Kapitel 1
Endlich war es so weit, mein letztes Jahr an der Oberschule. Es war ein verrücktes Gefühl, die ganzen Jahre auf das Ende hinzuleben, und jetzt stand ich kurz davor, die letzte Hürde zu nehmen. Doch wie immer, wenn das Schicksal eine Wendung nahm, war mein erster Tag alles andere als friedlich.
„Aufstehen! Ihr Haufen von Schlafmützen!" brüllte Iguro-sensei gleich, als er die Tür aufriss. Ich blinzelte und starrte ihn mit einem halben Auge an. Was hatte ich erwartet? Vielleicht, dass er uns zumindest die ersten Minuten des neuen Schuljahres verschonen würde? Dumm gedacht.
„Was? Du schläfst in meinem Unterricht? Und du, Senjuro, was ist mit deinem Kopf los? Warst du letztes Jahr wirklich so dumm oder ist das jetzt die neue Normalität?" Iguro-sensei fletschte die Zähne, was bei ihm wie ein ständiger Gesichtsausdruck aussah. Immerhin hatte er den berühmten 'Mürrischen-Iguro'-Blick perfektioniert.
Senjuro, der direkt neben mir saß, sah so aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Ich... ich war letztes Jahr schon nicht der Schlauste, aber... wirklich, Sensei?" Senjuro hielt sich den Kopf, als wäre er das Ziel eines vernichtenden Angriffs, den er nicht mehr abwehren konnte.
„Senjuro, du bist so dumm wie immer", antwortete Iguro mit einem zuckersüßen Lächeln, das wir alle als Bedrohung wahrnahmen.
Ich konnte nicht anders, als leise zu schnauben. „Nun, du bist auch kein Held im positiven Vokabular, Iguro-sensei", murmelte ich, mehr zu mir selbst, aber leider konnte ich es nicht ganz unterdrücken.
„Was hast du da gesagt, Muichiro?" Iguro drehte sich mit einem fiesen Grinsen zu mir um. Manchmal hasste ich es, dass er immer alles hörte.
„Nichts, Iguro-sensei. Nichts Wichtiges", sagte ich schnell, während ich versuchte, die Situation nicht noch schlimmer zu machen. Er hatte sich sowieso schon auf Senjuro eingeschossen, da wollte ich nicht noch mehr Feuer ins Öl gießen.
„Gut, dann will ich keine weiteren Witze hören", fuhr er fort und wandte sich wieder dem Rest der Klasse zu. „Weil ich weiß, wie faul ihr seid, werden wir heute gleich mit einer kleinen Überraschung starten. Ein Test. Ein Chemietest. In Englisch."
Ein paar Schüler stöhnten unisono auf, was mich nicht wirklich überraschte. Schließlich hatte Iguro-sensei immer einen gewissen Hang dazu, uns mit unmöglichen Tests zu überhäufen. Es war so, als würde er uns ständig darauf vorbereiten, gegen eine Armee von Ungeheuern zu kämpfen, die mit nichts anderem als „harter Arbeit" bewaffnet waren.
„Ernsthaft, Iguro-sensei? Ein Chemietest am ersten Tag?" Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte, in meinem Gesicht nichts von der Verzweiflung zu zeigen, die in mir aufstieg. Ich war eh schon schlecht in Chemie.
„Natürlich! Was dachteet ihr? Dass ihr hier einfach so durchkommt?" Iguro-sensei schien sich zu amüsieren, während er vor unserem Klassenzimmer hin- und herging. „Ich sage euch: Wenn ihr nicht alle in einem Band zusammenarbeitet, wird diese Schule euch auseinandernehmen!"
Ein Funken der Hoffnung glimmte auf. „Könnten wir wenigstens die Hausaufgaben abschreiben?" fragte Senjuro mit einem schiefen Lächeln, als er versuchte, sich aus der Schusslinie zu manövrieren.
„Hausaufgaben?" Iguro-sensei trat einen Schritt auf Senjuro zu und fixierte ihn mit seinen Augen. „Hausaufgaben sind das geringste Übel, das euch erwarten kann, Senjuro. Bereit, euren Verstand zu verlieren?"
