Kapitel 1

"Ich werde mit dir kommen, ob du es willst oder nicht." Voller Trotz traf mich der feurige Blick meiner Schwester. Ihre Arme hielt sie demonstrativ vor ihrer Brust verschränkt, während ihre Beine schulterbreit auseinanderstanden, um mir die Tür und somit auch den Weg nach draußen zu versperren. Immer wenn sie ihr Gewicht ein wenig verlagerte, knarzten die morschen Holzdielen unter ihren Füßen und erinnerten mich barsch daran wie renovierungsbedürftig das Haus war. Obwohl Lymara sich die größte Mühe damit gab die Luft mit ihrer ungezügelten Entschlossenheit knistern zu lassen, spürte ich die Unsicherheit in ihrem Herzen brodeln.

"Nein." Dutzende Male hatte sie darum gebeten mich auf den Markt begleiten zu dürfen. Dutzende Male hatte ich ihr die gleiche Antwort darauf gegeben. Und dutzende Male hatte sie daraufhin ihre Unterlippe etwas nach vorne geschoben, nur um schließlich aufzugeben und beiseite zu treten. Der frostige Wind ihrer Enttäuschung zersplitterte beim bloßen Gedanken daran mein Herz, ich musste es dazu zwingen weiterzuschlagen, nicht aufzugeben.

"Raelia." Bedacht ließ sie meinen Namen einige Sekunden lang in dem leeren Raum zwischen uns hängen. In der kurzen Stille, die entstand, hörte ich sie tief ein und wieder ausatmen. "Es sind auch meine Kleider." In ihre zuvor forsche Stimme war eine Sänfte eingekehrt, harmonisch wie die Klänge einer vertrauten Melodie. Es war genau die Stimme, die sie auch sonst nutzte, wenn sie glaubte nicht anders an ihr Ziel zu gelangen, wenn die Verzweiflung bereits am Saum ihres Kleides zupfte.

"Das ist kein Ort für dich", erklärte ich. Alles in mir sträubte sich dagegen sie mitzunehmen. An jeder Ecke Terondyas wimmelte es nur so vor Leid und Gefahren. Mit ihrem Honiglächeln und ihrem Porzellanherzen war meine Schwester die letzte Person, die sich dort aufhalten sollte. Sie kannte die Menschen nicht, die sich dort herumtrieben, die Armut und die Angst auf ihren schwachen Schultern lastend. Ich war mir sicher, dass ihr gütiges Herz beim bloßen Anblick dessen brechen würde. Ihr gütiges Herz, das mir jeden Morgen aufs Neue Kraft zum Weitermachen schenkte. Sie würde zu einem Abbild meiner selbst werden und das durfte sie nicht, denn ich wusste nicht, ob ich es ertragen würde. Ich ertrug es kaum mein eigenes Gesicht im Spiegel zu sehen.

"Für dich aber schon?", fragte sie erwartungsvoll.

"Vielleicht." Die Worte verwandelten sich auf meiner Zunge zu einem Fauchen. Langsam kroch die Wut in mir herauf, schmiegte sich an meine Seele. Ich wusste, dass es keinen Grund dafür gab so mit ihr zu sprechen, denn an ihrer Stelle hätte ich mit Sicherheit nicht anders gehandelt. Aber ich wusste auch, was die Stadt zu bieten hatte. Menschen, wie wir es waren, mochten in Failea zwar auf dem Papier die gleichen Rechte wie die Elfen besitzen, doch das war eine Farce. Ein Schauspiel, um uns ruhig zu stellen und die Illusion von Gerechtigkeit zu schenken. Im Grunde waren wir machtlos, den Spielen des Schicksals ohne jeglichen Schutz ausgeliefert. An jeder Ecke der Stadt spürte man diese unausweichliche Feindseligkeit und, wenn man nicht gut genug aufpasste, wurde man schnell zum Opfer bitterer Racheszüge. "Ich möchte nur nicht..."

