Kapitel 7
Der erste Unterricht bei Shinazugawa-sensei im neuen Schuljahr war eine Mischung aus Horrorfilm und Comedyshow – zumindest, wenn man nicht selbst im Mittelpunkt stand. Leider war ich in diesem Moment genau das Zentrum seiner Aufmerksamkeit, weil ich dieses Jahr alleine in der Opferreihe saß. Und warum? Weil ich ja "als Freund seines kleinen Bruders ein Vorbild sein sollte". Danke, Genya.
„Tokito!", brüllte Shinazugawa-sensei mit seiner gewohnt charmanten Stimme. „Erklär der Klasse, was ein verdammtes Parallelogramm ist!"
Ich zuckte zusammen. Natürlich wusste ich, was ein Parallelogramm war – ich war Klassenbester, verdammt nochmal! Aber bei ihm fühlte sich jede Frage an wie ein Test über Leben und Tod.
„Ähm... also, ein Parallelogramm ist eine vierseitige Figur, bei der die gegenüberliegenden Seiten parallel sind und–"
„UND WAS NOCH?!" schrie er, als hätte ich gerade seinen Hund beleidigt.
„...gleich lang?"
„RICHTIG!", sagte er, aber sein Tonfall war so aggressiv, dass ich mich trotzdem wie ein Verlierer fühlte. „Aber warum dauert das bei dir immer so lange, hä? Denkst du, du hast Zeit zu trödeln, weil du der Freund von Genya bist? FALSCH! Wenn du dich hier blamierst, blamierst du meinen GANZEN CLAN!"
Die Klasse kicherte, aber niemand traute sich laut zu lachen. Denn jeder wusste, dass Shinazugawa-sensei nicht davor zurückschreckte, Kreide zu werfen, wenn ihm jemand dumm kam. Und er hatte ziemlich gute Treffsicherheit.
„Also", fuhr er fort, „heute machen wir geometrische Beweise. Tokito, wenn du dich auch nur einmal verrechnest, dann schreibe ich 'Versager' auf deine Stirn und mache ein Foto, damit Genya das sieht."
Ich schluckte schwer. „Ja, Sensei."
Er gab mir eine Aufgabe an der Tafel. Ein schrecklich komplexes Diagramm, das aussah, als hätte jemand ein Parallelogramm in einen Mixer geworfen.
„Das ist doch einfach, oder?", fragte er höhnisch. „Oder brauchst du erst einen Taschenrechner, um zu checken, wo oben und unten ist?"
Ich holte tief Luft und begann, die Lösung aufzuschreiben. Es war fehlerfrei, ich wusste es. Aber natürlich fand Shinazugawa-sensei trotzdem etwas, worüber er meckern konnte.
„Warum schreibst du so klein?!", rief er. „Willst du, dass ich mit einer Lupe hier stehe? SCHREIB GEFÄLLIGST WIE EIN MANN!"
„Ja, Sensei", murmelte ich und schrieb die gleiche Antwort nochmal, diesmal in Schriftgröße 200.
Als die Stunde endlich vorbei war, dachte ich, ich hätte es überlebt. Aber nein, Shinazugawa-sensei hatte noch ein persönliches Gespräch mit mir geplant. Er hielt mich am Arm fest, während die anderen aus dem Raum strömten.
„Tokito", begann er mit einer Stimme, die fast besorgt klang, was mir mehr Angst machte als sein übliches Gebrüll. „Du weißt, dass Genya dich mag, oder?"
„Äh, ja?"
„Gut. Weil wenn du ihn enttäuschst, dann enttäuscht du auch mich. Und wenn du MICH enttäuscht..." Er beugte sich zu mir runter, sein Blick so ernst wie ein Todesurteil. „...dann werde ich dafür sorgen, dass du Mathe-Hausaufgaben machst, bis dir die Finger bluten. Hast du mich verstanden?"
„Ja, Sensei", sagte ich schnell, obwohl ich sicher war, dass er das ohnehin schon längst tat.
Draußen wartete Senjuro auf mich. „Und? Überlebt?"
„Gerade so", murmelte ich, während ich versuchte, meine Beine nicht vor Erleichterung einknicken zu lassen.
„Du bist echt mutig", sagte Senjuro bewundernd. „Ich könnte niemals in der Opferreihe sitzen."
„Das ist kein Mut", erwiderte ich. „Das ist reines Überlebenstraining."
Englisch mit Iguro-sensei war eine Erfahrung, die irgendwo zwischen einem schlechten Horrorfilm und einer abgedrehten Gameshow angesiedelt war. Es begann schon mit seinem typischen Einmarsch. Die Tür flog auf, Iguro-sensei kam herein, und die Opferreihe seufzte kollektiv. Es war bekannt, dass er bei jedem Unterricht mindestens einen Schüler an die Tafel fesseln würde – ein Ritual, das er „Lernen durch Disziplin" nannte.
