Kapitel 13

Die Tage nach dem Amoklauf zogen sich quälend langsam dahin. Die Schule war für eine Woche geschlossen worden, was mir eine schreckliche Stille brachte, die meinen Kopf fast zum Explodieren brachte. Ich hatte den Schmerz von Senjuros Tod noch nicht verarbeitet, geschweige denn den Verlust der anderen aus unserer Klasse. Ich lag die ganze Zeit in meinem Bett, starrte an die Decke und wünschte mir, dass der Schmerz einfach verschwinden würde.

Ab und zu hörte ich Schritte in den Flur, die mich aus meiner Trance rissen, doch ich konnte mich nie aufraffen, zu antworten oder zu reagieren. Wenn ich etwas zu essen bekam, schlich ich wie ein Schatten aus meinem Zimmer, aß mechanisch und verschwand dann wieder unter der Decke. Kein Wort, kein Blick, nichts. Nur Stille. Die Leere in meinem Herzen ließ alles andere wie Nebel erscheinen.

Es war an einem besonders trüben Nachmittag, als ich plötzlich das Klingeln an der Tür hörte. Es war kein bekannter Besucher, und ich dachte zuerst nicht daran, zu öffnen. Doch dann hörte ich eine vertraute Stimme.

„Muichiro?"

Ich hob den Kopf und spürte, wie mein Herz für einen Moment stillstand. Genya. Ich blinzelte ungläubig, stand langsam auf und schlich zur Tür. Als ich sie öffnete, stand er da, mit einem warmen, aber auch traurigen Lächeln im Gesicht. Er hatte sich nicht verändert – das hieß, er hatte den gleichen entschlossenen Blick, den ich schon immer an ihm geliebt hatte.

„Genya...", murmelte ich, als ich die Tür weit öffnete und ihn hereinkommen ließ.

„Ich hoffe, ich habe dich nicht überrascht", sagte er mit einem leichten Lächeln, doch ich konnte den Schmerz in seinen Augen sehen. „Ich wollte einfach sicherstellen, dass du nicht ganz alleine bist."

„Aber... was machst du hier? Du studierst doch in Amerika!", fragte ich verwirrt und versuchte, mich nicht von der Verwirrung in meinen eigenen Gefühlen überwältigen zu lassen.

Genya winkte mit der Hand ab, als ob es keine große Sache wäre. „Ach, das Studium... Ich hab's abgebrochen. War eh nicht meins. Ich konnte nicht einfach hier rumsitzen und nichts tun, während du hier allein bist."

„Du hast das Studium abgebrochen?", wiederholte ich, als ob ich es nicht ganz fassen konnte. „Aber du hast doch gesagt, du würdest durchziehen..."

„Habe ich, ja. Aber es gibt Dinge, die wichtiger sind als ein Studium", sagte er mit einem Lächeln, das nicht ganz durch die Trauer in seinen Augen hindurchdrang. „Du bist wichtiger."

Ich konnte sehen, wie sich etwas in mir regte – eine Mischung aus Dankbarkeit und tiefer Verwirrung. „Ich... danke dir", sagte ich leise, während ich ihn auf einen Stuhl bat. Genya setzte sich, sein Blick nicht von mir abwendend.

„Muichiro, es tut mir leid, was passiert ist. Ich weiß, wie sehr Senjuro dir bedeutet hat." Er atmete tief ein und fuhr fort: „Ich will dir helfen, okay? Du musst nicht alleine durch das Ganze gehen."

Ich fühlte die Tränen, die sich hinter meiner Brust aufstaute. „Es tut so weh, Genya", flüsterte ich und sank auf den Boden, als die Last meines Schmerzes mich überwältigte. „Es tut so verdammt weh, dass er weg ist. Ich hätte mehr für ihn tun können. Ich hätte ihm noch mehr sagen können. Ich war nie da, als er mich brauchte."

