Kapitel 17
Nachdem Genya gegangen war, fühlte ich mich leer. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Es war, als hätte er all die Wärme mitgenommen, die mich für einen Moment gehalten hatte. Doch in meinem Kopf war nur ein Gedanke: Ich musste mit Obanai reden.
Also stand ich auf und ging langsam zu seinem Arbeitszimmer. Ich zögerte kurz vor der Tür, hob dann aber die Hand und klopfte an. Keine Antwort. Also klopfte ich noch einmal, fester diesmal. Immer noch nichts. Schließlich drückte ich vorsichtig die Klinke herunter und trat ein.
Obanai saß an seinem Schreibtisch, den Kopf in die Hände gestützt. Sein Blick war leer, seine Schultern hingen schlaff herunter. Er sah mich an, aber seine Augen waren kalt.
„Verschwinde", sagte er leise, doch seine Stimme war eisig.
Ich öffnete den Mund, um mich zu entschuldigen, doch er kam mir zuvor.
„Raus!", schrie er plötzlich und sprang auf. „Verschwinde, Muichiro!"
Ich zuckte zusammen, aber anstatt zu gehen, blieb ich stehen. Ich wusste, dass er litt. Ich wusste, dass ich ihn verletzt hatte. Und ich wusste, dass er sich selbst die Schuld an allem gab.
„Obanai, bitte..."
„Nein!" Seine Stimme bebte vor Wut und Verzweiflung. „Du hast mich weggestoßen. Und weißt du was? Ich verstehe dich. Ich verstehe, dass du leidest. Aber glaubst du, ich leide nicht? Meine halbe Klasse ist tot, Muichiro! Sie sind tot! Und ich konnte nichts tun, gar nichts! Ich habe mich mit dir und Senjuro in einem verdammten Spind versteckt, während die anderen abgeschlachtet wurden!"
Seine Worte trafen mich wie ein Schlag. Ich wusste, dass er sich Vorwürfe machte, aber ich hatte nicht gewusst, wie tief seine Schuld saß.
„Ich..."
„Glaubst du, ich bin ein guter Klassenlehrer?" Er lachte bitter. „Ich war ein Feigling. Ich hätte da rausgehen sollen. Ich hätte sie retten sollen! Aber ich habe mich versteckt. Ich habe mich versteckt, während Mitsuri die Leichen ihrer Erstklässler aus dem Blut gezogen hat! Ich habe mich versteckt, während meine Schüler um ihr Leben geschrien haben!"
Ich sah, wie seine Hände zitterten. Er war wütend. Auf mich. Auf sich selbst. Auf die ganze verdammte Welt.
„Du warst nicht schuld, Obanai", flüsterte ich.
„Ach nein?" Er lachte bitter. „Dann erklär mir, warum sie alle tot sind und ich nicht?"
Ich schluckte. Ich hatte keine Antwort darauf.
„Es ist nicht fair...", murmelte er und sank auf seinen Stuhl zurück. Seine Stimme war nun brüchig. „Ich wollte sie doch beschützen. Ich wollte euch alle beschützen. Aber ich habe versagt."
Ich trat näher und legte vorsichtig eine Hand auf seinen Arm. Er zog sich nicht zurück, aber er bewegte sich auch nicht.
„Du hast nicht versagt", sagte ich leise. „Du bist hier. Und du kümmerst dich um uns. Das ist mehr, als viele tun würden."
Er schüttelte langsam den Kopf. „Es ist nicht genug, Muichiro. Es wird nie genug sein."
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Also schwieg ich einfach und blieb bei ihm. Vielleicht konnte ich seinen Schmerz nicht nehmen. Aber ich konnte ihn zumindest für einen Moment teilen.
Die Rückkehr zur Schule fühlte sich surreal an. Die Gänge waren stiller als sonst. Zu viele fehlten. Zu viele Plätze in den Klassenzimmern blieben leer. Und die Stühle, die noch besetzt waren, fühlten sich fremd an – als würden sie Geister tragen, Erinnerungen an diejenigen, die nicht mehr hier waren.
Wir, die Überlebenden der Abschlussklasse, wurden in eine einzige Klasse zusammengelegt. Niemand sprach es aus, aber wir wussten alle, warum. Es waren einfach nicht mehr genug Schüler übrig, um die alten Klassen beizubehalten.