„Good morning, class," sagte Iguro-sensei, wobei sein Blick sofort die Opferreihe durchbohrte wie ein Laser. „Let's see who's going to embarrass themselves today."
Die Opferreihe starrte stumm auf ihre Bücher, als könnten sie dadurch unsichtbar werden. Aber Iguro-sensei hatte einen sechsten Sinn für Nervosität.
„Nezuko!" rief er und zeigte mit dem Zeigestock auf sie. Sie zuckte zusammen wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
„Y-yes, Sensei?"
„Translate this sentence," befahl er und deutete auf die Tafel, wo er geschrieben hatte: The cat is under the table.
„Uh... uh..." Nezuko kämpfte sichtlich mit den Worten, und die gesamte Klasse hielt den Atem an.
„We're waiting," sagte Iguro-sensei mit seiner gefährlich ruhigen Stimme.
„Die... die Katze... ist unter dem Tisch?"
Es war korrekt, aber Iguro-sensei runzelte trotzdem die Stirn. „Was war das für ein stotterndes Japanisch? Wenn du so übersetzt, denken die Briten, du bist ein Roboter!"
Die Klasse wagte ein kurzes Lachen, aber er drehte sich blitzschnell um. „Findet ihr das witzig? Das ist kein Comedy-Club!"
Als nächstes war Senjuro dran. „Rengoku! Steh auf und übersetze das hier!" Er schrieb I like to eat bread for breakfast an die Tafel.
„Ich mag es, Brot zum Frühstück zu essen?" Senjuros Stimme war fest, aber Iguro-sensei schüttelte den Kopf.
„Zu einfach! Sag es nochmal, aber diesmal, als würdest du mit der Queen von England sprechen!"
Senjuro schien komplett verwirrt. „Äh... Ich... ähm..."
„STILLE!" Iguro-sensei wedelte mit seinem Zeigestock. „Zur Tafel mit dir!"
Senjuro wurde nicht nur an die Tafel gefesselt, sondern bekam auch einen Notizzettel in den Mund gesteckt. „Das wird dich lehren, präziser zu sein!"
Der nächste war dran, bevor jemand überhaupt Luft holen konnte. „Tokito!" Mein Herz sank. „Steh auf und übersetze diesen Satz!"
Er schrieb I don't like vegetables, but I love meat. an die Tafel.
„Ich mag kein Gemüse, aber ich liebe Fleisch?"
Er nickte langsam, doch seine Augen funkelten. „Nicht schlecht. Aber wie sehr liebst du Fleisch? Zeig uns deine Begeisterung!"
„Äh... sehr?"
„Zu wenig Begeisterung! Geh an die Tafel!"
Ich stöhnte innerlich, ließ mich aber nicht anmerken, wie peinlich mir das war. Während ich an der Tafel gefesselt wurde, raunte mir Senjuro zu: „Ich hoffe, du kannst atmen, der Zettel schmeckt nach Staub!"
„Ruhe da hinten!"
Als die Stunde endlich vorbei war, waren drei Schüler geknebelt, zwei mental am Ende, und Iguro-sensei schien vollkommen zufrieden mit seinem Werk.
„Bis morgen, ihr talentlosen Übersetzer," sagte er, während er hinausmarschierte. „Und wenn jemand es wagt, sich nicht vorzubereiten, gibt es ein extra Strafprogramm."
Ich sah zu Senjuro, der immer noch an der Tafel hing. „Komm, ich mach dich los."
„Danke", murmelte er, während ich die Fesseln löste. „Aber ich glaub, meine Würde bleibt hier hängen."
„Willkommen in der Opferreihe," erwiderte ich trocken.
Biologie mit Kocho-sensei war immer ein Abenteuer – allerdings keines, das man gerne erleben wollte, wenn man sich nicht in einer Doku über die Naturgeschichte oder in einem Horrorfilm wähnte. Und an diesem ersten Schultag wurde es sofort klar: Der Unterricht in diesem Jahr würde kein Zuckerschlecken werden.
Kocho-sensei, mit ihrem typischen leicht beunruhigenden Lächeln, stand vor der Klasse, die Arme weit ausgebreitet, als wäre sie eine Naturgöttin. Sie hatte natürlich wieder eines ihrer Lieblingsthemen vorbereitet. „Heute werden wir etwas sehr Interessantes beobachten!" Sie hielt ein Terrarium hoch, das mindestens genauso groß wie ein Kühlschrank war und deutlich mehr unheimliche Lebewesen beherbergte. „Gottesanbeterinnen! Und die Männchen, die für den Fortpflanzungsprozess... nun, sagen wir einfach, eine gewisse Opferrolle einnehmen."
