91
»Hm - hmm - hm - hmm.«
Langsam wog ich mich vor und zurück, während ich meine eigenen Beine umklammerte und immer wieder ein paar Büschel Gras aus dem Boden rupfte, das meine Hände nass und dreckig machte.
Es regnete.
Als würde der Himmel seine Bestürzung zum Ausdruck bringen wollen.
Mein Haar hing mir in nassen Strähnen im Gesicht, während sich immer wieder vereinzelte Regentropfen in meinen Wimpern verfingen, nur, um im nächsten Moment meine Wangen hinab zu perlen.
Vielleicht weinte ich. Vielleicht war es der Regen. Ich wusste es nicht.
Der Medizinschuppen türmte sich groß neben mir auf, während ich immer wieder ein paar dicke Tropfen von den alten, riesigen Tannen neben mir abbekam.
Ich trug nicht einmal Schuhe. Meine Füße gruben sich tief in die nasse, matschige Erde.
Es war kalt.
Ein Schauer überkam mich, woraufhin ich meine Beine nur noch fester umklammerte.
Vielleicht war es nicht schlau gewesen, bloß in meinen Schlafsachen raus zu gehen, allerdings war es, als könnte ich seit letzter Nacht kaum mehr irgendetwas fühlen.
Ich war seltsam taub.
Ja. Taub war das richtige Wort.
Langsam hob ich meinen Kopf in den Nacken, um in den immer dunkler werdenden, grauen Himmel zu sehen.
Grau... Grau wie seine Augen.
Nein! Hör auf Aruna...
Doch ich konnte nicht...
Mein Herz gab ein verletztes, kleines Wimmern von sich, ich musste meine brennenden Augen schließen, während der Regen weiter und weiter auf mein Gesicht hinab prasselte und mich vollkommen durchnässte.
Meine Glieder schmerzten und ich wusste ehrlich nicht, wie lange ich bereits draußen in diesem erbarmungslosen Regen saß.
Es mussten Stunden sein.
Meine Hände zitterten, während ich meinen eigenen Körper umklammerte.
Und diese Gedanken... Seine Worte... Sie ließen mich einfachnicht los, hallten in meinen Ohren wieder und ließen mich wimmernd immer weiter zusammensinken.
Ich war es Schuld... Ich einzig allein... Alles... Meine Schuld... Und ich war erbärmlich, so unendlich erbärmlich...
Hätte ich doch bloß nie das Licht der Welt erblickt.
Ich wimmerte auf, schmeckte meine salzigen Tränen und schüttelte langsam den Kopf, während seine Kälte mich immer noch einfrieren zu schien.
»Es tut mir so leid...«, hauchte ich zitternd.
Es tut mir so unendlich leid... Ich wollte das alles nicht... Ich wollte nicht der Grund sein... Ich wollte nicht das Verderben sein...
Doch ich war es.
Meine Lippen bebten, ich senkte meinen Blick und vergrub mein Gesicht in meinen Händen.
Stumme Schluchzer schüttelten mich, während ich meinen Kopf weiter und weiter, wie im Wahn, schüttelte.
»Es tut mir so leid...«
Immer und immer wieder. Der gleiche Satz.
Meine Schuld... alles meine Schuld...
Ein weiterer Schauer überkam mich, das kalte Wasser perlte von meinem nassen Haar ab.
Zitternd wog ich mich weiter vor und zurück und versuchte verzweifelt, mich an dieser einen Melodie festzuhalten, die Lumina immer gesummt hatte, wenn ich mich schlecht gefühlt hatte.
Doch es schien beinahe so, als würde sie mir einfach entgleiten, wie alles, was ich anrührte.
Du machst immer alles kaputt...
Lumina... Vielleicht würde ich sie niemals wieder sehen.
»Jetzt bin ich alleine...«, hauchte ich mich brüchiger, zittriger Stimme.
»Ganz allein... ganz allein...«
Denn ich war allein...
Ich dachte... Ich hatte immer gedacht... Dass er... dass Alec...
Aber ich war alleine...
