Rotweinblau | Safiye
«Ein dumpfes Ploppen durchbrach den Raum, eine Flasche ging auf, Champagnerschaum.
Auf ein Glass wurdeverzichtet, Flasche an die Lippen, die Finger leicht verkrampft, aufgeregtes Fingertippen.»
* * *
Mit unterdrückten Tränen und ohne sich von jemademzu verabschieden öffnete sie die Türen aus dem «Martin-Luther-Gymnasium für Wirtschaftswissenschaften». Millionen kleiner Tropfen stürmten zielstrebig zu Boden, trafen auf, formierten sich in Pfützen. Es regnete, sie mochte ihn, diesen Regen. Während die kleinen Wassermoleküle kaum schnell genug an ihr Zielgelangen konnten, bewegte sich Safiye nun bestimmt, aber nicht eilig, nach Hause. Linkin Parks «In the End» lief auf ihren Ohren, gleichzeitig kreisten ihre Gedanken. Elf Punkte in Mathe, wie sollte sie das ihrer Mum erklären? Abijahr, Abschlussklasse, doch bei diesem Ergebnis bald Edeka-Kasse? «Wenn überhaupt, die Leute an der Kassemüssen ja rechnen können!» hörte sie ihre Mutter bereits im Ohr meckern. Fuck.
Ihre kraus gelockten Haare verloren zwar nicht an Volumen, klebten bei der Stirn aber leicht an ihrer Haut. Ohne es zu merken, kaute sie leicht nervös auf ihren Lippen herum und lief mit passivem Blick weiter. Mama würde nicht wütend, aber sicherlich enttäuscht sein. Und Gott bewahre, Mama zu enttäuschen ist das letzte, was sie nun noch verdient hat.
Während die Sonne langsam ihrem Feierabend entgegensehnte, blieb Safiye vor dem Fussgängerstreifen stehen. Auf der Strassemachte sich ein kleiner See breit, der Abfluss war verstopft, hatte wohl Probleme dabei, die Überreste des Herbstes zu verdauen. In der aktuellen Zeit ist es wohl für wirklich niemanden einfach, grübelte sie und entwickelte ein kleines Lächeln. Doch bevor sie zu Ende denken konnte, wurde sie von dem Aufheulen eines alten Ford Fiestas aus ihren Gedanken gerissen. «Verdammt!» schrie sie auf, und sah gerade noch das dämliche Grinsen von Nick, dem gleichen Typen, dem sie vor eineinhalb Jahren einen Korb gegeben hatte und sich bis heute wie ein infantiler Idiot benahm. Arschloch-Ratte. «Werd erwachsen» rief sie ihm noch hinterher, doch ihre Worte verstummten in mitten der abendlichen Leere. Ein Blick nach unten verriet ihr, dass sie von der Hüfte abwärts gerade genügend Wasser für ein ganzes Aquarium an sich triefen hatte und der restliche Heimweg keines Wegs angenehmer würde. Anders als in diesen High-Budget Werbefilmen von MAC fühlte sie sich nach diesem Wasserspitzer nicht wie ein sexy Partygirl, sondern vielmehr wie eine drei Jahre alte Wasserleiche aus einem Gruselfilm. «Heiss, nicht?», dachte sie ironisch zu sich selbst und trabte weiter.
Zuhause angekommen kam zuerst ein «Schätzchen, wie siehst du denn aus?!», gefolgt von einem «So kommst du mir aber nicht ins Haus, Hintereingang und ab in die Dusche!» von ihrer Mama entgegen. Dem hatte Safiye nichts zu entgegnen und wahr irgendwie sogar froh, nicht sofort nach dem heutigen Tag gefragt worden zu sein.
Zwanzig Minuten und eine heisse Dusche später stand sie mit umgebundenen Trocknungstuch und schiefem Haarturban im Zimmer. Ihre Laune hob sich, als sie bemerkte, dass eine brandneue Tube ihrer Lieblingsbodylotion auf dem Nachttischchen stand. Ein Geburtstagsgeschenk von vor zwei Monaten, jetzt nur zu ihren Diensten, um die aufgeweichte und angeschlagene Haut etwas zu belohnen.
Von ihrer neuen Motivation gepackt griff sie schnell nach der Tube, warf sie mit einer einfachen Umdrehung durch die Luft und fing sie dann mit der anderen Hand... nicht. Aber der Boden tat es.
