welcher Richtung die hohe Stimme der Königstochter stammte. In den vergangenen Tagen war sie oft genug in dem Zimmer gewesen, hatte Windeln gewechselt und Lieder gesungen, Tränen getrocknet und Herzen beruhigt. Ein letztes Mal ließ sie ihre Zähne auf einander treffen und dabei ein leises Knirschen entstehen. Drei Morde und ihre Sorgen würden verblassen. Ihr Gewissen mochte sie ihr gesamtes Leben lang dafür bestrafen, ihre Familie aber würde ihre ewig danken. Dass ihr bei den Gedanken daran Tränen über das Gesicht rannen, bemerkte sie nicht einmal mehr. Taubheit war anstelle ihrer Feinfühligkeit getreten.

Eine dumpfe Kerze erleuchtete das Zimmer. Ihr Licht wurde von den Kristallen an der Wand eingefangen, und anschließend in tausend neue Richtungen verteilt. Der Duft von Elfenmagie wirbelte durch die Luft, honigsüß und blumig. Zaghaft trat Marthe auf die in der Mitte stehende Wiege zu und beugte sich ein Stück weit darüber. Ihr Dolch bohrte sich dabei etwas in ihren Oberschenkel hinein. Der spitze Schmerz durchfuhr sie wie ein Stromschlag, rief ihr erneut ins Bewusstsein weshalb sie hier war. Es war eine Sache Verrat am eigenen Land zu begehen, es war etwas vollkommen anderes das Leben aus den gutgläubigen Augen eines kleinen Mädchens weichen zu sehen, dessen Zukunft noch nicht geschrieben war.

„Nicht weinen, kleiner Stern", liebevoll strich Marthe der Prinzessin eine Strähne aus dem Gesicht, ließ ihre Fingerspitzen einen Moment auf der winzigen, warmen Stirn ruhen. Sie war nicht ihre eigene Tochter, doch die gemeinsam verbrachte Zeit hatte ein unsichtbares Band zwischen ihnen hergestellt. Sie verstanden einander. „Es ist alles gut", je mehr Lügen sie erzählte, desto ehrlicher klangen sie. Diese Nacht war schon vor Jahrhunderten verflucht worden, sie würde das gesamte Reich der Elfen in einem unaufhörlichen Zustand der Verwüstung versinken lassen. Wenn ihr Auftrag erst einmal ausgefüllt war, würde es keine Gesetze mehr geben, denen man Folge leisten musste. Jeder würde um sein eigenes Leben kämpfen.

„Es ist alles gut", wiederholte sie. Leere Worte, denn der Zeitpunkt für Worte war schon längst verstrichen. Worte würden nicht mehr genügen, um das Schicksal aufzuhalten, das bereits auf den Fersen des Königreichs, auf den Fersen des gesamten Landes lauerte. Und auch Lisanda schien dies zu verstehen. Ihre Schreie nahmen unaufhörlich an Lautstärke zu.

Dann verstand sie. Das Kind weinte nicht, weil es etwas benötigte; nicht, weil es ihm schlecht ging. Es weinte, weil es gespürt hatte, dass etwas nicht stimmte. Der Geruch von Rauch stieg Marthe mit einer abrupten Intensität in die Nase, blockiert ihre anderen Sinne vollkommen. Plötzlich konnte sie an nichts Anderes mehr denken, als an das Brennen in ihrer Nase, als an den beißenden Geschmack von Sprengstoff auf ihrer Zunge. Sprengstoff. Ein Schwall Luft flüchtete erschrocken aus ihrer Lunge, ihre Finger begannen unaufhaltsam zu zittern. Eine Explosion war kein Teil des Planes, den sie mit dem Fremden besprochen hatte. Es war ihre Aufgabe gewesen, Chaos im Palast zu stiften. Sie hätte die Mörderin der Königlichen Familie sein müssen. Irgendetwas war vollkommen schiefgelaufen, aber was auch immer das war, sie würde es niemals herausfinden.

Der Boden schien unter ihren Füßen zu schwinden, als die Erkenntnis mit brutaler Kraft auf sie traf: sie würde in dieser Nacht ihr Leben zurücklassen, sie würde sterben. Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte jemand ihr erzählt der Tod würde so schnell kommen, dass man ihn nicht einmal wirklich bemerken würde. Nun wusste Marthe es besser. Die letzten Sekunden schienen sich vor ihr wie die Ewigkeit zu erstrecken. Ihr blieb genug Zeit, um den aggressiven Schmerz der Hilflosigkeit in ihrem Kopf, das immense Schütteln der Furcht in ihren Gliedern und die verschwendeten Tränen der Enttäuschung auf ihren Wangen zu spüren. Wünsche und Träume lösten sich in Luft auf, machten dem alles durchdringendem Zustand der Panik Platz. Der Tod war unausweichlich, er konnte jederzeit kommen und trotzdem glaubte man bis zum Schluss vor ihm sicher zu sein.

In einem letzten Entschluss schlang Marthe ihre Arme um den zerbrechlichen Körper der kleinen Prinzessin. Sie wusste nicht, ob es ein verzweifelter Versuch war diese zu beschützen, oder eine sinnlose Suche nach etwas Halt in ihrer eigenen Angst. Aber sie hielt so lange fest, bis die Herzen des Königspaares nicht mehr in einem gemeinsamen Takt schlugen, bis die Sterne über ihnen zu verblassen begannen, bis die Hitze sich in ihren eigenen Rücken brannte.

Sie war keine Mörderin.

Das Geschrei verstummte.

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AUTHOR'S NOTE
Ich entschuldige mich für den langen Prolog voller Informationen, und hoffe es hat vielleicht ein wenig Spaß gemacht diesen zu lesen. Bitte seid nicht zu streng mit mir, es handelt sich um den ersten Entwurf des Kapitels. Sollten euch Fehler (vor allen Dingen Flüchtigkeitsfehler) auffallen, lasst es mich gerne wissen. Es ist gerade kurz vor eins und ich bin nur froh, endlich wieder etwas hochgeladen zu haben.
Tausend Dank schon einmal für das Lesen und Aushalten!

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