Kapitel 3
Der nächste Tag brachte uns wieder in die Arena der Sportstunden – und ich wusste schon, was mich erwarten würde. Es war immer das gleiche. Jedes Mal, wenn ich in den Sportunterricht ging, hatte ich das Gefühl, mich mit einem unsichtbaren, aber sehr greifbaren Schatten herumschlagen zu müssen. Und dieser Schatten hieß Tomioka-sensei.
Er hatte etwas gegen meine langen Haare – naja, genauer gesagt hatte er etwas gegen mich. Als ob es nicht schon schlimm genug war, dass er mich in der Vergangenheit immer wieder in der Grundschule gemobbt hatte. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass er immer eine Bemerkung darüber machte, wie „männlich" ich zu sein hätte, um in seinem Unterricht mitzuhalten. Und das nicht nur wegen meiner langen Haare. Nein, es war die ganze Kombination: meine eher „weichen" Gesichtszüge, meine geringe Körpergröße und eben diese langen, dunklen Haare, die im Wind wehten, als ob ich einer dieser mysteriösen Heldinnen aus alten Legenden entsprungen wäre.
In der Grundschule war er noch der entspannte, hilfsbereite Sportlehrer gewesen. Damals hatte ich ihn Giyu genannt, weil wir uns gut verstanden hatten – und er war ehrlich gesagt ein bisschen cooler als die anderen Lehrer. Doch seitdem alles nach dem Autounfall mit Yuichiro aus den Fugen geraten war, war er anders geworden. Die letzten Jahre hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas in ihm zerbrochen war – und, naja, vielleicht war ich irgendwie auch der Auslöser. Nachdem Yuichiro bei dem Unfall gestorben war und ich übrig geblieben war, hatte Giyu-sensei mit einem Mal so eine unerklärliche Abneigung gegen mich entwickelt. Und ich, dummerweise, verstand immer noch nicht ganz, warum.
„Muichiro!" Tomioka-sensei rief mich wie immer mit diesem unangenehm scharfen Ton aus dem Nichts. Er stand da, verschränkte die Arme vor seiner Brust und musterte mich mit einem Blick, der alles andere als freundlich war.
„Was gibt's, Sensei?" fragte ich mit einem gezwungenen Lächeln, als ich mich zu ihm umdrehte. Ich wusste, was jetzt kommen würde.
„Muss das wirklich sein? Die Haare. Und dazu noch so lange! Du siehst aus wie ein Mädchen, Muichiro!" Tomioka-sensei schnaubte verächtlich, seine Stimme fast wie ein Befehl. „Komm schon, du bist ein Junge, da hat das nichts zu suchen. Nimm dir endlich die Haare zurück, damit du wirklich als junger Mann durchgehst."
Ich atmete tief ein und starrte ihn kurz an. „Ich habe sie so immer getragen. Es ist meine Entscheidung."
„Nicht in meiner Sportklasse", entgegnete er scharf, seine Augen verengten sich. „Wir haben hier Regeln. Also halt dich gefälligst daran!"
Ich seufzte, wusste aber, dass ich nichts tun konnte, um ihn von seiner Meinung abzubringen. Seit der Grundschule war er schon so gewesen, und seit dem Tod von Yuichiro hatte sich das nur verstärkt.
„Weißt du", fuhr ich fort, „du hast damals in der Grundschule nie was gesagt, als ich mit den langen Haaren hier war. Aber jetzt – jetzt hast du ständig ein Problem damit. Was ist der Unterschied?"
Er schien sich für einen Moment zu fangen, und ich spürte, dass ich ihn mit dieser Frage irgendwo erwischt hatte, wo er es nicht wollte. Aber anstatt zu antworten, warf er mir einen scharfen Blick zu und rief den Rest der Klasse zu sich.
„Wenn du meinst, du musst dich so aufführen, dann kann ich dich nicht in meinem Unterricht haben. Du wirst heute zusätzliche Runden laufen, Muichiro. Mal sehen, ob das deine Haare ein bisschen in Ordnung bringt!"
Ich drehte mich um und ging zu den anderen, während ich mir das Murren von den Mitschülern hinter mir anhörte. Manchmal war es einfach schwer, so etwas wie diesen Lehrer zu ertragen. Aber dann fiel mir wieder ein, wie er sich verändert hatte, seit dem Unfall. Und ich konnte nicht anders, als ein wenig Verständnis für sein Verhalten zu haben. Wahrscheinlich war es seine Art, mit dem Verlust von Yuichiro umzugehen.