Ich hatte niemanden. Niemanden, der mich zurück an das rettende Ufer hätte ziehen können. Denn im Moment versank ich weiter und weiter im kalten, tiefschwarzen Wasser.
Es war, als wäre der Alec, den ich langsam zu... schätzen gelernt hatte, einfach verschwunden...
Als wäre der Alec, der mit den Mundwinkeln zuckte und fast lächelnd die Augen verdrehte, wenn ich etwas Dummes tat, einfach... weg.
Ich blinzelte heftig und fühlte mich schwer, so unendlich schwer, als würde mich irgendetwas unaufhaltsam hinab drücken.
Er hasste mich.
Doch hatte er nicht jedes Recht dazu, mich zu hassen? Denn es stimmte... es stimmte doch...
Wegen mir war sein Ami gestorben.
Ich schluckte schwer.
»Oh Ally...«, hauchte ich, wusste nicht, zu wem ich in diesem Moment sonst sprechen sollte.
»Dein Bruder... er hasst mich...«
Meine Stimme versagte, ich wimmerte auf, vergrub mein Gesicht tiefer in meinen Händen und ließ den kalten Regen einfach auf meinen zusammengekrümmten Körper prasseln.
Sekunden.
Minuten.
Vielleicht Stunden.
Und ich konnte nichts anderes tun, als einfach vollkommen taub da zu sitzen und mich erbärmlich zu fühlen, während der Wind meinen Körper grausam umspielte und mich krank machte, mit jeder einzelnen Sekunde immer weiter.
»Hey.«
Ich sah nicht einmal auf, als seine Stimme ertönte, wusste nicht, ob ich mich überhaupt noch bewegen konnte.
Mein Körper reagierte kaum auf ihn, als hätten Alecs Worte ihn vollkommen zerstört.
»Will«, erwiderte ich mit brüchiger, krächziger Stimme, während ich nicht verhindern konnte, dass die Tränen meine Stimme durchtränken, dass ich krank klang, äußerlich wie innerlich.
Ich hatte ihn kommen gehört. Getan hatte ich trotzdem nichts. Sollte er doch hier sein...
Der tauben, der verletzten, der zerbrochenen Aruna war es so unendlich egal...
Und deshalb war es ein Fehler, seine ganze Sicherheit, seinen ganzen Halt in eine einzige Person zu legen.
Ein wackliger Turm, der jeden Moment zusammenbrechen konnte. So, wie er es getan hatte.
Für einen Moment verharrte Will an seinem Platz und kurz dachte ich wirklich, er würde einfach wieder gehen, weil ich nicht mehr daran glauben konnte, dass auch nur irgendjemand sich die Mühe machen würde, daran zu denken, was mit dieser einen, unwichtigen Roten Wölfin war.
Doch da ertönten plötzlich erneut Schritte. In meine Richtung.
Ich sah nicht auf, doch im nächsten Moment spürte ich, wie sich ein großer Körper neben mich auf die nasse Erde fallen ließ.
»Hier«, murmelte Will leise, sanft, wie er immer mit Isla sprach und im nächsten Moment spürte ich, wie sich eine warme, schwere Decke um meine Schultern legte.
Ich erschauderte, während Wills Hand für den Bruchteil einer Sekunde meine Schulter berührte, bevor er sie wieder zu sich zog.
Ich sagte nichts, kein einziges Wort, weinte stumm und vollkommen dumm weiter.
Ich schaffte es nicht einmal, ihn anzusehen.
Das einzige, was ich spürte, war seine große, warme Präsenz neben mir, seine Schulter, die meine fast berührte und dann doch diesen gewissen Abstand hielt.
»Du bist schon lange hier draußen«, murmelte Will irgendwann, während die schwere Decke um meine Schulter vom Regen durchtränkt wurde, mich allerdings trotzdem irgendwie wärmte.
Will atmete tief durch, ich zitterte, für einen Moment herrschte Stille.
Und ich glaubte, nie wieder von diesem nassen Boden aufstehen zu können. Als kettete mich eine unbekannte Macht an ihn, damit ich nie vergaß, welches Verderben ich brachte.
»Poppy macht sich Sorgen...«, versuchte Will anzusetzen, ich blieb immer noch absolut still.
