Kapitel 27

Am nächsten Morgen begann mein Albtraum. Kaum hatte ich die Schule betreten, packte Obanai mich am Handgelenk und zerrte mich in sein Lehrerzimmer. „Du bleibst heute bei mir, verstanden?" Sein Ton ließ keine Widerrede zu, aber ich wagte es trotzdem.

„Obanai, ich kann doch nicht den ganzen Tag mit Ihnen rumlaufen. Das sieht total komisch aus!"

„Das ist mir egal", erwiderte er knapp und verschränkte die Arme. „Nach allem, was passiert ist, lasse ich dich keine Sekunde aus den Augen."

„Das ist wirklich nicht nötig!", protestierte ich verzweifelt, doch Obanai schüttelte nur den Kopf.

Der Tag wurde schlimmer, als ich gedacht hatte. In Chemie setzte er mich direkt vorne an seinen Lehrerpult, sodass ich jede seiner spitzen Bemerkungen aus nächster Nähe hören musste. Zu allem Überfluss hatte er auch noch eine Chemie-Demonstration vorbereitet, die wie immer ein Feuerwerk auslöste. „Iguro-sensei, ist das wirklich sicher?", fragte ich vorsichtig, als er die Bunsenbrenner mit einer gefährlich breiten Bewegung anwarf.

„Still und lerne, Muichiro", war alles, was er sagte.

In Englisch war es noch schlimmer. Er kritisierte meine Aussprache, obwohl er wusste, dass ich den amerikanischen Akzent aus meiner Zeit bei Genya übernommen hatte. „Das ist kein Englisch, sondern eine Beleidigung für die Sprache", schnappte er, während ich mit rotem Gesicht die Sätze wiederholte.

„Das reicht!", sagte ich schließlich. „Warum müssen Sie mich so bloßstellen?"

„Weil du besser kannst", war seine einfache Antwort. Er sah mich direkt an, und in seinem Blick lag etwas wie Sorge, auch wenn er sie gut versteckte. Aber das machte es nicht besser.

Als endlich die Mittagspause kam, sah ich meine Chance und rannte los, bevor Obanai mich erneut irgendwohin zerren konnte. Ich flüchtete zu Senjuro, der mit seinem Bruder, Rengoku-sensei, im Lehrerzimmer saß.

„Muichiro!", rief Senjuro erfreut, als ich hereinstolperte. Er sprang auf und umarmte mich. „Was machst du hier?"

„Ich verstecke mich vor Iguro-sensei", keuchte ich. „Er tyrannisiert mich den ganzen Tag!"

„Ah, unser Iguro-san", sagte Rengoku-sensei mit einem schallenden Lachen. „Er meint es sicher nur gut, Muichiro-kun."

„Das sieht aber nicht so aus", grummelte ich und ließ mich auf einen Stuhl fallen. „Er lässt mich nicht mal mit Senjuro reden!"

„Das klingt wirklich hart", sagte Senjuro mitfühlend. „Willst du dich hier ein bisschen ausruhen?"

Ich nickte und seufzte. „Danke, Senjuro."

Rengoku-sensei legte mir eine Hand auf die Schulter. „Keine Sorge, ich werde mit Iguro-san reden. Man muss seine Fürsorge manchmal in die richtigen Bahnen lenken."

„Danke, Rengoku-sensei", murmelte ich, froh, dass ich wenigstens hier etwas Ruhe gefunden hatte.

Als wir endlich zu Hause ankamen, war Mitsuri gerade damit beschäftigt, Sumire zu füttern. Die Kleine quietschte vor Freude, als sie mich sah, und streckte ihre kleinen Händchen nach mir aus.

„Muichiro, bist du wieder da?", rief Mitsuri freudig. Doch kaum hatte ich mich zu Sumire hinuntergebeugt, um sie zu begrüßen, griff sie mit erstaunlicher Zielstrebigkeit nach meinen Haaren und zog daran. „Autsch, Sumire!", protestierte ich. „Das machst du doch extra!"

Mitsuri lachte entschuldigend. „Sie liebt deine Haare, Muichiro. Ich glaube, sie findet sie faszinierend."

„Na toll", murmelte ich, während Obanai mich mit verschränkten Armen musterte.