Vielleicht war ich der einzige, der noch lebte – und vielleicht war es für ihn ein ständiger Kampf, mich anzusehen, als würde ich immer noch wie mein Zwillingsbruder aussehen. So viele Erinnerungen, so viele Erinnerungen an uns beide – und der Verlust von Yuichiro, der bei dem Unfall versuchte, mich zu beschützen, hatte Giyu-sensei in eine Person verwandelt, die ich kaum noch kannte. Er hatte mich nie direkt angestarrt oder mir Schuldgefühle gemacht, aber ich wusste, dass er mich irgendwie dafür verantwortlich machte. Ich sah es in seinen Augen.
„Was zum Teufel hast du ihm schon wieder getan?" Senjuro flüsterte hinter mir, während er neben mir auf die Startlinie stellte.
„Nichts, ehrlich gesagt", murmelte ich, ohne den Blick von Tomioka-sensei zu wenden. „Er hat einfach ein Problem mit meinen Haaren. Und wahrscheinlich auch mit mir, weil ich noch da bin, wo Yuichiro nicht mehr ist."
Senjuro schaute mich mit einem besorgten Blick an. „Muichiro..."
„Ich weiß", unterbrach ich ihn. „Ich habe keinen Plan, was ich tun soll. Aber das hat er schon seit der Grundschule, seit er mit Yuichiro und mir zusammengearbeitet hat. Vielleicht wollte er uns beide wie Brüder sehen... Aber jetzt – jetzt bin ich nur noch dieser Junge mit langen Haaren, der aus seinem Bild von uns beiden rausfällt."
Er sagte nichts. Senjuro wusste, dass ich recht hatte. Aber auch er konnte nichts tun.
„Gut, dann fangen wir mal an", rief Tomioka-sensei und klatschte in die Hände. „Auf geht's, Muichiro. Du zuerst."
Ich nickte ihm nur knapp zu, straffte meine Haltung und trat den ersten Schritt in Richtung der Laufbahn. Es war, als ob der Boden unter mir so schwer war wie der ganze Tag, aber ich hatte mich damit abgefunden, dass das Mobbing von Tomioka-sensei einfach ein Teil meines Lebens war. Aber es bedeutete nicht, dass es richtig war.
Und so liefen wir – und ich wusste, dass ich diese Herausforderung auf meine Weise meistern musste.
Nach dem Sportunterricht, der immer wieder eine Qual für mich war, war es endlich Zeit für Mathematik – und das bedeutete, dass wir Shinazugawa-sensei, unseren Mathematiklehrer, wiedersehen würden. Es war schwer, ihn nicht mit Genya zu verbinden, zumal sie Brüder waren und ich ständig an ihn dachte, auch wenn er in Amerika studierte. Genya hatte das letzte Jahr bei uns noch mit einem lässigen Lächeln und seinem humorvollen Wesen durchgezogen, aber was mich am meisten beeindruckte, war, wie er so ruhig geblieben war, als er von Shinazugawa-sensei behandelt wurde. Während ich in der ersten Reihe saß und versuchte, der besten Mathe-Note meines Lebens hinterherzujagen, wusste ich, dass Genya irgendwann in Amerika gerade damit beschäftigt war, das komplette Mathebuch zu zerlegen, um die Komplexität des gesamten Universums zu verstehen.
Aber zurück zu Shinazugawa-sensei. Mein Blick wanderte zu ihm, als er das Klassenzimmer betrat, mit seinen typischen finsteren Augen, die einem so ziemlich das Gefühl gaben, dass er mit einem einzigen Blick ein ganzes Dorf in die Knie zwingen könnte. Er war groß, mit markanten Gesichtszügen, die genauso durchdringend und einschüchternd waren wie sein Gebaren.
„Setzt euch!", brüllte Shinazugawa-sensei, als er den Raum betrat und die Tafel mit einer langen Kreide überzog. „Wir haben heute viel zu tun. Wer hier noch nicht weiß, wie man mit Zahlen umgeht, kann sich gleich abmelden!"
Ich zuckte zusammen und senkte den Blick, während ich mich setzte. Die anderen Schüler taten es mir nach, und ich wusste, was jetzt kommen würde. Ich war in der Klasse als der Streber bekannt, derjenige, der immer die besten Noten hatte und sich nie beschwerte. Aber im Gegensatz zu Genya, der das gleiche Niveau in seinen Leistungen erreichte, war ich derjenige, der unter dem Radar flog – der, den Shinazugawa-sensei immer mit dieser Mischung aus Erleichterung und Ärger betrachtete, als ob er mir eine Art stilles „Du bist zu gut für uns" zuwerfen wollte.