"Ich weiß", unterbrach sie mich. Vereinzelt trafen morgendliche Sonnenstrahlen auf das tiefe Braun ihrer Augen, sodass die Ehrlichkeit und Wärme in ihnen aufschimmerte. Es war das gleiche Braun, das auch in meinen Augen Zuflucht fand. Das Braun unseres Vaters. "Bitte." Scharf zog ich die Luft ein, meine Hände ballten sich zu Fäusten und die grob geschnittenen Fingernägel, die sich in meine Haut hineinbohrten, ließen ein stumpfes Stechen durch meinen Körper hindurchsickern.

Sie würde nicht aufgeben. Wenn ich ihr heute nicht erlauben würde mitzukommen, würde sie morgen wieder vor der Tür stehen, wir würden das gleiche Gespräch führen und den Kreislauf von vorne beginnen lassen. Und langsam, Stück für Stück, würden diese winzigen, aber ständigen Auseinandersetzungen Risse in unserer Beziehung entstehen lassen, bis wir schließlich auseinanderfallen würden. Bis ich sie endgültig verlieren würde. Ein eisiger Schauer zog an meinem Rücken entlang, machte mir die Entscheidung bewusst, vor der ich früher oder später stehen würde. Und wenn ich sie nicht selbst treffen würde, würde die Zeit sie mir abnehmen.

"Gut", noch während ich sprach, verfluchte ich mich selbst. Auf meiner Zunge breitete sich ein säuerlicher Geschmack aus, so als wollte er mir mitteilen, dass mein Vorhaben von Grund auf falsch war und, dass ich mich dadurch selbst endgültig verdammen würde. Vor einigen Monaten, als unser Vater verstorben war und uns mit nichts anderem als den Erinnerungen an glücklichere Zeiten zurückgelassen hatte, hatte ich nicht nur ihm versprochen Lymara vor allem Übel dieser seelenlosen Welt zu schützen, sondern auch mir selbst. Der Entschluss, den ich im Durcheinander meiner eigenen Gedanken getroffen hatte, würde alle Versprechungen in Scherben zerbersten lassen.

"Was?" Ungläubig legte meine Schwester ihren Kopf schief, ihre Augenlidern flatterten wie die gläsernen Flügel eines Schmetterlings. So zerbrechlich und doch so stark.

"Du darfst mitkommen. Aber danach möchte ich nie wieder darüber reden." Es fühlte sich an, als würde ich das Geschehen von außen beobachten, vollkommen machtlos. Ich wollte nichts davon. Ich wollte das unscheinbare bisschen Glück, das uns geblieben war, so lange wie möglich aufbewahren, wollte es auf ewig in einem Glas einfangen.

"Wirklich?", hakte sie nach.

"Wirklich."

"Danke." Plötzlich schlang sie ihre Arme um meine Schultern und zog mich in eine innige Umarmung. Ihr Körper war warm, weckte in mir das Gefühl von Geborgenheit und Hoffnung. Wir hatten gemeinsam allen Schwierigkeiten getrotzt, waren den blutigen Fängen des Lebens, die uns jagten, jeden Tag aufs Neue entkommen. Wir würden auch diesen Tag überleben. Das war es schließlich was wir waren: Überlebende.

"Zieh' dir etwas Passendes an." Ich schob sie ein Stück weit weg von mir. Noch immer trug sie ihr einfaches Nachthemd aus Leinen, das sie vor einigen Jahren mit hübschen Stickereien von Blumen geschmückt hatte. Tulpen und Rosen rankten sich nun um ihr Dekolleté und ihre Ärmel. "Ich packe solange die Kleider zusammen."

Ich erkannte das heimliche Zucken ihrer Mundwinkel, die vergeblich versuchten ein Lächeln zu verbergen. Sie mochte keinerlei Wissen über Elfenmagie besitzen, aber sie war auf ihre vollkommen eigene Art eine Zauberin, denn mit ihrem Lächeln zauberte sie ein Strahlen in meine Brust.

