Kapitel 15
Als ich meine Augen öffnete, fühlte ich mich seltsam schwerelos. Das Bett war weich, die Decke warm, und ein angenehmer Duft von Lavendel umgab mich. Ich schmiegte mich einen Moment tiefer in die Kissen, ehe ich auf die Uhr blickte. Fünf Uhr. Die orangefarbenen Ziffern leuchteten sanft in der Dämmerung meines Zimmers.
Langsam setzte ich mich auf. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte jemand einen schweren Stein darauf gelegt. „Was zum...?" murmelte ich, während die Erinnerung langsam zurückkam. Der Mann, das Schlafgas, der Wald...
Ich griff nach meinem Handy, das auf dem Nachttisch lag, und drückte den Power-Knopf. Sofort blinkte der Bildschirm auf, und ich sah, dass ich über 100 Nachrichten von Genya und weitere 50 von Senjuro hatte.
Genya. Natürlich. Ich hatte ihm versprochen, ihn anzurufen. Ein schlechtes Gewissen kroch in mir hoch, als ich durch die Nachrichten scrollte.
Genya: Hey, ruf mich an, wenn du Zeit hast!
Genya: Muichiro, alles okay? Du bist normalerweise nicht so ruhig.
Genya: Mach keinen Mist, antwort mir einfach.
Genya: Obanai hat mir geschrieben, dass irgendwas passiert ist. WAS IST PASSIERT?
Ich biss mir auf die Unterlippe und öffnete seine letzte Nachricht. Ich mache mir Sorgen. Ruf mich an, wenn du kannst.
Genya. Er saß vermutlich in seinem Apartment in Amerika, wo es jetzt mitten in der Nacht war, und dachte wahrscheinlich an die schlimmsten Szenarien. Ich tippte schnell eine Nachricht ein.
Ich: Hey, mir geht's gut. Sorry, dass ich gestern nicht geantwortet habe. Ich erkläre es dir später. Es war nur ein anstrengender Tag.
Ich drückte Senden und seufzte. Danach wandte ich mich den Nachrichten von Senjuro zu.
Senjuro: Muichiro! Alles okay? Obanai-sensei hat gesagt, dass du entführt wurdest!
Senjuro: Bitte sag, dass du in Ordnung bist!
Senjuro: Ich komme sofort vorbei, wenn du mich brauchst.
Mein Daumen schwebte über der Tastatur. Es war schwer, all diese Besorgnis zu lesen. Ich fühlte mich irgendwie schuldig, obwohl ich ja nichts dafür konnte. Ich schrieb ihm:
Ich: Danke, Senjuro. Mir geht's gut, wirklich. Obanai-sensei hat mich gefunden und nach Hause gebracht. Ich melde mich, wenn ich dich sehe.
Ich legte das Handy zurück auf den Nachttisch und ließ mich wieder ins Bett fallen. Mein Kopf drehte sich noch immer von den Ereignissen des Vortags. Wer waren diese Männer? Warum wollten sie mich? Und wie hatte Obanai mich überhaupt gefunden?
Ich war gerade dabei, die Decke wieder über meinen Kopf zu ziehen, als es an der Tür klopfte. „Muichiro, bist du wach?" Es war Obanais Stimme.
„Ja," rief ich zurück.
Die Tür öffnete sich, und er trat ein. Seine Augen musterten mich, als würde er mich auf Verletzungen überprüfen. „Du hast gestern viel durchgemacht. Wie fühlst du dich?"
„Ich..." Ich zögerte, dann nickte ich. „Mir geht's gut. Danke, dass du mich gefunden hast."
Obanai verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen den Türrahmen. „Du hast mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt, weißt du das?"
„Es tut mir leid," murmelte ich.
„Es ist nicht deine Schuld," sagte er schnell, und seine Stimme war überraschend sanft. „Aber du hättest tot sein können. Weißt du, wie ich mich gefühlt habe, als ich dein Handy am Boden gefunden habe? Du lässt dein Handy nie einfach fallen."
Ich senkte den Blick. „Ich habe mich gewehrt, aber... sie waren zu stark."
Er kam näher und setzte sich auf die Bettkante. „Ich erwarte nicht, dass du dich allein verteidigen kannst. Das ist mein Job, Muichiro. Ich bin hier, um dich zu beschützen. Das ist, was ein Vater tut."