„Mitsuri, ich muss mit Muichiro unter vier Augen sprechen", sagte er schließlich und deutete zur Tür. „Es ist ein Gespräch zwischen Adoptivvater und Adoptivsohn."

Mitsuri blinzelte überrascht. „Oh, natürlich, Obanai. Ich bringe Sumire ins Wohnzimmer." Sie nahm die Kleine auf den Arm und warf mir einen aufmunternden Blick zu, bevor sie den Raum verließ.

Kaum waren wir allein, drehte Obanai sich zu mir um. Seine Miene war ernst, und ich konnte spüren, dass es kein normales Gespräch werden würde.

„Setz dich, Muichiro", sagte er und deutete auf den Stuhl am Küchentisch. Widerwillig folgte ich seiner Anweisung und wartete nervös darauf, was kommen würde.

Er setzte sich mir gegenüber, verschränkte die Hände und sah mich direkt an. „Ich muss mit dir über die letzten Tage sprechen."

„Was ist denn jetzt schon wieder?", fragte ich genervt.

„Hör zu", begann er, und sein Ton war überraschend sanft. „Ich weiß, dass ich in der Schule manchmal streng bin. Aber ich mache das nicht, um dich zu quälen. Ich mache das, weil ich mir Sorgen um dich mache."

„Sorgen?", wiederholte ich skeptisch. „Warum denn? Ich komme doch klar."

„Du kommst vielleicht klar, aber das, was dir passiert ist – diese Entführung – hat mir gezeigt, dass ich dich besser beschützen muss. Vielleicht war ich zu locker in der Vergangenheit."

Ich starrte ihn an. Das war nicht das, was ich erwartet hatte. „Obanai... Ich bin nicht aus Glas. Ich kann auf mich aufpassen."

„Das glaube ich dir", sagte er ernst. „Aber manchmal muss man auch Hilfe annehmen. Und ich werde dafür sorgen, dass dir so etwas nie wieder passiert."

Ich biss mir auf die Lippe. „Und was bedeutet das jetzt? Willst du mich für immer an dich ketten oder was?"

Er seufzte und rieb sich die Schläfen. „Nein, Muichiro. Ich will einfach nur, dass du verstehst, dass du nicht allein bist. Du hast uns – Mitsuri, Sumire und mich. Du bist ein Teil dieser Familie, und ich werde alles tun, um dich zu beschützen."

Seine Worte trafen mich unerwartet tief. Ich schluckte und nickte langsam. „Okay... Ich verstehe."

Er stand auf und legte mir die Hand auf die Schulter. „Gut. Jetzt iss was, bevor Mitsuri mich wieder ausschimpft, dass ich dich zu sehr beanspruche."

Ich konnte nicht anders, als zu schmunzeln. „Schon gut, Obanai. Danke... für alles."

Er nickte nur, bevor er den Raum verließ, und ich fühlte mich zum ersten Mal seit Langem wirklich zu Hause.

Als Obanai mich aufs Zimmer zog, war ich schon ein wenig verwirrt. Was hatte er jetzt wieder im Kopf? Wieso musste es immer so dramatisch sein? Der ganze Tag war schon chaotisch genug, und jetzt kam auch noch dieser Typ daher und zog mich in mein Zimmer, als wäre ich ein kleines Kind, das auf eine Vortragsstunde vorbereitet werden muss.

„Obanai, was geht jetzt ab?", fragte ich genervt und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. „Was willst du?"

Er ließ mich auf das Bett fallen, als wäre ich ein Sack Kartoffeln und setzte sich dann brav auf den Stuhl gegenüber. „Jetzt hör mal gut zu, Muichiro", sagte er in einem Ton, der so ernst war, dass ich fast ein schlechtes Gewissen bekam. „Es gibt Dinge, über die wir reden müssen. Dinge, die du wissen solltest."

„Was für Dinge?", fragte ich und rollte mit den Augen. „Du redest schon wieder wie ein Lehrer."

„Genau", sagte er und nickte bedeutungsvoll. „Ein Lehrer für die Pubertät."

Ich starrte ihn an. „Alter, ich bin 16! Ich weiß genau, was Pubertät ist!"

„Trotzdem", fuhr er fort und zog eine dramatische Miene auf, „es ist wichtig, dass du verstehst, was in deinem Körper vor sich geht. Wie zum Beispiel... diese ganzen Veränderungen. Du wirst Veränderungen durchmachen, und da müssen wir jetzt mal drüber reden."

