Kapitel 16

Chemie war für mich immer ein Albtraum, aber heute schien es besonders schlimm zu werden. Als Iguro-sensei den Raum betrat, ergriff eine unheimliche Stille die Klasse. Er hatte dieses kalte, unerbittliche Lächeln auf den Lippen, das jedem Schüler sofort das Gefühl gab, auf dünnem Eis zu stehen.

Ich duckte mich hinter dem großen Schüler vor mir, in der Hoffnung, dass Iguro-sensei mich heute einfach ignorieren würde. Doch es war vergebens. Er hatte mich schon längst gesehen, und sein Blick war wie ein Messer, das in meiner Richtung zielte.

„Muichiro," sagte er mit einer Stimme, die keine Widerrede duldete, „komm nach vorne."

Ich seufzte leise und hob die Schultern, als ich mich aus meiner Deckung erhob. Während ich langsam zum Pult ging, bemerkte ich, dass Nezuko in der ersten Reihe saß. Iguro-sensei hatte einen Stock in der Hand, den er langsam über ihren Rücken zog, während sie zitternd auf ihrem Platz saß. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entglitt ihr, als er den Stock etwas fester auf ihren Kopf schlug.

„Du hast zu lange gebraucht, um deine Aufgabe zu erledigen," erklärte Iguro-sensei mit einer Mischung aus Kälte und Sarkasmus. „Ein paar Schläge müssen dich wohl daran erinnern, dass wir hier in der Realität sind, nicht in deinem Traumland."

Ich sah weg, um mich nicht von dem Anblick ablenken zu lassen, doch es war schwer, nicht zu bemerken, wie Senjuro in der hinteren Reihe an einem Seil zog, das Kaburamaru, Obanais gefährliche Schlange, an seinem Hals festhielt. Senjuro kämpfte sichtbar gegen den Druck an, doch die Schlange war stark – viel stärker, als ein Mensch es je sein könnte.

„Ich hatte das auch schon mal," murmelte ich, als ich in der Nähe von Senjuro vorbeiging. „Dieser Würgergriff ist nicht ohne. Du schaffst das, Senjuro."

Er war zu erschöpft, um zu antworten, und ein flimmerndes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Der Gedanke, dass ich selbst schon durch diese Tortur gegangen war, stimmte mich ein wenig milder.

Doch dann spürte ich plötzlich, wie Iguro-sensei mich grob am Ohr packte und nach vorne zog. „Und jetzt bist du dran, Muichiro. Ich hoffe, du hast dir endlich deinen Platz in der Reihenfolge verdient."

„Was?" stotterte ich, als er mich vor die Tafel zog. „Wieso muss ich immer nach vorne kommen?"

„Weil du es verdienst. Du bist genauso faul wie die anderen," zischte er, während er mich fesselte und mir den Mund mit einem Tuch verstopfte. Ich versuchte mich zu wehren, aber es war vergebens. Schon war ich an der Tafel festgebunden.

„Du wirst die Stunde still genießen müssen, Muichiro," sagte Iguro-sensei mit einem schrecklich zufriedenen Lächeln. „Vielleicht hilft es dir, deine Einstellung zu überdenken. Und wenn du nicht gehorchst, wird es schlimmer."

Die Schüler in der Klasse schauten weg, als hätten sie sich an diese brutalen Szenen gewöhnt, und der Raum wurde still, während ich in meiner misslichen Lage gefangen war. Es war, als würde die Welt um mich herum verschwimmen, doch der Druck des Tuches in meinem Mund und das unangenehme Ziehen der Fesseln an meinen Armen blieben unausweichlich.

Ich blickte auf den Boden und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Warum musste er das immer wieder tun? Was hatte ich verbrochen, außer vielleicht zu viel zu träumen und nicht immer der bravste Schüler zu sein?

Trotz der Schmerzen und der Verzweiflung, die in mir aufstieg, konnte ich nicht anders, als mir vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn ich einmal aus dieser Falle entkommen könnte – aus der Falle, die Iguro-sensei mir jedes Mal stellte, wenn er mich nach vorne zog.

Der Tag schien sich ewig hinzuziehen.

In der Ethikstunde war ich wie immer in der ersten Reihe, als ich bemerkte, dass Tomioka-sensei, der normalerweise ruhig und distanziert war, heute eine andere Haltung einnahm. Er schaute mich kaum an, als er den Raum betrat, als ob ich nicht einmal existieren würde. Es war merkwürdig. Normalerweise war er ein wenig abwesend, aber heute schien er besonders genervt, vielleicht weil er ein paar Probleme mit den anderen hatte.