Die Klasse lachte nervös, und ich versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, während ich meine Augen auf den Tisch richtete. Iguro-sensei, unser Chemie- und Englischlehrer, aber auch mein Adoptivvater, hatte eine seltsame Art, mit uns zu interagieren. Die meiste Zeit redeten wir nicht viel miteinander, außer wenn er uns wieder mit seinen „Korrekturmaßnahmen" überraschte. Er war der einzige Lehrer, der gleichzeitig den Respekt der Schüler erlangte und uns gleichzeitig zum Verzweifeln brachte.
„Genug geplaudert. Zeit für den Test", sagte Iguro-sensei dann mit einem selbstgefälligen Grinsen und verteilte die Prüfungsbögen.
Ich legte meinen Stift auf den Tisch und seufzte innerlich. Das Jahr würde definitiv nicht langweilig werden. Aber wenigstens wusste ich, dass wir alle zusammenhalten mussten, um Iguro-senseis verrückte Regeln zu überleben.
„Ich hoffe, du hast deinen Kopf heute besser trainiert, Senjuro", murmelte ich und sah zu, wie er seinen Testbogen starr anstarrte, als würde er ihn gleich anflehen, ihm die richtigen Antworten zu geben.
„Lass uns einfach hoffen, dass er uns irgendwann in Ruhe lässt", antwortete Senjuro und rieb sich nervös die Schläfen.
„Weißt du, Senjuro", sagte ich, als ich ein wenig in meinem Stuhl zurücksank, „ich glaube, er lässt uns nie in Ruhe. Aber das macht ihn auch irgendwie... legendär."
Der Test begann, und der Raum war plötzlich still. Nur das Kratzen der Stifte auf Papier war zu hören, unterbrochen von gelegentlichen Seufzern der Verzweiflung. Ich überflog die Fragen und spürte eine leichte Erleichterung. Nichts davon war wirklich schwer – zumindest nicht für mich. Es war fast schon traurig, wie einfach das hier war.
Neben mir hingegen kämpfte Senjuro ums Überleben. Ich hörte, wie er leise vor sich hinmurmelte. „Verdammt, warum haben Chemie und Englisch überhaupt etwas miteinander zu tun?" Ich ignorierte ihn und konzentrierte mich weiter auf meinen Test. Doch aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie Senjuros Blick immer wieder zu meinem Blatt wanderte.
Senjuro, das ist nicht dein Ernst.
Ich schrieb weiter, tat so, als würde ich nichts bemerken, doch Senjuro wurde dreister. Sein Kopf neigte sich ein Stück weiter, sein Stift kritzelte hektisch auf sein Blatt, und er warf mir einen hoffnungsvollen Blick zu. Ich verdrehte innerlich die Augen. Wenn du schon abschreibst, dann mach es wenigstens unauffällig!
Und dann – das Unvermeidliche.
„Senjuro." Iguro-senseis Stimme war so kalt wie flüssiger Stickstoff. Die gesamte Klasse erstarrte. Senjuro zuckte zusammen, sein Stift fiel ihm fast aus der Hand. Langsam, ganz langsam hob er den Kopf und sah unseren Lehrer an, als hätte er gerade sein eigenes Todesurteil unterschrieben.
„Du... hast gerade abgeschrieben." Iguro-senseis Ton war nicht laut, aber das machte es nur schlimmer.
„Äh... ähm... also..." Senjuro stotterte und warf mir einen panischen Blick zu.
„Wer hätte gedacht, dass du es wagst, so offensichtlich zu betrügen?" Iguro-sensei seufzte theatralisch und schüttelte den Kopf. „Ich bin enttäuscht. Sehr enttäuscht."
„Sensei, bitte... es war nicht so—"
„Strafarbeit. Und eine Menge Nachsitzen." Iguro-senseis Urteil fiel schnell. „Du wirst mir einen zehnseitigen Aufsatz über die ethischen Konsequenzen des Betrugs schreiben. Und ihn auf Englisch verfassen. Zusätzlich wirst du zwei Wochen lang nachsitzen. Vielleicht hilft dir das, deine Prioritäten zu überdenken."
Die Klasse hielt den Atem an. Senjuro wurde kreidebleich. Ich wusste, dass er in diesem Moment bereute, überhaupt in der Nähe meines Testbogens gewesen zu sein.
Das ist nicht fair.
„Aber... aber Muichiro hat nichts gemacht!" rief Senjuro verzweifelt.