„Oh nein, bitte nicht", murmelte ich, während ich mich ins Kissen fallen ließ. „Ich hab keinen Bock auf diesen Quatsch."

„Es geht nicht nur um körperliche Veränderungen, Muichiro", sagte Obanai und verschränkte die Arme. „Es geht auch um... deine Gefühle. Du bist in einer sensiblen Phase."

Ich schüttelte meinen Kopf und zog das Kissen über mein Gesicht. „Das ist nicht sensibel, das ist unangenehm. Ich kann die ganze Welt hören, wie sie über sowas redet. Und du bist wirklich der Letzte, mit dem ich darüber sprechen möchte."

„Du musst dich nicht schämen", meinte er ernst. „Es ist völlig normal. Du hast vielleicht schon gemerkt, dass du anfängst, dich anders zu fühlen, oder?"

„Hör auf, du machst es noch schlimmer!" Ich zog das Kissen jetzt richtig über meinen Kopf, um ihn nicht zu sehen. „Ich will nichts über meine ‚Gefühle' hören, okay?"

„Du hast auch ganz neue Bedürfnisse", sagte Obanai und sah mich dabei an, als hätte er gerade ein großes Geheimnis gelüftet. „Das ist völlig in Ordnung, wenn du anfängst, dich mehr für Mädchen oder Jungen zu interessieren."

„Oh mein Gott", stöhnte ich und rollte mich vom Bett. „Ich schwöre, wenn du noch einen Schritt weiter gehst, werde ich echt durchdrehen!"

„Du kannst nicht ewig so tun, als ob du nichts damit zu tun hättest, Muichiro", meinte Obanai ruhig, als wäre er der weiseste Mensch auf Erden. „Weißt du, was ich meine?"

„Ich kann die Erde auch drehen, wenn du weiterredest", sagte ich halb ironisch und halb panisch, während ich versuchte, die Situation zu überleben.

„Du hast angefangen, dich für die Beziehungen von anderen zu interessieren, oder? Ich meine, du bist vielleicht gerade dabei, selbst diese Phase zu durchlaufen", fuhr er fort, während er mich mit einem strengen Blick musterte.

Ich starrte ihn an und versuchte, das Ganze in meinen Kopf zu bekommen. „Obanai, bitte hör auf. Du bist nicht mein Lehrer für Beziehungen!"

„Manchmal hilft es, eine zweite Meinung zu hören", sagte er mit einem kleinen, fast süffisanten Lächeln. „Vielleicht ist es ja genau das, was du brauchst, um dir über deine Gefühle klar zu werden."

„Du bist echt der schlimmste Adoptivvater!", schimpfte ich und vergrub mein Gesicht wieder im Kissen. „Komm schon, lass uns dieses Gespräch einfach vergessen, bitte!"

„Warte, wir sind noch nicht fertig", sagte Obanai, als ob das ein ganz normales Gespräch wäre. „Es gibt noch so viel zu besprechen, Muichiro. Es geht nicht nur um Beziehungen, sondern auch um Verantwortung. Du wirst mehr Verantwortung übernehmen müssen, besonders als junger Mann. Und das bedeutet, dass du auch irgendwann..."

„STOPP!", schrie ich und sprang auf. „Wenn du mir noch einen Satz über Verantwortung erzählst, breche ich durch das Fenster!"

Obanai sah mich mit ernster Miene an und nickte dann mit einem Seufzer. „Na gut, na gut. Ich werde dir diesen Vortrag verschaffen, wenn du etwas älter bist."

Ich sackte auf mein Bett zusammen und atmete tief durch. „Danke, Obanai", murmelte ich genervt. „Das war der schlimmste Vortrag meines Lebens."

„Mach dir keine Sorgen", sagte er, als wäre das alles völlig normal. „Du wirst es irgendwann zu schätzen wissen."

„Wann?", fragte ich lachend, als ich mich wieder in die Kissen fallen ließ. „Mit 30?"

„Vielleicht früher", antwortete er ernst, bevor er das Zimmer verließ.

„Wahrscheinlich erst, wenn ich tot bin", murmelte ich ihm hinterher.

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