Kapitel 17
Ich konnte den Blick von Tomioka-sensei nicht ertragen. Es fühlte sich an, als würde er mich bis auf die Knochen entblößen. Meine Gedanken drehten sich im Kreis, und ich spürte die Wut in mir aufsteigen, während ich versuchte, meine Haltung zu bewahren. Doch plötzlich, ohne dass ich es kontrollieren konnte, rutschte mir etwas heraus, das ich niemals hätte sagen dürfen.
„Vielleicht hast du ja recht, Tomioka-sensei", sagte ich, mein Blick fest auf ihn gerichtet. „Vielleicht bin ich wirklich klein und unbedeutend, aber du bist auch nichts anderes als ein Lehrer, der nichts anderes zu tun hat, als seine Schüler herunterzumachen. Vielleicht bist du einfach nur zu feige, um zuzugeben, dass du selbst auch nichts Besonderes bist."
Die Worte kamen aus meinem Mund, bevor ich überhaupt darüber nachgedacht hatte. Es war, als hätte jemand anderes sie für mich ausgesprochen. Im nächsten Moment erstarrte die ganze Klasse. Ein paar Schüler kicherten nervös, aber der Rest war totenstill. Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, als die Realität mir langsam ins Gesicht schlug. Was hatte ich da gerade gesagt?
Tomioka-senseis Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos. Ich konnte nicht sagen, ob er überrascht war oder ob er sich einfach nicht um mich kümmerte. Aber ich wusste, dass er verletzt war – und das war schlimmer als alles andere, was er mir je angetan hatte.
„Muichiro", sagte er langsam, und seine Stimme klang so ruhig, dass es mir wie ein eisiger Wind vorkam. „Das war unhöflich. Du bist weit über die Grenze gegangen."
Ich wollte etwas sagen, mich entschuldigen, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich hatte ihn verletzt, und es tat mir leid. Doch gleichzeitig fühlte ich eine seltsame Erleichterung, weil ich es endlich gesagt hatte, was ich die ganze Zeit schon dachte.
„Da du es nicht besser weißt, wirst du nach der Schule nachsitzen müssen", fuhr er fort, ohne eine Spur von Mitleid in seiner Stimme. „Du wirst nicht einfach so mit mir reden. Und du wirst lernen, deinen Platz zu kennen."
Ich senkte den Kopf und nickte wortlos. Ich wusste, dass ich eine Grenze überschritten hatte, aber es war zu spät, um zurückzunehmen, was ich gesagt hatte. Die ganze Stunde verlief im Angesicht meiner Scham, und ich konnte die Blicke meiner Mitschüler spüren, die mich jetzt wahrscheinlich für einen Außenseiter hielten.
Als der Unterricht endlich vorbei war, sammelte ich langsam meine Sachen ein. Die anderen Schüler verließen das Klassenzimmer, aber ich blieb sitzen, mein Blick immer noch auf den Tisch gerichtet, als wollte ich mich in ihm verkriechen. Ich hörte, wie Tomioka-sensei sich von seinem Schreibtisch erhob und langsam auf mich zukam.
„Du bleibst hier", sagte er mit einem kalten Blick. „Ich werde dir noch beibringen, wie man sich respektvoll verhält."
Ich nickte stumm und wartete, während er sich zurücksetzte und die Tür hinter uns schloss. Ich hatte keine Lust zu reden, wollte einfach nur alleine sein und darüber nachdenken, was passiert war.
„Du hast mir die Grenze gezeigt, Muichiro", sagte Tomioka-sensei nach einer langen Stille. „Aber jetzt zeige ich dir, dass du dich an Regeln halten musst. Du kannst dich nicht immer aus allem herausreden."
Er zog ein Blatt Papier hervor und begann, etwas zu schreiben. Ich fragte mich, wie lange diese Nachsitzstrafe dauern würde. Wahrscheinlich länger, als ich ertragen konnte. Doch gleichzeitig fühlte ich mich auch ein bisschen stolz. Es war vielleicht falsch, was ich getan hatte, aber ich hatte mich endlich gegen ihn gewehrt.
Nach einer Weile legte Tomioka-sensei das Blatt vor mir auf den Tisch. „Schreib dir alles auf, was du über dich selbst weißt. Und wenn du nicht in der Lage bist, das zu tun, dann wirst du eine lange Zeit über deine Fehler nachdenken müssen."
Ich starrte auf das Papier, aber meine Gedanken waren leer. Ich wusste nicht, was ich schreiben sollte, nicht jetzt, nicht hier. Stattdessen starrte ich einfach auf die Worte vor mir, als ob sie mir einen neuen Blick auf mich selbst geben könnten. Aber sie taten es nicht.
Ich hatte einfach das Gefühl, dass es kein Entkommen gab – keine Möglichkeit, das zurückzunehmen, was ich gesagt hatte. Aber vielleicht war das auch der Punkt, an dem ich mich von Tomioka-sensei und seiner Herablassung befreien konnte.
Die Zeit verging, und als die Nachsitzzeit endlich vorbei war, verließ ich das Klassenzimmer ohne ein weiteres Wort. Doch ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass etwas in mir zerbrochen war, während gleichzeitig ein kleiner Funken Hoffnung in mir aufblühte. Vielleicht würde ich nie der sein, den alle anderen wollten, dass ich es war. Aber ich konnte der sein, der ich selbst war – auch wenn das hieß, dass ich manchmal Grenzen überschreiten musste.