Ohne ein weiteres Wort löste sie unsere Umarmung endgültig auf und huschte an mir vorbei, das Echo ihrer aufgeregten Schritte hallte noch einige Sekunden lang nach. Seufzend wandte ich mich den Kleidern zu, die wir wie immer auf dem kleinen Holztisch ausgebreitet hatten. Auf den ersten Blick sahen sie alle gleichermaßen wunderschön aus, doch wenn man genauer hinsah, erkannte man den Unterschied zwischen Lymaras und meinen Werken. Ihre Stiche waren feiner, ihre Maße genauer und ihre Farbkombinationen angenehmer anzusehen. Wir beide wussten, dass sie das größere Nähtalent besaß. Aus den einfachsten Stoffen konnte sie Kleider entstehen lassen, die einer Königin würdig waren. Behutsam ließ ich meine Finger über den Stoff wandern, der die vermeintliche Schönheit durch seine raue Oberfläche als bloßen Betrug enttarnte. Wir besaßen nicht genug Geld, um die seidenen Stoffe zu zahlen, die eine Königin tatsächlich tragen würde. Wir waren einfache Schwindler, wie so viele es in den Gassen der Stadt auch waren.

Ich nahm die Kleider vom Tisch und legte sie in den mittlerweile viel zu kleinen Leiterwagen. Entlang der Holzstangen setzte sich bereits das Moos ab und die wenigen Metallschrauben, die das Gestell zusammenhielten, umhüllte ein Mantel aus Rost. Aber er funktionierte noch, ebenso wie wir es taten. Ebenso wie ich es tat.

Gerade als ich die Tür öffnete, den Wagen hinter mir herziehend, betrat Lymara den Raum erneut. Dieses Mal trug sie eines ihrer eigenen Kleider. Der luftige Rock tanzte in einer Symphonie aus blauen und grünen Tönen um ihren zierlichen Körper herum.

"Kann es losgehen?"

"Natürlich." Die Vorfreude erhellte ihr Gesicht, verlieh ihm einen frischen Hauch roter Farbe, den ich lange nicht mehr gesehen hatte.

Der Morgen hatte die Nacht erst vor kurzer Zeit vertrieben, das Licht der Sterne war dem der Sonne noch nicht vollständig gewichen. Frische Tautropfen ruhten auf Grashalmen, Blättern und Ästen vor unserer Tür. Die kühle Luft, die im Laufe des Tages eine unerträgliche Hitze annehmen würde, kitzelte auf meiner Nasenspitze und hinterließ eine Gänsehaut auf meinen Armen.

Von unserem Dorf aus führten mehrere Wege in die Stadt. Ich entschied mich heute für die Hauptstraße. Hier fuhren zwar die meisten Kutschen lang, weshalb wir ständig anhalten und platzmachen mussten, aber es war auch am sichersten. Landstreicher und Diebe bevorzugten die versteckteren, schnelleren Pfade der Wälder.

Lymara erzählte mir von ihren lebhaften Träumen und ihren neuen Entwürfen, jedes noch so kleine Detail beschrieb sie mit einer liebevollen Begeisterung. Erst der Anblick des Marktplatzes brachte sie zum Schweigen. Der beißende Gestank von totem Fisch und altem Meerwasser brannte in meiner Nase wie lodernde Flammen. Erbarmungslos zwang er mich dazu durch den Mund zu atmen, während wir uns an der müffelnden und schimpfenden Menge vorbeidrängten. Es gab viele Orte in der Stadt, die ich nicht ausstehen konnte. Der Markt aber war bei Weitem der Schlimmste von ihnen. Hier konnte man der elendigen Armut der Menschen, die den wenigen Goldmünzen mit gierigen Blicken hinterhersahen, nicht entfliehen. Sie lag wie ein trister Schleier über den zahlreichen Ständen, schwebte entlang der Wege wie ein unsichtbarer Begleiter. Allein das Meer, das man nur vage erahnen konnte, bot ein wenig Zuflucht. Wann immer die Übelkeit meinen Hals hinaufzukriechen drohte, konzentrierte ich mich auf das sanfte Wellenrauschen in meinem Ohr. Es half mir den üblen Geruch zumindest für einen Moment zu vergessen. Ich fragte mich wie Lymara neben mir es schaffte keinen angeekelten Ton von sich zu geben. Ihre Miene blieb ruhig, unbeeindruckt, dennoch stach sie mit ihren lebendigen Augen, die in den tausenden Farben des Lichts schimmerten, zwischen all der dreckigen Eintönigkeit hervor. Sie gehört nicht hierher, nicht so wie ich es tat. Schon als kleines Kind hatte unser Vater mich hierhergebracht, hatte mir die Grundlagen des Handels beigebracht und anschließend voller Stolz dabei zugesehen, wie ich mein erstes Stück Brot für eine Bronzemünze kaufte. Lymara hatte damals nicht einmal ihr achtes Lebensjahr erreicht, sie war noch zu jung für die Wahrheit dieses scheußlichen Lebens gewesen. Dennoch hatte ein Teil in mir immer gewusst, dass dies nicht der einzige Grund dafür war, dass er sie nie mit in die Stadt nahm.