„Muichiro, du bist schon wieder in der ersten Reihe," hörte ich ihn plötzlich sagen, während er mit dem Rücken zu mir stand und an der Tafel etwas notierte. Seine Stimme war kühl, aber seine Worte schienen eine andere Bedeutung zu haben, als nur eine bloße Bemerkung.

Ich versuchte, meine Haltung zu wahren, mich nicht von den Blicken meiner Mitschüler einschüchtern zu lassen. Doch als er sich langsam umdrehte und mich ansah, spürte ich einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen.

„Was hast du da? Ein weiteres Buch?" fragte Tomioka-sensei und schüttelte den Kopf. „Du weißt, es hilft dir nicht, zu viel zu lesen, Muichiro. Besonders, wenn du so klein bist, wirst du nie der Größte sein, egal wie viele Bücher du aufschlägst."

Ein paar der Schüler lachten leise, aber ich konnte den Hohn in Tomioka-senseis Stimme hören. Es war schwer, es zu ignorieren. Er sprach von meiner Größe, und ich wusste, dass er es absichtlich tat. Jeder wusste, dass ich kleiner war als der Großteil meiner Mitschüler, und das war für mich schon oft genug schwer zu ertragen. Aber wenn es von jemandem kam, dem man eigentlich vertrauen sollte, dann schmerzte es besonders.

„Du solltest dich lieber auf das konzentrieren, was wirklich zählt, statt dich in deine Bücher zu flüchten. Du bist ohnehin schon klein, also sollte man besser nicht noch kleiner werden," setzte Tomioka-sensei fort, und sein Blick bohrte sich wie ein Messer in meine Richtung.

Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden, und mein Herz begann schneller zu schlagen. Es war, als würde der Boden unter meinen Füßen zu verschwinden drohen. Warum musste er mich so quälen? Warum musste er sich auf etwas so Persönliches konzentrieren, wie meine Größe?

„Warum darfst du nicht einmal aufhören, zu meckern?" platzte es plötzlich aus mir heraus. „Warum musst du immer so gemein sein?"

Die Klasse verstummte, und alle starrten mich an. Ich konnte den Blick von Nezuko spüren, die versuchte, mich zu beruhigen, doch ich fühlte mich wie ein Außenseiter. Tomioka-sensei stand einfach nur da, mit einem kalten, aber ungerührten Blick.

„Was hast du gesagt, Muichiro?" fragte er ruhig, als hätte er es nicht verstanden. „Das war unhöflich. Du solltest lernen, deinen Platz zu kennen."

„Ich bin kein Kind mehr, Tomioka-sensei! Ich bin kein kleines, hilfloses Ding, das man einfach so herumstupst!" rief ich, meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber in meinem Inneren brüllte ich vor Wut.

Einige Schüler schauten verwirrt, andere schienen sich an die Auseinandersetzungen zwischen uns gewöhnt zu haben. Aber für mich war es der Punkt, an dem es genug war. Ich hatte genug davon, immer wieder auf meine Größe reduziert zu werden. Ich wollte nicht immer als das „kleine Kind" abgestempelt werden, das nichts zu sagen hatte.

Tomioka-sensei blieb still und starrte mich an. „Du solltest wissen, dass deine Größe dir nichts bringt. Manchmal muss man sich einfach damit abfinden, dass man kleiner ist als die anderen."

Ich spürte die Tränen in meinen Augen, aber ich kämpfte dagegen an. Ich wollte nicht weinen, nicht vor ihm. Ich hatte genug von diesen ständigen Erniedrigungen. Doch trotzdem flossen sie langsam, leise, ohne dass ich es wirklich wollte.

„Ich weiß es nicht, Muichiro," sagte Tomioka-sensei nach einer Pause, seine Stimme ein wenig weicher. „Aber du musst lernen, deine Stärken auf andere Weise zu zeigen. Sei stolz auf das, was du bist. Auch wenn du klein bist."

Seine Worte trafen mich, aber es war nicht der Trost, den ich gesucht hatte. Es war, als würde er sich selbst rechtfertigen, als würde er mir auf eine falsche Weise helfen wollen. Vielleicht war er sich nicht bewusst, wie verletzend er wirklich war. Doch ich wusste, dass ich irgendwann aufhören musste, mich von diesen Worten beeinflussen zu lassen. Ich musste einen Weg finden, damit umzugehen.

Ich wischte mir die Tränen ab, setzte mich wieder gerade hin und schloss die Augen. Vielleicht hatte er recht – vielleicht musste ich lernen, auf meine eigene Weise stark zu sein. Aber in diesem Moment konnte ich das noch nicht.

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