„Das ist mir bewusst", erwiderte Iguro-sensei trocken. „Muichiro ist unser Streber. Er muss nicht abschreiben."
Die Klasse kicherte leise, und ich widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Natürlich war ich der Streber – wie könnte es anders sein?
Ich hätte die ganze Szene ignorieren und einfach weiter meinen Test schreiben können. Doch irgendetwas in mir ließ das nicht zu. Vielleicht, weil Senjuro mein Freund war. Oder weil die Strafe einfach viel zu hart war.
Ich hob den Kopf. „Iguro-sensei."
Er sah mich an, und seine Augen verengten sich leicht. „Was?"
„Lassen Sie mich die Strafe übernehmen."
Der Raum wurde totenstill. Ich spürte, wie Senjuro neben mir erstarrte. Die Blicke meiner Mitschüler brannten in meinem Rücken. Und dann geschah das Unglaubliche:
Iguro-sensei... reagierte nicht.
Er stand einfach da. Ohne ein Wort. Ohne eine Bewegung.
Es war, als würde über seinem Kopf das berühmte Loading Reaction-Symbol erscheinen.
Ich schwöre, hätte man genau hingesehen, hätte man vielleicht ein kleines, unsichtbares Fenster über ihm entdecken können: "Error: Unexpected Input. System is Processing..."
Nach einer quälend langen Pause blinzelte er schließlich. „...Was?"
Ich hielt seinem Blick stand. „Ich übernehme die Strafe. Lassen Sie Senjuro gehen."
Die Klasse brach in leises Flüstern aus. Senjuro starrte mich an, als hätte ich gerade verkündet, dass ich nach der Schule ins Weltall fliegen würde.
„Muichiro... du... du bist doch nicht irre, oder?" krächzte er.
Ich ignorierte ihn. Iguro-sensei hingegen wirkte immer noch, als würde sein Gehirn versuchen, meine Worte zu entschlüsseln. „Warum?" fragte er schließlich, die Stirn in Falten gelegt.
„Weil es unfair ist", antwortete ich schlicht.
Er musterte mich für eine gefühlte Ewigkeit. Schließlich atmete er tief durch, als hätte er gerade eine lebensverändernde Entscheidung getroffen. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
„Muichiro", sagte er, „so funktioniert das nicht. Wer den Fehler macht, trägt die Konsequenzen. Ich werde deine noble Geste also nicht akzeptieren."
Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch er hob die Hand.
„Allerdings..." Iguro-sensei sah Senjuro mit einem Blick an, der ihn beinahe auf seinem Stuhl schrumpfen ließ. „Da ich selten Schüler habe, die bereit sind, für andere einzustehen, werde ich ausnahmsweise gnädig sein."
Senjuro hob den Kopf hoffnungsvoll.
„Die Strafarbeit bleibt bestehen. Aber das Nachsitzen reduziere ich auf eine Woche."
Senjuros Schultern sackten zusammen. „Das ist doch kein großer Unterschied..." murmelte er.
„Willst du, dass ich es mir anders überlege?" fragte Iguro-sensei mit einem süffisanten Grinsen.
„Nein, Sensei! Ich bin glücklich! Sehr glücklich! Danke!" Senjuro salutierte förmlich.
„Gut." Iguro-sensei wandte sich wieder an mich. „Muichiro, du bist wirklich ein merkwürdiges Kind."
Ich zuckte die Schultern. „Danke?"
„Das war kein Kompliment."
Ich grinste. „Für mich schon."
Iguro-sensei seufzte tief, rieb sich die Schläfen und murmelte etwas über „verrückte Schüler, die ihm Kopfschmerzen bereiten". Dann drehte er sich um und ging zurück zu seinem Pult.
„Zurück zum Test. Wer noch einmal abschreibt, kann sich gleich auf einen Monat Nachsitzen freuen."
Der Rest des Unterrichts verlief ohne weitere Zwischenfälle – wenn man von Senjuros gelegentlichen Seufzern absah. Als die Stunde vorbei war und wir unsere Testbögen abgaben, murmelte er leise:
„Muichiro... ich werde dir ewig dankbar sein."
Ich grinste. „Vergiss das nicht, wenn ich dich das nächste Mal um deine Hausaufgaben bitte."
Er stöhnte. „Ich nehme alles zurück."
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