Der Stand, an dem ich unsere Kleider verkaufte, gehörte Sevan, einem jungen Halbelfen, dessen Geschäft sich auf Waffen spezialisierte. Früher hatten sich unsere Väter die kleine Bude mit dem blauen Dach der Wellenlande geteilt. Der genaue Grund dafür war mir immer ein Geheimnis gewesen. Vor einigen Jahren hatte ich etwas von einem Gefallen mitbekommen, den Sevans Vater meinem eigenen schuldete. Immer wieder hatte ich meinen Vater darum gebeten mir davon zu erzählen, und immer wieder hatte er mir geschworen es an meinem achtzehnten Geburtstag, wenn ich alt genug war, zu tuen. Jetzt war er davongegangen, hatte die versprochene Geschichte mit sich ins Grab getragen und ein schwarzes Loch in meinem Herzen wüten lassen.

"Guten Morgen, Raelia", grüßte Sevan mich mit kratziger Stimme. Flüchtig streifte sein leerer Blick zu mir hinüber. Sein dunkles Haar hing ihm trostlos über die schlaffen Schultern, seine Haut wirkte im Schatten beinahe gräulich. An manchen Tagen erinnerte er mich an die Silhouette eines Geistes. Wir kannten einander zwar nicht sonderlich gut, unsere Gespräche blieben meist beim Geschäft, dennoch wusste ich, dass das Leben auch ihn nicht gesegnet hatte. Seine einst spitzen Ohren, die seine Elfenherkunft bezeugten, waren gestutzt worden. Ein Zeichen der Verstoßung, er war nicht mehr länger ein Teil von ihnen, ein Ausgestoßener und Verurteilter. Ich hatte mich nie getraut zu fragen warum.

Ich versuchte ihm ein aufrichtiges Lächeln als Antwort zu schenken, doch das Ziehen meiner Mundwinkel verriet mir, dass es vermutlich vielmehr einer Grimasse glich. "Guten Morgen."

Lymara half mir beim Ausladen der Kleider, ordnete sie auf der Ablage des Standes hübsch an und leistete mir Gesellschaft dabei der Zeit zu trotzen. Die Stunden verstrichen mit erdrückender Geschwindigkeit, viel zu langsam, um sie mit einem Lachen zu ertragen und viel zu schnell, um auch nur eines der Kleider zu verkaufen. Jede Minute fühlte sich an wie ein grausamer Messerstich in meiner Brust.

Es war schon beinahe Abend als ein junger Elf auf das Kleid aufmerksam wurde. Er war in Eile, seine Schritte groß und hastig. Doch bei dem Anblick des Kleides blieb er ruckartig stehen, vergaß scheinbar sein Vorhaben. Vorsichtig, fast schon zärtlich strich er über den tiefblauen Stoff. So wie er waren in der Vergangenheit bereits vor Lymaras Kleidern stehengeblieben, hatten ihre Schönheit bewundert und voll aufrichtiger Interesse nach den Preisen gefragt. Aber kaum hatten sie erkannt, dass es sich bei der Verkäuferin um einen einfachen Menschen handelte, hatten sie bloß den Kopf geschüttelt und waren hinter dem nächstbesten Stand verschwunden. Jedes Mal hatte es mich eine Menge Selbstbeherrschung und einen kräftigen Biss auf die Zunge gekostet, um nicht hinterherzulaufen und ihnen mit flackernder Wut in den Augen klarzumachen, dass sie die Monster dieser Gesellschaft waren, und, dass es ihre Vorurteile waren, die uns alle irgendwann einmal in den Ruin treiben würden. Mein Verstand hatte mich immer zurückgehalten. Es hätte ohnehin nichts gebracht.