Shinazugawa-sensei drehte sich um und fuhr fort, Zahlen auf die Tafel zu schreiben. „Wer mir als Erstes diese Aufgabe löst, bekommt einen Bonus!"
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich wusste, dass das „Bonus" für Shinazugawa-sensei eher eine Form der Erpressung war – wer die Aufgabe richtig löste, durfte sich sicher sein, dass er in den nächsten Wochen kein weiteres, grimmiges „Arbeiten bis zum Umfallen"-Gespräch von ihm hören würde.
Aber dann kam der Punkt, den ich eigentlich vermeiden wollte. Shinazugawa-sensei fixierte mich mit seinem Blick, als er die Tafel betrachtete, und ohne Vorwarnung, als ich meine Hand hob, um eine Lösung zu präsentieren, sagte er mit einem Schmunzeln:
„Ah, Muichiro. Natürlich, der Streber muss natürlich gleich wieder alles wissen. Aber wenn du es so toll drauf hast, warum haust du dir nicht mal etwas Schwierigeres rein, hmm?"
Ich ließ meine Hand sinken, ohne zu antworten. Es war schwer, mit ihm zu argumentieren, und er wusste, dass ich jedes Thema im Schlaf erledigen konnte. Aber das bedeutete nicht, dass er mich nicht bei der nächsten Gelegenheit zurechtweisen würde.
„Aber warte", fuhr er fort, „wir sind hier, um zu lernen. Und das bedeutet, dass wir es alle auf die gleiche Weise tun – auch du, Muichiro."
Er trat einen Schritt auf mich zu, und ich konnte seinen Zorn förmlich spüren. Ich wusste, dass er mich manchmal übertrieb, um uns alle zu „motivieren". Aber ich hatte diesen Gesichtsausdruck, der alles zu einer kleinen persönlichen Herausforderung machte.
„Wenn du die Lösung schneller lösen kannst als ich hier, kriegst du dein Bonus. Aber wehe, du verhaust sie." Shinazugawa-sensei grinst nun mit einem gefährlichen Funkeln in seinen Augen. Der Druck war so greifbar, dass ich sogar den anderen Schülern ansah, wie sie sich unbehaglich im Sitz hin und her rutschten.
„Ich werde sie lösen", antwortete ich ruhig und setzte den Stift an. Ich wollte nicht derjenige sein, der einen Fehler machte. Nicht bei ihm. Und besonders nicht nach all den Jahren, in denen ich von ihm als der perfekte Schüler angesehen wurde.
Während ich also die Aufgabe löste und den Stift sicher über das Papier zog, konnte ich ein leichtes Kichern von Senjuro hinter mir hören. Senjuro und ich hatten immer diese Art von stiller Kommunikation. Er wusste, dass ich nie eine Herausforderung scheute, aber auch er hatte bemerkt, wie nervös ich war.
Es war der Moment, in dem Shinazugawa-sensei sich von der Tafel abwandte, als meine Hand gerade die Antwort niederschrieb. Es war eine Art Test für uns beide – ein Tanz zwischen uns, ein Tanz der Intellektualität, bei dem wir uns gegenseitig herausforderten, ohne es wirklich zu wollen.
„Na gut, Muichiro", sagte Shinazugawa-sensei schließlich, als er das Ergebnis auf der Tafel sah. „Du hast es diesmal richtig gemacht."
Aber anstatt zu loben, fügte er hinzu: „Aber glaub bloß nicht, dass du mir immer entkommen wirst, Streber. Ich könnte auch dir ein paar Runden im Zorn verpassen."
Ich zuckte nur mit den Schultern, während ich mich zurücklehnte und den Blick zu ihm hob. „Mach dir keine Sorgen, Sensei", sagte ich ruhig. „Ich nehme jede Herausforderung an."
Für einen Moment stand er einfach da, als würde er überlegen, was er tun sollte. Und ich wusste, dass er im Inneren von Genya redete – der ruhigere, gelassenere Bruder, der immer die Dinge so sah, wie sie waren. Aber Shinazugawa-sensei? Der wollte einen Kampf. Einen Kampf, den er niemals gewinnen würde, solange ich das letzte Jahr der Oberschule hinter mich bringen wollte. Und das wusste er genau.
„Vielleicht", murmelte er, „vielleicht bist du wirklich der einzige, der hier alles überlebt. Aber denk dran, Muichiro – du bist auch ein Ziel."
Das war ein Satz, den ich nie vergessen würde.
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