Poppy musste sich keine Sorgen machen... Ich zerbrach einfach langsam immer weiter, stumm, damit es niemanden störte...
Schließlich hörte ich Will seufzen, als würde er irgendetwas beschließen.
Ich spürte eine Bewegung, Will drehte sich zu mir.
»Willst du mir erzählen, was los ist?«
Nein. Nein, das wollte ich nicht. Und im gleichen Moment doch. Im gleichen Moment wollte ich einfach irgendjemandem, bloß irgendjemanden, mein gesamtes Herz ausschütten, das drohte, vollkommen hinab zu sinken, weil es schwerer und schwerer und schwerer wurde.
Langsam schüttelte ich den Kopf, wollte trotzdem schreien. Nach Halt rufen, flehte, dass Alec seine Worte einfach zurück nehmen würde.
Für einen Moment spannte sich Will etwas an, doch bevor er etwas antworten konnte, fuhr ein kleiner Ruck durch meinen Körper.
Ich musste reden.
Meine Hände krallten sich in meine Beine, bis es schmerzte, ich fühlte mich so unendlich ausgelaugt.
Bebend vor Kälte und vor Trauer und vor Schmerz hob ich meinen Kopf an, blinzelte heftig.
Mein Kopf brummte, tausend Gedanken rasten in ihm und dann doch keiner.
Und da saß er. Will, mit den eisblauen Augen, die mich besorgt ansahen, mit dem braunen Haar, das vollkommen durchnässt hinab hing, weil er nicht ging.
Seine Haltung war ruhig, als wolle er mir das Gefühl geben, ich hätte alle Zeit der Welt, bis ich bereit war, um zu sprechen.
Mein Mund öffnete sich, ich blinzelte heftig, sah mit Sicherheit schlimm aus und versuchte angestrengt, klar zu sehen.
Die Tränen allerdings schienen nicht verebben zu wollen. Ich brachte kein einziges Wort heraus, nur einen erbärmlichen, kleinen Schluchzer.
Für einen Moment wirkte es beinahe so, als wolle Will seine Hand heben, um sie mir auf die Schulter zu legen, um mich zu trösten.
Doch er tat es nicht.
Vielleicht war ich ihm dankbar dafür. Vielleicht auch nicht. Ich wusste es nicht.
Ich spürte, wie die Tränen weiterhin über meine Wange rannen, sich mit dem kalten Regen vermischten und meine Haut tränkten.
Ich wollte reden. Ich wollte wirklich, doch ich konnte einfach nicht.
Und alles nur, weil ich dabei gewesen war, jemandem zu vertrauen, dem ein Mädchen wie ich nicht vertrauen sollte.
»Ich glaube«, setzte Will dann plötzlich an, während die Regentropfen von meinen halb geöffneten Lippen hinab perlten.
Ein warmer Ausdruck legte sich in seine Augen.
»Ich glaube, manchmal ist das Leben nicht fair. Manchmal werden die schönsten, die buntesten Blumen zertreten, weil die Leute neidisch auf sie sind, auf ihre Farben und alles, was sie so viel schöner macht, als alles anderen.«
Ich schüttelte atemlos mit dem Kopf, wollte nicht, dass er so sprach, weil es alles nur noch viel wirrer machte.
Mein Mund öffnete sich, ich ballte meine Hände zu Fäusten, doch so sehr ich mich bemühte, am Ende war meine Stimme doch nur ein erbärmliches, kleines Krächzen.
»H-Hat...«, meine Stimme brach wie dünnes Eis, während der Regen von Wills weichem Gesicht hinab tropfte und die einkehrende Dunkelheit seine Augen nur noch mehr zum strahlen zu bringen schien.
Ich blinzelte heftig, schüttelte wirr mit dem Kopf und wimmerte vollkommen erbärmlich auf.
Doch Will sagte nichts. Will sah mich an, sanft und beruhigend, als könne ich ihm alles sagen. Als würde sein Blick sagen »Keine Sorge, ich bleibe«.
Und da hörte ich auf in meiner wirren Bewegung. Ich keuchte auf, wandt meinen Blick von Will ab, umklammerte meinen eigenen Körper noch fester und starrte gegen die großen Tannen vor uns.