"Es ist...", setzte er gedankenverloren an, hielt dann allerdings inne.

"Umwerfend", beendete ich seinen Satz. Er hob seinen Blick ein wenig und verlagerte seine Aufmerksamkeit von dem Kleid hin zu mir. Zum ersten Mal erkannte ich seine Gesichtszüge, die weichen Kanten seiner Wangen und das stechende Elfenblau seiner Augen. Er sah aus wie ein Prinz aus einem der Märchen, die wohlhabendere Kinder vorgelesen bekamen. Märchen, in denen Träume erfüllt wurden und Hoffnungen nicht in Trümmern zerfielen. Märchen, die das Grauen der Realität verbargen.

"Ist das Ihr Werk?" fragte er, die Finger noch immer auf dem Stoff ruhend.

"Nein", ich schüttelte meinen Kopf, spürte dabei das schwermütige Spiel meiner Lippen. "Das war meine Schwester."

"Ich hätte gerne ein Jackett." Seine Anfrage kam so abrupt, so vollkommen unerwartet, dass ich ihn einige Sekunden lang nur anstarren konnte. Das Blut gefror in meinem Gesicht, zwang jegliches bisschen Farbe dazu zu weichen.

"Wir nehmen keine Aufträge an", erwiderte ich knapp und wandte mich ein Stück weit von ihm ab. Das Gespräch war für mich beendet.

"Ich kann gut bezahlen", beharrte der Fremde. Seine scharfen Ohrspitzen wippten erwartungsvoll auf und ab. "Im Voraus."

"Wir nehmen keine Aufträge an", wiederholte ich, spürte dabei wie sich mein Kiefer anspannte. Die Wunden der Vergangenheit waren zu frisch, die Erinnerungen an meinen eigenen Fehltritt zu schmerzhaft. Nie hatte ich mich selbst für naiv gehalten. Ich wusste wie man auf dem Markt zurechtkam, immerhin hatte mein Vater mir alles Notwendige beigebracht. Kurz nach seinem Tod wurde ich eines Besseren belehrt. Es war das erste Mal, das ich unsere Kleider verkaufte. Die Angst nicht genug Geld zu verdienen hatte mich wahnsinnig gemacht, mir den Verstand aus den Adern gesaugt. Die Elfe hatte mich genau im richtigen Moment erwischt, verzweifelt und verängstigst. Sie hatte nach einer Maßfertigung gefragt, ein prachtvolles Kleid aus Rot und Gold. In meinen Erinnerungen hatte sie ein rundes Gesicht und volle Lippen, die mit gütiger Stimme sprachen. Das Geld hatte sie nicht dabei, doch sie bat mir an die gewünschten Stoffe selbst zu kaufen. Müde und blind hatte ich ihr vertraut, hatte ihr die Münzen, die mir noch blieben, geliehen. Ich sah sie und das Geld nie wieder. An diesem Tag hungerte ich.

"Ich bitte Sie..."

"Ich mache es", mischte sich Lymara in das Gespräch ein. Ich hatte nicht bemerkt wie sie neben mich getreten und ihre Hand beruhigend auf meiner Schulter platziert hatte. Zum ersten Mal erkannte ich wie erwachsen sie in den letzten Jahren geworden war. Ihr einst kindliches Benehmen war einer besonnenen Ruhe gewichen und ihre naive Abenteuerlust hatte sich zu einer raffinierten Höflichkeit gewandelt. Unsere Eltern wären stolz auf sie gewesen, hätten sie sie in diesem Moment sehen können. "Wir können das Geld gut gebrauchen."

"Wir haben keine Stoffe hier", erwähnte ich.