Aber noch bevor der Unterricht richtig beginnen konnte, gab es Streit. Und zwar unter den Lehrern. Es ging um die Frage, wer unser Klassenlehrer werden sollte.
„Ich übernehme die Klasse", erklärte Iguro-sensei mit ernster Miene. Seine Augen – die sonst hinter den Bandagen kühl und berechnend wirkten – hatten einen dunklen Ausdruck.
„Oh nein, das werden wir demokratisch entscheiden", warf Kocho-sensei mit einem Lächeln ein. „Die Mehrheit soll abstimmen."
Die Wahl fiel zwischen Iguro-sensei, Kocho-sensei und Uzui-sensei. Ich hatte keine Sekunde gezögert: Ich wollte Iguro-sensei zurück. Trotz allem war er unser Klassenlehrer gewesen. Er hatte versucht, uns zu beschützen. Und ich wusste, dass er sich Vorwürfe machte, obwohl er alles gegeben hatte.
Aber die Mehrheit entschied sich für Uzui-sensei.
„Flamboyant wie immer, was?" Uzui-sensei grinste und legte eine Hand an seine Hüfte. „Tut mir leid, Iguro, aber die Kids wollen eben ein bisschen mehr Glanz und Glamour im Klassenzimmer."
Iguro-sensei blieb still. Doch seine Finger krallten sich so fest in den Stoff seines Ärmels, dass seine Knöchel weiß wurden.
„Nimm's nicht so schwer", fuhr Uzui-sensei fort und lehnte sich provokant an den Lehrerpult. „Nach allem, was passiert ist, kann man es ihnen nicht verübeln. Immerhin sind von deiner Klasse die meisten gestorben... weil du angeblich nicht richtig gehandelt hast."
Stille.
Ich erstarrte. Kocho-sensei lachte leise, als hätte Uzui-sensei einen harmlosen Witz gemacht.
Doch Iguro-sensei rührte sich nicht. Sein Blick war auf den Boden gerichtet, doch ich konnte sehen, wie seine Schultern zitterten.
„Na, Iguro?" Uzui-sensei grinste herausfordernd. „Nicht, dass es mich wundern würde. Schließlich hast du mit zwölf schon mal eine Klasse ausgelöscht, oder nicht?"
Mein Herz setzte einen Schlag aus.
„WAS?!" Ich riss die Augen auf und sah Iguro-sensei fassungslos an. Ich wusste nichts davon!
Iguro-sensei zuckte zusammen. Es war, als hätte Uzui-sensei ihm ein Messer direkt ins Herz gerammt. Sein Atem ging schneller, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Oh, wusstest du das nicht, Muichiro?" Uzui-sensei legte den Kopf schief. „Mit zwölf hat er ein ganzes Klassenzimmer in die Luft gejagt. Zehn Kinder sind dabei gestorben. Ein wahres Massaker. Und jetzt soll er sich um eine Abschlussklasse kümmern?"
Ich hörte Kocho-sensei erneut leise lachen. Doch bevor sie oder Uzui-sensei noch etwas sagen konnten, verlor Iguro-sensei die Beherrschung.
Mit einem einzigen Schritt war er bei Uzui-sensei und rammte ihm die Faust mit voller Wucht in die Magengrube.
Uzui-sensei keuchte laut auf, riss die Augen auf und taumelte zurück, während er sich den Bauch hielt.
„Sag. Kein. Wort. Mehr.", zischte Iguro-sensei mit gefährlich leiser Stimme. Seine Hände zitterten, seine Schultern hoben und senkten sich in schnellem Rhythmus. „Ich war zwölf. Zwölf! Und ich habe... ich habe nicht gewusst, was ich tue..." Seine Stimme brach.
Die Luft im Raum war eisig. Niemand bewegte sich.
Uzui-sensei richtete sich keuchend auf und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann grinste er.
„Du bist ja richtig empfindlich", meinte er und lachte leise. „Aber hey, ich nehme den Job als Klassenlehrer trotzdem an."
Ich wollte schreien. Ich wollte irgendetwas sagen. Doch Iguro-sensei drehte sich wortlos um und verließ den Raum.
Ich konnte es nicht glauben. Mein Lehrer, mein... fast schon Vater... hatte ein Klassenzimmer gesprengt? Zehn Kinder waren gestorben?
Warum hatte er mir das nie gesagt?
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