»H-Hat... hat dir jemals jemand... das Gefühl gegeben... du wärst... wärst völlig wertlos? Dumm... naiv....erbärmlich...«
Am Ende wurde meine Stimme immer leiser, nicht mehr als ein Hauch. Sie zitterte, brach und schien mit dem Wind davon getragen zu werden.
Und für einen Moment dachte ich, Will hätte mich nicht gehört. Er sagte nichts. Tat nichts. Nichts, außer mein verweintes Profil zu betrachten, als hätte er niemals etwas faszinierenderes gesehen.
Und gerade, als ich meinen Blick wieder senken wollte, als ich mich wieder hinter meinen Händen verstecken wollte, nickte er plötzlich.
»Ja.«
Ich blinzelte.
Ja? Ja.
Aber er war doch ein Alpha... Was könnte er schon für Probleme haben...
Ich senkte den Blick und schüttelte langsam meinen Kopf, während diese dummen, dummen Tränen einfach nicht verschwanden.
»Ich weiß«, setzte Will dann plötzlich seufzend an.
»Ich weiß, dass ich manchmal naiv sein kann. Ich weiß, dass ich zu viel Gutes in schlechte Personen lege. Ich weiß, dass ich Menschen, egal wie viel gegen sie spricht, viel zu schnell Vertraue, weil ich nicht glauben kann, dass sie jemals etwa schlechtes tun könnten. Ich weiß, wie schlecht ich Sachen vor anderen Leuten verbergen kann, wie aufdringlich ich manchmal wirken kann, auch wenn ich es selbst nicht merken. Und das als Alpha.«
Seufzend schüttelte er den Kopf, der Regen tropfte von seinem Haar hinab und es war, als würde er mir mit jedem einzelnen Wort einen weiteren, messerscharfen Dolch in die Brust rammen.
Was hatte ich nur getan...
»Ich weiß all diese Dinge - natürlich. Aber sie von einer Person gehört zu bekommen, die man so sehr liebt, dass man ihr die Sterne vom Himmel holen würde, einfach, damit man ihr lächeln sehen kann... Das schönste Lächeln, was einem jemals untergekommen ist, zu perfekt, zu rein, dass es jemals echt sein könnte...«
Er stockte, seine Stimme hatte angefangen zu beben und als er schnaubend den Kopf schüttelte, sah ich das Glänzen in seinen Augen.
»Das Aruna... Es tut mehr weh, als jeder einzelne Knochenbruch es jemals könnte.«
Ich weiß. Wusste ich? Nein. Oder? Keine Ahnung. Vielleicht nicht...
Nicht in diesem Ausmaß. Ich wusste, wie es sich anfühlte, solche Sachen von einer Person zu hören, der man langsam angefangen hatte, zu vertrauen.
Aber wie konnte ich auch so dumm gewesen sein? Wie konnte ich so blind gewesen sein? Wie konnte ich so naiv gewesen sein?
Ich war wie Will... Ich legte zu viel gutes in... in...
War er Schlecht? Vielleicht.
Aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben...
Dumm, so verdammt dumm...
Wie konnte ich jemals denken, einem Ven könnte man vertrauen? Es war, als wäre mein Herz noch schwerer geworden, als zuvor schon und ich fühlte mich zum ersten Mal wirklich miserabel für das, was ich hier tat.
Zum ersten Mal, wollte ich nicht, dass Will augenblicklich wieder verschwand. Zum ersten Mal verstand ich ihn.
Ein Schauer überkam mich wegen seinen Worten, die Art, wie er von ihr sprach, die Sehnsucht, die Trauer, die Verletzung in seiner Stimme...
Und ich wusste von wem er sprach. Die ominöse Sie. Was hatte sie ihm nur angetan?
Langsam schüttelte ich den Kopf und warf ihm einen kurzen Blick zu, wie er da saß, ehrlich getroffen, ehrlich verletzt, zusammengesunkener als zuvor.
Oh Gott... Was hatte ich getan?