Ich ging, ohne nach links oder rechts zu schauen, einfach auf die Straße. Die Gedanken in meinem Kopf waren wie wild umherfliegende Blätter im Wind. Ich hatte einfach keine Lust mehr, an die Schule, an Tomioka-sensei oder an den ganzen Rest zu denken. Aber plötzlich hörte ich ein Hupen, und im letzten Moment sprang ich zur Seite, als ein Auto nur knapp an mir vorbeifuhr. Ich taumelte zurück, spürte das Herz in meiner Brust hämmern.
„Was zum Teufel machst du da?! Bist du verrückt?!!" rief eine laute Stimme, und ich drehte mich erschrocken um. Es war Shinazugawa-sensei, der wütend aus seinem Auto stieg und mich mit einem finsteren Blick anstarrte.
„Shinazugawa-sensei! Es tut mir leid! Ich... ich hab' nicht aufgepasst!" stammelte ich und wich etwas zurück.
„Du bist wirklich... unberechenbar, Muichiro", fauchte er, aber anstatt weiter zu schimpfen, zog er mich einfach an der Schulter, öffnete die Beifahrertür und schob mich ins Auto. „Komm, wir fahren jetzt. Du musst dringend runterkommen."
Verwirrt setzte ich mich ins Auto und schnallte mich an. Während wir fuhren, konnte ich die angespannte Atmosphäre in der Luft spüren, aber es war merkwürdig ruhig. Shinazugawa-sensei fuhr mit einer Geschwindigkeit, die mir nicht ganz geheuer war, aber er sagte nichts mehr. Es fühlte sich fast an wie eine andere Welt, die wir durchquerten. Kein Wort, nur das Geräusch des Motors.
Dann, nach einer Weile, sprach er schließlich, aber seine Stimme war leiser als erwartet. „Ich bin übrigens vor kurzem in das Haus gegenüber von euch gezogen."
Ich blinzelte überrascht und drehte mich zu ihm. „Echt? Ich... wusste gar nicht, dass du umgezogen bist."
„Ich hab's dir ja nie gesagt", brummte er, „aber es ist nichts Großes. Ich wollte einfach nur mal woanders leben. Es ist ruhig dort."
Die Fahrt ging weiter, und es war ein seltsames Gefühl, mit ihm so ruhig im Auto zu sitzen. Aber dann brach er wieder das Schweigen, und seine Stimme klang plötzlich nachdenklich.
„Muichiro", begann er, „ich weiß, du hast viel durchgemacht. Ich hoffe, es geht dir gut. Aber... es gibt da noch etwas für dich."
Er griff in seine Tasche und zog ein kleines, einfaches Flugticket heraus. Ich starrte es an, völlig verwirrt.
„Das ist von Genya", sagte er, ohne mich anzusehen. „Er hat mir gebeten, dir das zu geben. Ein Flugticket nach Amerika. Es ist für die Ferien, damit du ihn besuchen kannst. Damit ihr euch endlich wiedersehen könnt."
Mein Herz machte einen Sprung. Ich starrte auf das Ticket, als könnte es mir immer noch nicht glauben. Ein Flugticket nach Amerika... für mich?
„Das... das ist von Genya?", fragte ich leise und mein Blick wandte sich hin und her zwischen dem Ticket und Shinazugawa-sensei.
„Ja", antwortete er mit einem Seufzen. „Er hat mir gesagt, er will, dass du ihn besuchst. Dass du wieder bei ihm bist. Du solltest wirklich gehen. Er hat sich gewünscht, dass du es weißt, und er wollte, dass du nicht länger alleine bleibst."
Ich fühlte, wie sich eine warme Welle der Freude in mir ausbreitete. Genya... er hatte an mich gedacht. Er wollte mich wiedersehen. Die Vorstellung, ihn wieder in die Arme zu schließen, ihm endlich wieder nah zu sein, machte mein Herz schneller schlagen. All die Nächte, in denen ich mich nach ihm gesehnt hatte, all die schmerzlichen Momente der Trennung... sie könnten bald ein Ende haben.
„Danke, Shinazugawa-sensei", flüsterte ich, meine Stimme beinahe zitternd. „Ich... ich kann es kaum glauben. Ich werde ihn wiedersehen. Endlich."
Shinazugawa-sensei nickte knapp und sagte nichts weiter. Aber ich spürte in seinen Augen etwas, das ich nicht ganz deuten konnte – vielleicht war es eine Art von Verständnis. Vielleicht hatte er in irgendeiner Weise selbst jemanden vermisst. Aber ich war zu aufgeregt, um länger darüber nachzudenken. Ich griff das Ticket fester und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es fühlte sich an, als würde sich eine Last von mir abheben.
„Genya", murmelte ich leise vor mich hin. „Ich komme. Ich komme endlich zu dir."
Shinazugawa-sensei fuhr uns weiter, und die Welt draußen schien plötzlich weniger grau und weniger schwer. All die Gedanken über die Schule, über Tomioka-sensei und all die Probleme, die mich in letzter Zeit gequält hatten, schienen in diesem Moment bedeutungslos. Bald würde ich wieder bei Genya sein, bald würde ich wieder in seinen Armen liegen, und die Trennung würde ein Ende haben. Ich konnte es kaum erwarten.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top