Seine Worte trafen mich. Es war selten, dass Obanai so direkt über seine Gefühle sprach. Er war meistens der strenge Lehrer, der scheinbar alles unter Kontrolle hatte. Aber jetzt klang er wie jemand, der mich wirklich liebte.
„Danke," sagte ich leise. „Ich... wusste nicht, dass dir das so wichtig ist."
Er runzelte die Stirn. „Natürlich ist es das. Du bist mein Sohn, Muichiro. Ich würde alles für dich tun. Und ich meine alles."
Ich fühlte einen Kloß in meinem Hals. Es war seltsam, das zu hören, aber es war auch... schön. „Ich werde vorsichtiger sein," versprach ich ihm.
Obanai lächelte schwach. „Das hoffe ich. Und jetzt steh auf, wir frühstücken. Ich habe deine Lieblingspfannkuchen gemacht."
„Wirklich?"
„Ja, aber nur, wenn du dich jetzt aus dem Bett bewegst."
Ein kleines Lächeln stahl sich auf mein Gesicht. „Okay. Ich komme."
Als ich in die Küche schlurfte, noch immer halb schlafend, spürte ich plötzlich zwei Arme, die sich um mich schlangen. Bevor ich überhaupt realisieren konnte, was los war, drückte mich Mitsuri an sich. Fest. Viel zu fest.
„Muichiro!" schluchzte sie. „Oh Gott, ich bin so froh, dass du in Sicherheit bist! Ich hätte fast einen Herzinfarkt bekommen!"
„Mitsuri... ich... bekomme keine Luft," keuchte ich.
„Oh!" Sie lockerte ihren Griff, aber nur minimal. Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie mich weiterhin festhielt. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Obanai hat gestern kaum etwas gesagt, aber ich wusste, dass etwas Schlimmes passiert ist! Du hättest..."
„Mitsuri, es ist okay," murmelte ich und versuchte, mich aus ihrer Umarmung zu befreien. „Ich bin hier. Mir geht's gut."
„Gut?" wiederholte sie und sah mich mit geröteten Augen an. „Dir geht's gut? Du wurdest entführt, Muichiro! Weißt du, wie schlimm das hätte enden können?"
„Ja, ich weiß," sagte ich leise. „Aber Obanai hat mich gerettet. Es ist alles vorbei."
„Das ändert nichts daran, wie viel Angst ich hatte," sagte sie mit zitternder Stimme. „Du bist so jung, Muichiro. Du solltest nicht solche Dinge durchmachen müssen!"
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also stand ich einfach nur da und ließ sie sich beruhigen. Schließlich wischte sie sich die Augen ab und schenkte mir ein schwaches Lächeln. „Hast du Hunger? Ich habe frischen Tee gemacht. Und Obanai hat Pfannkuchen gemacht!"
„Ein bisschen," murmelte ich.
„Setz dich hin," sagte sie sanft und schob mich in Richtung des Tisches.
Obanai stand am Herd und füllte gerade einen Teller mit goldbraunen Pfannkuchen. „Gut, dass du endlich da bist," sagte er, ohne sich umzudrehen. „Ich habe keine Lust, deinen Teller warm zu halten."
Ich setzte mich an den Tisch und beobachtete, wie Mitsuri mir eine Tasse Tee einschenkte. Sie setzte sich mir gegenüber und musterte mich besorgt.
„Muichiro," begann sie vorsichtig, „hast du... irgendwas von den Männern gehört, die dich entführt haben? Haben sie gesagt, warum sie dich wollten?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Sie haben irgendwas über meinen Wert gesagt, aber ich weiß nicht, was das bedeuten soll."
Obanai drehte sich zu uns um und stellte den Teller vor mir ab. „Dein Wert?" Er klang nachdenklich. „Das ist seltsam. Warum sollte jemand dich speziell ins Visier nehmen?"
„Vielleicht... vielleicht haben sie mich verwechselt?" schlug Mitsuri vor, obwohl sie selbst nicht überzeugt wirkte.
Obanai runzelte die Stirn. „Das bezweifle ich. Niemand entführt jemanden einfach so ohne Grund."
Ich senkte den Blick auf die Pfannkuchen vor mir. Sie sahen perfekt aus, aber mein Appetit war verschwunden. Die Erinnerung an die Männer und ihre bedrohlichen Stimmen ließ mich nicht los.
„Wir müssen herausfinden, wer sie sind," sagte Obanai schließlich. „Und vor allem, warum sie dich wollten."
„Aber wie?" fragte Mitsuri. „Wir wissen doch gar nichts über sie."