Wieso konnte es nicht einfach dieses bescheuerte, stink normale, schwarz und weiß geben?! Warum konnte es nicht einfach gut und böse geben?!
Weil die Welt viel bunter ist, als das, Aruna, weil es hunderte, verschiedene Farben gibt, weil niemand grundsätzlich gut ist, weil niemand grundsätzlich schlecht ist.
Weil das die Welt ist, in die du hinein geboren wurdest.
Bunt und schrill und grell und düster und schwach und tanzend und ruhend und weinend und lachend und liebend und hassend.
Aber niemals wirklich und wahrlich und aufrichtig gut.
Aber niemals wirklich und wahrlich und aufrichtig schlecht.
»Du hast sie geliebt. Das Mädchen, von dem hier niemand spricht und doch ist es allgegenwertig.«
Meine Stimme klang erbärmlich. So, wie ich mich fühlte.
Wenn ich ehrlich war, dachte ich nicht einmal wirklich darüber nach, was ich da sagte, ob es gut, ob es schlecht, ob es leichtsinnig oder durchdacht war.
Ich redete einfach.
Will sah mich nicht an. Den Kopf immer noch gesenkt, die braunen Haare auf der Stirn klebend, während ich da saß und zitterte und ihn betrachtete.
Dann langsam, ganz langsam, nickte er.
»Roya.«
Roya.
Der Name schien in meinen Ohren wiederzuhallen, schien sich in mir aufzutürmen, schien jede einzelne Faser meines Körpers einzunehmen.
Roya.
Der Klang dieses Namens schien... es war unbeschreiblich. Und er hörte sich so bekannt an, so unendlich bekannt, als wäre es mein eigener.
»Roya«, wiederholte ich mit zittriger Stimme, als könnte ich das Gefühl, das der Name in mir aufkeimen ließ, so besser deuten.
Langsam nickte Will, stierte gegen die Tannen vor uns, während es schien, als würden die Tränen auf meinen Wangen langsam immer weiter trocknen, bis da nur noch der kalte Regen war, der mich erschaudern ließ.
»Ich habe sie geliebt«, hauchte Will kopfschüttelnd.
»Ich dachte, sie wäre diejenige, auf die ich mein Leben gewartet hatte. Doch dann ist sie einfach gegangen...«
Ich schüttelte langsam denKopf.
Will war ein Träumer... Aber war das eine Schwäche? Ich wusste es nicht.
»Und jetzt?«, hauchte ich mit leiser Stimme, die vor Kälte zitterte.
»Jetzt? Liebst du sie immer noch?«
Ich wusste nicht, warum ich fragte.
Vielleicht, um überhaupt irgendetwas sagen zu können.
Will stockte, hielt inne, für einen Moment dachte ich, er hätte aufgehört zu atmen. Es folgte eine Stille.
Lange.
Will sagte nichts.
Er saß da, völlig regungslos, starrte gegen die Tannen und blinzelte nicht einmal.
Doch gerade, als ich meinen Blick abwenden wollte, weil ich dachte, er würde nicht mehr auf die Frage reagieren, hob er plötzlich den Kopf, langsam, ganz langsam.
Und ich sah sie. Die Tränen in seinen Augen. Weil ihn ein Mensch, den er einst so sehr geliebt hatte, mehr verletzt hatte, als es jemals irgendjemand anderes könnte.
Unter seinem Blick erschauderte ich und als er dann plötzlich den Kopf schüttelte, hielt ich überrascht die Luft an.
»Nein«, hauchte er.
»Ich habe sie geliebt. Eine lange Zeit lang. Ich hätte alles getan, damit sie zu mir zurück kehren würde... Aber jetzt... Jetzt sind meine Augen offen. Ich habe akzeptiert, ich habe verstanden, dass sich selbst der schönste, selbst der reinste Engel in einen Teufel verwandeln kann... Lange Zeit war sie mein Verderben... Aber ich habe aufgehört... Ich habe aufgehört, sie zu lieben...«
Und aus irgendeinem Grund trafen mich seine Worte. Mehr, als sie jemals sollten. Als könne ich den Gedanken nicht ertragen, dass es möglich war, aufzuhören jemanden zu lieben.
