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»Sag mal bist du jetzt vollkommen übergeschnappt?!«
Okay, ich gab es zu. Vielleicht war das taktlos. Vielleicht besaß ich die Empathie eines Goldfisches und das Einfühlungsvermögen einer vergammelten, alten Socke, doch in diesem Moment konnte ich mir einfach nicht helfen.
Irgendwie war ich viel zu überrascht und überfordert und alles.
Ich hatte absolut keine Ahnung, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte und der erste Gedanke, der durch meinen Kopf geschossen war, war eben mein außerordentlich freundliches Ausgesprochenes.
Langsam nahm ich meine Hand von seiner Stirn, während er den Blick immer noch gesenkt hielt, die Augen weiterhin geschlossen.
Seine dunklen Wimpern glänzten.
Halleluja nein! Er war Alec verdammt noch mal! Alec der Vic! Er durfte nicht weinen! Das konnte er doch gar nicht!
Kopfschüttelnd griff ich hinter mich, auf der Suche nach dem Beutel mit dem Essen, während ich aufschnaubte.
»Du solltest erst einmal etwas essen, dann geht es dir mit Sicherheit besser«, murmelte ich überzeugt, während Alec mich immer noch nicht ansah.
Ich bekam die Tasche zu packen, während ich mein dramatisches Ich in die letzte Ecke meines Schädels sperrte, das drauf und dran war, wieder einen äußerst spektakulären Ausraster in mir hervorzurufen, der uns jetzt aber definitiv nicht weiter helfen würde.
Einmal, wenigstens einmal solltest du diejenige sein, die den klaren Kopf behält, verdammt! Wenn du jetzt anfängst zu heulen, kannst du ihn auch gleich abschreiben.
»Hier«, murmelte ich, nachdem ich eines der Brötchen mehr oder minder geschickt aus der Tasche gezwängt hatte.
Auffordernd zwängte ich es irgendwie durch die Gitterstäbe, woraufhin ich Alecs Augenlider flattern sah.
»Na nimm schon«, drängte ich ihn und warf einen nervösen Blick über meine Schulter, als befürchtete ich, Will oder Falkenauge oder weiß der Geier wer, würde genau hinter mir stehen.
Alec hob seinen Kopf langsam wieder an, wobei das glänzen in seinen Augen immer noch nur allzu klar zu sehen war.
Dass er nicht wirklich bei Sinnen war, merkte man alleine schon daran, dass er auf meine bissige Bemerkung nicht einmal reagierte.
Er schnaubte leise, während er heftig blinzelte und ich die aufkeimende Übelkeit zu verdrängen versuchte.
»Warum? Damit ich blinzle und du wieder verschwunden bist?«
Das konnte ja wohl nicht wahr sein!
Jetzt hatte ich es endlich geschafft und er... Gott das war sowas von bescheuert!
Wir hatten definitiv nicht die Zeit und ich ganz bestimmt nicht die Geduld!
Okay, jetzt musste ich wohl wirklich die Aruna heraus hängen lassen, die er kannte.
Ich ließ meine Hand mitsamt des Brötchens sinken, blinzelte ein paar Mal, während er mich weiterhin müde ansah, als wäre er wirklich kurz davor, aufzugeben.
Na warte Mister! Da hab ich ja wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden!
Und dann atmete ich tief durch. Das Donnerwetter konnte beginnen.
»Jetzt hör mir mal gut zu!«, knurrte ich, vermutlich etwas zu laut, als ich sollte, doch das war wohl der Moment, in dem Alec tatsächlich das erste Mal aufhorchte.
»Ich weiß ja nicht, was dein idiotisches Gehirn dich da sehen lässt - echt nicht - aber könntest du jetzt vielleicht Mal aufhören, in deinem Selbstmitleid zu ersticken und mir für eine Sekunde zuhören?! Keine Ahnung, was dir meine merkwürdige Einbildung gesagt hat, aber das ist jetzt sowas von scheiß egal! Ich bin hier und ich habe fest vor, deinen beschissenen Arsch hier heraus zu bekommen! Und ja verdammt, ich bin echt!«
Zum Ende hin schrie ich fast. Und Luft bekam ich seit ein paar Sätzen übrigens auch nicht mehr.