„Noch nicht," sagte Obanai. „Aber ich habe ein paar Ideen."
Ich schluckte. „Ihr müsst euch nicht so viele Sorgen machen. Es... es ist vorbei. Wirklich."
„Muichiro," sagte Mitsuri sanft, „es mag vorbei sein, aber wir wollen sicherstellen, dass so etwas nie wieder passiert. Du bist uns wichtig."
„Das stimmt," fügte Obanai hinzu, und seine Stimme war ungewöhnlich ernst. „Du bist mein Sohn. Ich lasse nicht zu, dass dir noch einmal etwas passiert."
Seine Worte trafen mich. Ich hatte nie wirklich darüber nachgedacht, wie sehr ich ihm bedeutete, aber in diesem Moment war es klar. Er würde alles tun, um mich zu schützen.
Ich nickte langsam. „Danke," sagte ich leise. „Euch beiden."
Mitsuri lächelte und griff nach meiner Hand. „Wir sind eine Familie, Muichiro. Und Familie passt aufeinander auf."
Ich biss mir auf die Lippe, um die plötzliche Welle von Emotionen zu unterdrücken. Dann griff ich nach der Gabel und begann langsam, die Pfannkuchen zu essen. Sie schmeckten besser, als ich erwartet hatte.
Während ich die letzten Bissen meiner Pfannkuchen aß, wurde die ruhige Atmosphäre plötzlich von einem lauten Schrei durchbrochen. Ich zuckte zusammen, Mitsuri sprang auf und Obanai warf mir einen fragenden Blick zu.
„Sumire," murmelte ich und stand hastig auf. Der kleine Schrei aus dem Nebenzimmer wurde lauter, und ich ging schnell hinüber.
Sumire lag in ihrem Bettchen, ihre kleinen Hände waren zu Fäusten geballt, und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie schrie so laut, dass es mir fast in den Ohren wehtat.
„Hey, Sumire, alles gut," murmelte ich und hob sie vorsichtig hoch. Sie strampelte kurz, aber sobald sie in meinen Armen war, wurde ihr Schreien leiser. Ihre großen, tränengefüllten Augen blickten zu mir auf, und ihr Weinen verwandelte sich in ein leises Schluchzen.
Mitsuri erschien im Türrahmen. „Ist alles okay?" fragte sie besorgt.
„Ja," sagte ich und wiegte Sumire sanft hin und her. „Ich glaube, sie hatte nur einen schlechten Traum."
„Die Arme," flüsterte Mitsuri und trat näher. „Willst du, dass ich sie nehme?"
„Schon gut," antwortete ich, ohne den Blick von Sumire abzuwenden. „Ich glaube, sie beruhigt sich schon."
Ich setzte mich mit ihr in den großen Sessel in der Ecke des Zimmers. Ihr Schluchzen verstummte allmählich, und ich begann, ihre kleinen Füße zu kitzeln.
„Du bist ja eine ganz Starke, nicht wahr?" sagte ich leise, während ich ihre Zehen vorsichtig antippte.
Sumire gluckste und versuchte, ihre Füße wegzuziehen, aber ich hielt sie sanft fest. Ihr Lächeln breitete sich über ihr kleines Gesicht aus, und ich konnte nicht anders, als selbst zu lächeln.
Obanai tauchte ebenfalls in der Tür auf, lehnte sich gegen den Rahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du bist ja ein richtiger Profi," bemerkte er trocken.
Ich warf ihm einen schiefen Blick zu. „Ich hab Talent, was soll ich sagen?"
„Oder du bist einfach ihr Lieblingsmensch," sagte Mitsuri und lächelte.
„Das glaube ich auch," fügte Obanai hinzu, doch sein Tonfall war ungewohnt weich.
Ich blickte zu Sumire hinunter, die mich mit ihren großen, leuchtenden Augen ansah. Sie gähnte und kuschelte sich enger an mich.
„Vielleicht bin ich das wirklich," murmelte ich und fühlte, wie mein Herz sich bei dem Gedanken wärmer anfühlte.
Mitsuri trat näher und legte eine Hand auf meine Schulter. „Du bist ein guter Bruder für sie, Muichiro. Sie fühlt sich sicher bei dir."
Ich spürte, wie ich leicht rot wurde, und wandte meinen Blick ab. „Ich mache nur, was ich kann," murmelte ich.
Obanai räusperte sich. „Was du kannst, ist verdammt viel. Sumire braucht jemanden wie dich. Und ehrlich gesagt... wir auch."