„Oh nein... bitte nicht", stöhnte Senjuro neben mir.
„Du hast doch gesagt, dass es besser wird", flüsterte ich zurück und versuchte, einen verzweifelten Blick zu unterdrücken.
„Das wird schon! Wir sind doch mittlerweile Profis bei Kocho-sensei!" Senjuro versuchte, mich aufzumuntern, aber die Panik in seinen Augen sagte mir, dass auch er wenig Hoffnung hatte.
„Nun, wir beobachten jetzt die Paarung. Keine Sorge, es wird ganz schnell gehen." Kocho-sensei setzte das Terrarium auf den Tisch.
„... Und wie lange dauert das?" fragte Nezuko, die sich nervös an ihrem Stuhl festhielt.
„Ach, nur ein paar Minuten. Aber der Teil, in dem das Weibchen das Männchen verzehrt, dauert ein bisschen länger." Kocho-sensei zwinkerte uns zu, als ob sie uns ein kleines Geheimnis verraten würde.
Es begann. Die Gottesanbeterinnen bewegten sich aufeinander zu, und ich konnte schon förmlich die Schweißperlen auf meiner Stirn spüren. Während das Männchen versuchte, seine Pflicht zu erfüllen, merkte man förmlich, dass es nichts Gutes ahnte. Und dann – zack – war das Männchen plötzlich mit einem Satz im Maul des Weibchens.
„Oh mein Gott! Was macht sie?!" Senjuro sprangen die Augen aus dem Kopf. „Sie hat das Männchen einfach aufgefressen!"
Ich drehte mich blitzschnell zur Seite, als ein übel riechendes Gefühl in meinem Magen hochkam. „Das ist... das ist nicht..."
Bevor ich es zu Ende sagen konnte, war ich schon aufgesprungen und rannte mit allem, was ich hatte, in die Nähe des Mülleimers. Und dann kam es – der wohl peinlichste Moment meines Lebens. Ich übergab mich gerade so richtig, als würde ein Tornado durch meinen Magen ziehen. „Nicht so schnell! Ich wollte heute noch leben!"
Senjuro sah mich mit großen Augen an und versuchte, mit einem Tuch von seinem Ärmel mir zu helfen. „Das ist wirklich zu viel! Warum... warum müssen wir das sehen?"
„Ihr seid zu empfindlich", sagte Kocho-sensei mit einem Lächeln, als sie das Männchen in den Fängen des Weibchens beobachtete. „Der natürliche Zyklus des Lebens. Sie müssen verstehen, wie die Natur funktioniert!"
„Ähm, Sensei, vielleicht... vielleicht nicht gleich so extrem? Kann das nicht eine andere Klasse machen?" fragte Nezuko, die sich ebenfalls das Gesicht verkniff, als sie versuchte, das Bild zu verdrängen.
„Nein, nein!", rief Kocho-sensei begeistert. „Wenn ihr diese natürliche Praxis versteht, dann habt ihr das wahre Leben verstanden! Es ist faszinierend!"
Ich schielte zwischen den Schultern von Senjuro hindurch und versuchte, dem Anblick zu entkommen, aber es war zu spät. In meinem Kopf jagte ein Bild nach dem anderen. „Warum? Warum muss sie immer solche Sachen zeigen?"
„Du bist echt zu weich für diese Klasse", flüsterte Senjuro und versuchte, die Situation zu entschärfen, aber es war kein Zurück mehr.
Der Rest des Unterrichts zog sich wie Kaugummi. Kocho-sensei erzählte noch ein paar Fakten über die Paarung der Gottesanbeterinnen, die eigentlich keinen Menschen interessieren sollten, aber sie war so in ihrem Element, dass es irgendwie noch schlimmer wurde.
Am Ende der Stunde waren wir alle froh, als das "Experiment" endlich vorbei war.
„Nun, ihr habt heute viel gelernt! Und denkt daran, der Zyklus des Lebens ist schön, aber manchmal auch grausam." Kocho-sensei machte eine weite Geste, als ob sie uns in die Geheimnisse der Natur einweiht.
„Ich... ich gehe jetzt duschen", murmelte ich, während ich schleunigst aus dem Raum stolperte. „Ich muss das alles irgendwie vergessen!"
„Lass uns bitte nie wieder von Gottesanbeterinnen hören!" Senjuro stimmte mir zu und hielt sich den Magen.
„Wenigstens müssen wir nicht mehr sehen, wie das Männchen gefressen wird..."
„Und ich hoffe, du hast nichts davon gegessen, Senjuro", grinste ich mit einem schiefen Lächeln.
„Ich hätte nie gedacht, dass Biologie so eine Herausforderung sein würde...", murmelte Senjuro und nickte, als er die Tür hinter sich schloss.
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