"Der Stoff ist mir gleich", fuhr der Elf dazwischen. Sein gebräuntes Gesicht glühte vor Entschlossenheit, zauberte eine dezente Röte in seine Wangen.

"Wir haben auch kein Papier, um einen Entwurf aufzuzeichnen", fuhr ich fort.

"Der Entwurf ist mir ebenso gleich",

"Wie ist Ihr Name?" schritt Lymara erneut ein.

"Robin."

"Robin", nickte sie langsam, wie um sich den Namen besser einzuprägen. "Wann würden Sie das Jackett gerne abholen?"

"In einer Woche", schlug er vor.

"In Ordnung", stimmte sie zu, ignorierte mein heftiges Kopfschütteln. "Das sollte ich schaffen."

"Vielen Dank." Aus seiner Hosentasche holte er eine elegante Geldbörse hervor. Sie war von einem simplen Schwarz, doch die Nähte stachen silbern hervor. Er war nicht bloß ein Elf, er war wohlhabend und einflussreich. Und ich traute seinen Absichten nicht im Geringsten. "Ich kann Hundert Goldstücke anbieten."

Mein Herz blieb kurz stehen. Ich war mir nicht sicher, ob ich eine solche Menge Geld jemals zuvor gesehen hatte. Nicht einmal das Ersparte meines Vaters kam an diese Summe heran.

"Zweihundert", entgegnete Lymara bestimmt, nicht geringste Funke von Überraschung in ihren Augen. "Hundert heute, und hundert bei der Abholung."

Seine Lippen formten ein breites Grinsen. "In Ordnung."

"Auf Wiedersehen, Robin."

"Wir sehen uns." Mich beschlich das unheimliche Gefühle, dass er die Wahrheit sprach, dass er nicht mehr so schnell aus unserer Leben verschwinden würde.

Und ich schwieg. Schwieg bis er verschwunden war. Schwieg bis mein Herz aufgehört hatte zu rasen. Schwieg bis die Worte es nicht mehr länger in meinen Gedanken aushielten: "Du musst das nicht machen."

"Ich weiß", ihr Lächeln war hoffnungsvoll wie die letzten Sonnenstrahlen des Tages. "Aber vielleicht hilft es uns. Vielleicht ist es an der Zeit etwas Neues auszuprobieren."

Ich schluckte schwer. Ich hatte ihr niemals von dem Vorfall erzählt, von der Angst, die ich seither mit mir herumtrug. "Danke", war das einzige, das ich hervorbrachte.

Das Essen war an diesem Abend so köstlich wie schon lange nicht mehr. Nachdem wir unsere Kleider wieder zusammengeräumt hatten, hatte Lymara darum gebeten noch ein wenig über den Markt zu spazieren. Obwohl mein Körper sich nach einem Bett und etwas Schlaf sehnte, konnte ich ihr diesen letzten Wunsch nicht abschlagen. Wir fanden frisches Gemüse und sogar etwas Fisch, der nicht nach alten Socken stank. Gemeinsam hatten wir aus den Zutaten ein Gericht entstehen lassen, das Lymara anschließend liebevoll auf den Tellern angerichtet hatte. Selbst unsere Becher waren gefüllt mit Elfenwein. Als einfacher Mensch waren die Leckereien der Elfen nahezu unerreichbar. Die Preise waren so unverschämt hoch, dass man sich nichts davon leisten konnte, wenn man sein Geld auf dem Markt verdiente.

"Ich habe einmal gehört, dass Elfenwein für alle anders schmeckt."

"Lass' es uns herausfinden", schmunzelte ich, während ich meinen Becher etwas anhob. In diesem Augenblick schienen mir meine Sorgen so fern, so fremd. Die letzten Monate waren ein einziger, unerträglicher Kampf gewesen. Heute konnten wir den Abend genießen, uns vorstellen wie unser Leben gewesen wäre, wenn wir zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort auf die Welt gekommen wären. Wenn wir jemand anderes gewesen wären.

"Auf uns", strahlte meine Schwester.

"Auf uns", stimmte ich zu.