Eine kleine Mordszene mit weissem Blut spritze und ergoss sich über Safiyes Zimmerboden. Etwas ungläubig blickte sie dem Tatort nach und liess sich langsam der Wand entlang auf ihren Po fallen. Beinahe traumatisiert starrte sie auf die auslaufende Tube und begann zuerst leise, dann etwas lauter mit einem stossartigem lach-weinen. Als ob das nicht reichte, begann gerade in diesem Augenblick ihr Handy zu vibrieren, welches sie mit den nun fettigen Fingern sicherlich nicht mehr anfassen wollte. Das ganze Spiel dauerte zwei Anrufversuche und somit zwei Minuten, bis die Szene durch ein kurzes Zusammenkneifen der Augen unterbrochen und mit dem Aufrappeln beendet wurde. Safiye ignorierte ihr Handy, drehte den CD-Player auf, schnappte sich einen Lappen und begann damit, Tatortreinigerin zu spielen.
Krampfhafte, durch Imagine Dragons allerdings ertragbare fünfzehn Minuten später erinnerten nur noch wenige Taschentücher im Müllsack an die heutige Glanztat und Safiye liess sich aufs Bett fallen. Zwar waren alle Schäden seit dem Nachhauseweg beseitigt, doch lag mit den elf Punkten noch immer die unangenehmste Aufgabe vor ihr. Sie war zwar kein Mathegenie, aber doch ziemlich intelligent und vor allem mit hohen Ambitionen unterwegs. Biochemie in Berlin war der Traum, Voraussetzung dafür aber ein Schnitt, den sie mit solchen Noten gefährden konnte. Am liebsten hätte sie jetzt einfach Ruhe. Ruhe, Zeit für sich selbst, einfach abschalten, nicht mehr über Schule nachdenken, das jetzt geniessen. Doch sie wusste bereits, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ihre Mum an der Tür klopfen und schnell merken würde, dass da was war.
Tatsächlich ging es nicht mehr lange und auf ein knappes, doppeltes Hämmern schoss die hölzerne Zimmertür bereits auf. Eine viel zu schnelle Stimme drückte unerwartet ein flaches «Schatz, ich besuche gleich Maria aus dem Sportkurs. Bin in ein paar Stunden wieder zurück, hab dich lieb» aus, welches von einem «Oh, und ich habe gerade Daves Wagen gesehen, scheint, als würdest du Besuch bekommen. Bleibt anständig!» ergänzt wurde. Bevor Safiye überhaupt reagieren konnte, verschwand die etwas kleinere, aber überaus lustige Persönlichkeit schon wieder in der Ferne. Mit einem leichten Stöhnen und unter theatralischer Mühe erhob sich die junge Dame und sah im Spiegel ihre mittlerweile getrockneten Haare, welche ehrlicherweise wie die feminine Version von Hagrids Haarpracht aussahen. Nach einem kurzen Kontrollblick und dem Verstecken einer Locke hinter ihrem Ohr fand sie sich nun vor der Haustür wieder. Jetzt wurde ihr klar, wer zuvor wohl angerufen haben musste. Auf der anderen Seite kam ihr ein breites Grinsen mit einer grossen Papiertüte entgegen. Bevor sie überhaupt ihren skeptischen Blick aufsetzen konnte, entgegnete Dave mit seiner natürlich aufgesetzten Stimme: «Keine Ahnung, was heute in der Schule passiert ist. Aber ich habe zwei Flaschen des billigsten Rotweines, zwei «Signature» McDonalds Burger und zwei Plastikbecher hier. Wollen wir, m'Lady?»
Entgegen Safiyes Willen liess sie sich von Daves Grinsen anstecken, umarmte ihn kurz zur Begrüssung und liess ihn dann eintreten. Egal was am heutigen Tag geschah, in diesem Moment gab es keinen Abistress und schlechte Gedanken mehr. Nur noch zwei pappige Burger, viele flache Witze und zwei Menschen in rotweinblau.
* * *
Frohe Feiertage. Wünsche allen eine schöne Zeit, egal an was ihr glaubt oder was ihr feiert. Seid lieb zueinander und schaut nach links und rechts, wenn ihr über die Strasse geht.
Ciao!
~N
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