Genya kniete sich neben mich, legte eine Hand auf meine Schulter. „Hey, hör auf damit", sagte er ruhig. „Es ist nicht deine Schuld. Senjuro hat gewusst, wie viel er dir bedeutet. Du hast ihm immer alles gegeben, was du konntest. Aber du kannst jetzt nicht mehr in der Vergangenheit leben. Du musst nach vorne schauen, für ihn. Weil er es auch so gewollt hätte."

Ich nickte, aber der Knoten in meiner Kehle ließ keine Worte heraus. Es war zu viel, zu schnell. Die letzten Tage hatten mir all meine Energie genommen. Ich fühlte mich leer. Aber irgendwie war es auch ein bisschen besser, Genya hier zu haben. Seine Nähe, seine ruhige Präsenz gab mir etwas, das ich in den letzten Tagen vermisst hatte.

„Ich weiß, es tut verdammt weh", sagte er weiter. „Aber du darfst nicht vergessen, dass es noch Menschen gibt, die dich brauchen. Und ich bin hier, Muichiro. Ich werde nicht einfach gehen. Ich lasse dich nicht im Stich, okay?"

Ich hob den Blick und sah ihm direkt in die Augen. „Danke", flüsterte ich. „Danke, dass du zurückgekommen bist."

„Immer für dich", sagte Genya, und es war so viel mehr als nur ein Versprechen. Es war eine Wahrheit, die er mir nie wieder nehmen würde.

Die Stunden vergingen, während Genya bei mir blieb. Er redete mit mir über alles Mögliche, lenkte mich ab, aber nie zu sehr. Wir sprachen auch über Senjuro, über all das, was wir verloren hatten. Ich fühlte mich nicht mehr so allein, nicht mehr so erdrückt von diesem Schmerz. Irgendwie half es, einfach zu wissen, dass jemand hier war, der mich verstand.

Als der Abend kam, blieb Genya bei mir. Er brachte sogar ein paar alte Filme mit, die wir früher immer zusammen gesehen hatten. Es war nicht viel, aber es war der Anfang eines Heilungsprozesses, den ich tief in meinem Herzen brauchte.

„Du bist nicht allein, Muichiro. Ich werde nicht zulassen, dass du den Weg in die Dunkelheit gehst", sagte Genya, als wir zusammen auf dem Sofa saßen, während der Film flimmerte und die Dunkelheit des Zimmers uns umhüllte.

„Danke, Genya", flüsterte ich, während ich mich an ihn lehnte, und zum ersten Mal seit Wochen spürte ich, dass die Welt vielleicht nicht mehr ganz so hoffnungslos war.

Die letzten Tage waren wie in Trance verlaufen. Die Welt um mich herum hatte keinen Sinn mehr. Die Schule war für eine Woche geschlossen, was ich für einen kurzen Moment als Erleichterung empfunden hatte. Doch je länger ich in meinem Zimmer lag, desto mehr wurde mir klar, dass nichts je wieder so sein würde wie früher.

Ich lag einfach nur da, starrte an die Decke und versuchte, das, was passiert war, zu begreifen. Doch mein Kopf wollte sich nicht mit dem Verlust von Senjuro anfreunden. Mein bester Freund war tot, und ich fühlte mich, als würde ein riesiger, kalter Abgrund mich immer weiter in die Dunkelheit ziehen. Ich kam nur zum Essen aus meinem Zimmer, dann zog ich mich wieder zurück. Manchmal hatte ich das Gefühl, als würde ich in diesem Zimmer verschwinden, als würde ich mich auflösen.

Es war der erste Tag, an dem ich nicht den ganzen Tag im Bett verbracht hatte, als es an der Tür klingelte. Zuerst dachte ich, es wäre einfach nur ein weiterer schlechter Traum. Aber dann hörte ich, wie die Türklinke quietschte und jemand eintrat.

„Muichiro?", hörte ich eine vertraute Stimme sagen. Ich drehte mich um und blinzelte in die Helligkeit des Flurs.

Vor der Tür stand Genya, mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Genya...?" Mein Herz setzte für einen Moment aus. „Was machst du hier? Du... du bist doch noch in Amerika!"