Er betrachtete mich, lange, nachdenklich. Dann schüttelte er langsam erneut den Kopf.
»Ich weiß nicht, wer es war, der dich verletzt hat Aruna... Aber darf ich dir einen Ratschlag geben?«
Ich senkte den Blick.
Durfte er? Ich wusste es nicht...
Könnte überhaupt je irgendein Ratschlag das heilen, was dieser eine, dieser eine... Dieser Ven angerichtet hatte?
Doch dann, ohne es wirklich zu steueren, nickte ich, langsam, ganz langsam.
»Wann hört es auf, so weh zu tun? Wie kann ich machen, dass es aufhört Will?«
Ich wusste, dass ich mich erbärmlich anhörte. Irgendwo wusste ich es. Aber es war mir egal. In diesem Moment war es mir so egal.
Ich blinzelte heftig, verfluchte die dummen Tränen, die wieder in mir hinauf kommen wollten, verfluchte mich, weil ich so unendlich oft heulte, dass man darüber nachdenken sollte, mich in eine Nervenheilanstalt zu stecken.
Will seufzte schwer, senkte den Blick und betrachtete mich lange.
»Leute wie du und ich Aruna...«, murmelte er schließlich leise und strich sich ein paar Strähnen des nassen Haares aus dem Gesicht, während der Regen zuzunehmen schien, mir kälter und kälter wurde.
»Wir müssen erst lernen, wie man hasst... Vermutlich wird es nicht leichter, zumindest nicht am Anfang... Aber wenn du den Personen - dieser einen Person - wirklich etwas bedeuten solltest... Würde sie dann so mit dir reden? Würde sie wollen, dass du dich so schlecht fühlst? Wenn du ihnen wichtig wärst, würden sie dich nicht schlecht fühlen lassen... Und vielleicht...«
Er stockte. Dann schüttelte er überzeugt den Kopf.
»Nein. Nicht vielleicht. Sie haben deine Liebe nicht verdient... Sie haben deine Tränen nicht verdient. Sie haben nichts verdient, außer dass, was sie dir selbst gegeben haben.«
Was sie dir selbst gegeben haben. Was sie dir selbst gegeben haben...
Wills Worte schienen in meinem Kopf wiederzuhallen, schienen über unseren Köpfen zu wabern, wie ein unheimliches Gespenst.
Ich schloss meine Augen, wusste wirklich nicht mehr, was ich fühlen sollte. Was ich in dem Moment überhaupt fühlte.
Schwere. Das einzige, was ich wirklich und wahrlich definieren konnte. Ich fühlte mich schwer und krank.
Wirklich krank.
Langsam ließ ich den Kopf wieder auf meine Knie hinab sinken, während der Regen mich durchnässte.
Vielleicht machte er mich krank. Innerlich. Aber gleichzeitig ließ er mich auch sehen, dass ich nicht verschwunden war, dass ich noch da war, dass ich wenigstens etwas fühlen konnte.
»Will?«
Meine Stimme klang leise und kratzig.
Ich spürte, wie er sich etwas beugte, um mich besser verstehen zu können.
»Ja?«
Langsam schüttelte ich den Kopf.
»Wir sollten niemandem vertrauen. Verstehst du... Keinem einzigen.«
Und es war eine versteckte Botschaft. Eine Botschaft des schlechten Gewissens. Weil ich ihn verraten würde.
Ich würde Will verraten.
Und das war das erste Mal, dass ich es wirklich bedauerte. Tief bis ins Innerste bedauerte.
Ich wusste, dass ich musste. Aber wollte ich? Nein. Nicht, wie am Anfang.
Langsam öffnete ich meine Augen wieder und sah aus dem Augenwinkel, wie Will langsam nickte und seinen Blick auf die Tannen richtete.
»Ich weiß.«
Und an diesem Abend - in dieser Nacht - ging ich nicht zu Alec.
An diesem Abend blieb ich bei Will.
An diesem Abend saßen wir schweigend nebeneinander, ließen uns vom Regen krank machen.
An diesem Abend hingen wir unseren eigenen Gedanken nach und dachten an die, die uns verraten hatten.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top