Seine Worte überraschten mich. Ich schaute ihn an, aber er hatte seinen Blick auf Sumire gerichtet, als würde er etwas vermeiden wollen.
„Danke," sagte ich leise und drückte Sumire ein wenig fester an mich.
In diesem Moment fühlte ich mich mehr zugehörig als jemals zuvor.
Als ich meine Schultasche über die Schulter warf, stand Obanai schon ungeduldig an der Tür und klopfte mit den Fingern auf den Türrahmen.
„Beweg dich, Muichiro, wir haben keine Zeit zu verlieren!" drängte er.
„Ich bin doch schon fertig," murmelte ich und zog meine Schuhe an.
Obanai packte mich am Arm und zog mich mit einem Tempo Richtung Auto, bei dem ich fast über meine eigenen Füße stolperte. „Du brauchst ewig! Kein Wunder, dass du morgens nie rechtzeitig fertig wirst."
„Vielleicht, weil du mich ständig hetzt?" gab ich genervt zurück, während er die Autotür aufriss und mich auf den Beifahrersitz schob.
„Vielleicht, weil du dich wie ein Faultier bewegst," konterte er trocken und schnallte sich an.
Der Rest der Fahrt verlief still, abgesehen von der Musik im Radio, die Obanai immer viel zu laut stellte. Sobald wir auf den Schulhof einbogen, verwandelte er sich. Der entspannte, manchmal sogar sarkastische Obanai verschwand, und Iguro-sensei übernahm das Kommando.
„Los, raus aus dem Auto. Und halt dich an die Regeln!" zischte er, als er ausstieg.
Ich seufzte. „Was für Regeln?"
„Dass du dich nicht wie ein Idiot benimmst. Und mach keine Dummheiten, sonst endest du wieder in der Opferreihe."
„Ich bin dein Adoptivsohn, nicht dein Schüler," murmelte ich und folgte ihm.
„Hier drin bist du nur einer von vielen," sagte er streng, während er in Richtung Lehrerzimmer marschierte und mich hinter sich herzog wie einen Anhänger.
Im Flur blieben wir stehen, weil einige Schüler uns mit panischen Blicken Platz machten. Ich war daran gewöhnt, dass alle Angst vor Iguro-sensei hatten, aber heute schien er besonders einschüchternd zu wirken.
„Muichiro!" rief plötzlich eine vertraute Stimme. Senjuro tauchte aus der Menge auf und rannte zu mir. „Du bist spät dran!"
„Ich weiß," antwortete ich und versuchte, mich von Obanais Griff zu befreien.
„Iguro-sensei, ich kann ihn zum Klassenzimmer bringen, wenn Sie möchten," bot Senjuro höflich an, wobei er Obanai aus großen Augen ansah.
„Nein," sagte Obanai knapp und zog mich weiter. „Ich bringe ihn selbst. Er hat es verdient, wie ein kleiner Grundschüler behandelt zu werden, wenn er ständig trödelt."
„Ich habe nicht getrödelt!" protestierte ich, aber meine Worte gingen im allgemeinen Gemurmel der Schüler unter.
Vor meiner Klasse ließ Obanai mich endlich los. Er drehte sich zu mir um und beugte sich leicht herunter, sodass seine scharfen Augen direkt in meine sahen. „Halt dich zusammen, Muichiro. Und wenn du Mist baust, weißt du, was passiert."
„Ja, ja, Opferreihe, Klebeband, Haken über der Tafel, ich kenne das Programm," murmelte ich sarkastisch.
Sein Blick wurde noch schärfer. „Du hast Glück, dass ich keine Zeit habe, mich mit dir zu streiten. Aber vergiss nicht, wer hier die Macht hat."
„Schon klar," murmelte ich und schlüpfte in die Klasse, wo ich mich sofort in die letzte Reihe setzte, weit weg von der gefürchteten Opferreihe.
Kaum war ich drin, begann die Stunde, und Obanai stand vorne wie ein General, bereit, die Schüler zu drillen. Doch zwischendurch, während ich mir Notizen machte, bemerkte ich, wie er kurz zu mir herübersah. Für einen winzigen Moment war da ein Ausdruck von Sorge in seinen Augen, bevor er wieder in seine erbarmungslose Lehrerrolle schlüpfte.
Trotz all seiner Härte wusste ich, dass ich ihm wichtig war. Aber er hatte eine eigenartige Art, das zu zeigen.
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