Er grinste nur, schüttelte den Kopf und trat weiter in mein Zimmer. „Ja, war ich... aber nicht mehr. Ich bin zurückgekommen."

„Du... du bist zurückgekommen?", wiederholte ich ungläubig. „Aber du wirst doch aus der Uni fliegen, wenn du einfach so gehst!"

Genya winkte ab und setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett. „Ach, das ist mir egal. Das Studium? Hab' ich abgebrochen."

Ich starrte ihn an, völlig perplex. „Du hast das Studium abgebrochen?!"

„Klar. Ich war sowieso nicht so begeistert. Aber das hier, Muichiro... das hier ist wichtiger", sagte Genya, während er mich ansah. Seine Augen waren fest und ernst, aber ich konnte auch die Besorgnis darin erkennen. „Ich hab' gehört, was passiert ist. Und ich konnte dich einfach nicht alleine lassen."

Ich wollte etwas sagen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich hatte gehofft, dass ich diesen Schmerz alleine ertragen müsste, dass ich es irgendwie schaffen könnte. Aber dann... dann war Genya hier. Und er war bereit, alles hinter sich zu lassen, nur um mir beizustehen.

„Genya, du musst nicht hier sein... du hast dein Leben dort", flüsterte ich. Ich spürte, wie sich eine Kloß in meinem Hals bildete.

„Mein Leben?" Genya lachte kurz. „Ach, du bist echt der Einzige, der denkt, dass ich da noch was reiße. Ich hab' alles für dich hierhin geworfen. Und das ist es mir auch wert. Du bist mein Freund. Und ich lasse dich nicht im Stich, verstanden?"

Er setzte sich auf die Bettkante und klopfte mir auf den Rücken, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Du bist nicht alleine, Muichiro. Ich bin hier, und das bleibt auch so."

Seine Worte trafen mich wie ein Schlag in die Brust. Es war ein Gefühl der Erleichterung, aber auch des Schmerzes. Ich hatte nie wirklich gewusst, wie wichtig er mir war, bis er plötzlich hier stand, mitten in meinem Schmerz.

„Danke", flüsterte ich, während mir die Tränen in die Augen stiegen. Es war das erste Mal seit Tagen, dass ich mich tatsächlich irgendwie verstanden fühlte. „Danke, dass du gekommen bist."

„Klar", sagte er leise und sah mich an. „Aber du musst auch wissen, dass ich dich nicht einfach so da raus hole, ohne dir zu helfen, ein bisschen weiter zu kämpfen. Ich weiß, es tut weh. Es tut uns allen weh. Aber du kannst nicht ewig in deinem Zimmer bleiben. Du musst wieder raus."

Ich sah ihn an und nickte langsam, obwohl ich nicht wirklich wusste, wie ich das schaffen sollte. Senjuro war weg. Und der Gedanke, dass alles irgendwie weitergehen musste, schien mir jetzt noch unerträglich.

„Genya... ich weiß nicht, ob ich das schaffe", murmelte ich, meine Stimme brach. „Ich vermisse ihn so sehr."

Er zog mich in eine Umarmung, und ich ließ es zu. Es war das erste Mal, dass ich mich in den letzten Tagen wirklich umarmt fühlte, als wäre ich nicht völlig verloren.

„Ich weiß, Muichiro", flüsterte er, während er mir sanft den Rücken strich. „Ich weiß. Aber du bist nicht allein. Ich bin da. Und auch wenn es schwer ist, wir schaffen das zusammen."

Und für den Moment, in diesem kurzen Augenblick, fühlte es sich vielleicht tatsächlich so an, als könnte ich wieder einen Schritt nach dem anderen machen. Es war der erste Hauch von Hoffnung, den ich seit dem Amoklauf gespürt hatte.

„Lass uns gehen, ja?", sagte Genya schließlich und zog mich sanft aus dem Bett. „Es wird nicht einfach, aber wir fangen langsam an."

Und so, auch wenn mein Herz noch schwer war und die Welt sich nicht gleich wieder hell anfühlte, ging ich mit ihm. Schritt für Schritt.

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