Das Klirren beim Aufeinandertreffen unserer Becher war bei Weitem nicht so melodisch wie das der Kristallgläser, die man in den Palästen Faileas besaß, aber das war uns nicht wichtig. Wir fühlten uns trotzdem wie die Ladies der Wellenlande, die Prinzessinnen der Sonnenstadt. Warm floss die Flüssigkeit unsere Kehlen hinab, begann damit unsere Sinne zu betäuben und unsere Wünsche erreichbarer scheinen zu lassen.

"Kirschen", stellte Lymara fest, leckte sich noch einmal genüsslich mit der Zunge über ihre Lippen. "Definitiv Kirschen. Und Rosen."

"Nein", ich schüttelte energisch den Kopf. Nur einmal zuvor hatte ich Alkohol getrunken, einen einfachen Whiskey, und selbst das war schon einige Jahre her. Jetzt prasselte die Wirkung des Getränks auf mich hinab wie tausende Kometen. "Sterne." Tatsächlich verwandelt das bittere Prickeln des Weines meine Zunge und meine Lippen zu einem Sternenhimmel. Überall meinte ich die kalte Nachtluft und das warme Funkeln zu spüren. Es war kein wirklicher Geschmack, den ich vernahm, sondern ein Gefühl.

"Bist du verrückt?", lachte Lymara auf, in ihren Augenwinkeln sammelten sich winzige Freudentränen.

"Möglich", ich stimmte in ihr Lachen ein. Ich verstand warum Elfenwein süchtig machte. Mit einem Mal war alles so einfach, die Last der letzten Jahre fiel binnen weniger Sekunden von unseren Schultern. Wieder führte ich den Becher an meine Lippen. Noch während ich trank, rutschte der Becher etwas aus meinem Griff. Im letzten Moment schaffte ich ihn davor zu bewahren hinabzufallen, aber etwas von der Flüssigkeit war ihm bereits entflohen.

"Mist", fluchte ich. Der Wein befleckte sowohl mein Kleid, als auch meine Finger. Süßlich klebte er auf der Haut, unter den Nägeln und in der Luft.

"Brauchst du Hilfe?" erkundigte sich Lymara sofort.

"Es geht schon." Rasch stand ich von meinem Stuhl auf, trat auf das kleine Waschbecken der Küche zu und öffnete den Wasserhahn. Das eisige Wasser rann über meine Finger und ließ mich kurz zusammenzucken. In der Stadt erzählte man sich davon, dass die adeligen Elfen warmes Wasser besaßen, doch falls etwas Derartiges existierte, hatte ich es noch nie gesehen.

Plötzlich wandelte sich die schrille Kälte in ein stechendes Brennen. Die Tropfen wurden auf meinen Händen zu winzigen Klingen. Erbarmungslos schienen sie meine Haut aufzuschneiden. Das klare Wasser nahm einen rötlichen Ton an. Ein schriller Schrei entwich meiner Kehle, noch bevor ich darüber nachdenken konnte ihn hinunterzuschlucken. Die Welt stand einen Moment lang still und als mein Bewusstsein mich wieder eingeholt hatte, hatte ich meine zu Fäusten geballte Hände bereits aus dem schmerzhaften Nass gezogen. Zitternd öffnete ich sie und erkannte sofort, woher der Schmerz stammte. Tausende winzige Schnitte zierten meine Handflächen wie blutige Fäden.

Schnitte in der Form einer Welle.

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AUTHOR'S NOTE
Wenn ihr euch durch die tausenden Worte gelesen habt, dann schenke ich euch hiermit meinen höchsten Applaus un meinen ehrlichen Dank. Sonderlich zufrieden bin ich mit dem Kapitel nämlich nach erneutem Lesen nicht mehr, unter Anderem auch, weil ich es irgendwann nur noch in der Hastigkeit meines eigenen Wunsches es heute hochzuladen, verfasst habe - deswegen wäre ich auch unheimlich dankbar für jede Kritik, die ihr auf Lager habt. Sei es die Wortwahl, die Rechtschreibung oder die Grammatik (meine Kommasetzung ist ein absolutes Schrecken). Es wäre mir eine absolute Ehre ein wenig Hilfestellung zu bekommen.
Merci beaucoup!

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