Um Atem ringend und wie wild mit dem Kopf schüttelnd keuchte ich auf, während es so schien, als würde Alec Stück für Stück mehr erstarren, als würden sich seine Augen weiten und weiten und weiten.
»Und!«, keuchte ich zur goldenen Krönung, hob drohend meinen Zeigefinger, während ich ihn mit der anderen Hand immer noch fest hielt.
Allein das musste dem vermaledeiten Idioten doch zeigen, dass ich verdammt noch mal wirklich hier war und keine dumme, dumme Einbildung. Ja, definitiv das Einfühlungsvermögen eines Fisches...
»Und«, wiederholte ich mich außer Atem, »du solltest schleunigst aufhören an deinen verdammten Himmel zu denken! Hörst du Alecsander?! Denk nicht mal daran! Ich bin hier und solange ich verdammt noch mal atme, ist der ganze Scheiß hier auch nicht aussichtslos!«
Ja, das war definitiv etwas ausgeartet.
Aber der verdammte Volltrottel musste ja endlich mal verstehen, dass das hier keine beschissene Einbildung war!
Ich fluchte zu oft...
Und da, plötzlich, ohne Vorwarnung, schoss mit einem Mal seine Hand hoch, umfasste mein Handgelenk so fest, dass es beinahe wehtat, während irgendetwas in seinem Gesicht auszubrechen schien, dass ich nicht zu deuten wagte.
»Aruna!«
Ja ach was? Wirklich?
Ein kleiner Schauer erfasste meinen Körper und ließ mich kurz erzittern, während der Ven mich immer noch vollkommen ungläubig ansah und mein Handgelenk umklammerte, als hätte ein kleiner Teil in ihm trotzdem Angst, ich würde wirklich jeden Moment verschwinden.
Ich seufzte auf und ließ meine Schultern langsam wieder sinken, während ich das Brötchen in meiner Hand anhob.
»Na endlich. Und jetzt iss was, du siehst echt scheiße aus.«
Alec schnaubte und auch wenn man ihm deutlich anmerkte, dass er Schmerzen hatte, schüttelte er mundwinkelzuckend den Kopf.
»Du hast dich nicht verändert, du verdammte Nervensäge«, murmelte er müde, auch wenn es nun beinahe so schien, als wäre er fast ein Stückchen leichter.
Vorsichtig nahm er das Brötchen entgegen und griff gierig nach der Flasche Wasser, die ich ihm hinhielt.
»Glaubst du, du kannst jetzt alleine sitzen?«, fragte ich irgendwann, kurz bevor ich drohte, komplett in meinen Gedanken zu versinken, die kamen, während ich ihn dabei beobachtete, wie er gierig einige Schlucke von dem Wasser nahm, wobei sein Adamsapfel auf und ab hüpfte.
Auf und ab. Auf und ab.
Na zum Glück hatte das Wasser gerade so durch das enge Gitter gepasst...
Erstaunlich eigentlich.
Ich fragte mich sowieso, warum Alec in einer dieser Zellen lag und nicht in denen, die durch eine robuste Wand um einiges Geschützter schienen.
Alec setzte die Flasche schwer atmend ab und nickte dann langsam.
»Glaube... schon«, keuchte er, glaubwürdig genug, damit ich es wagte, meine Finger langsam von seiner Haut zu lösen.
Beinahe augenblicklich verschwand die drückende Schwere von meinem Körper und ich atmete tief durch, während Alec für den Bruchteil einer Sekunde das Gesicht verzog, sich allerdings schnell wieder fing, als würde er sich jetzt, wo ich ihn endlich davon überzeugt hatte, wirklich da zu sein, etwas mehr zusammen reißen.
»Also, was ist passiert?«, fragten wir dann gleichzeitig.
Verwirrt blinzelte ich ihn an, wobei dieses unisono Gerede komplett lächerlich wirkte. Banal irgendwie.
Dann schüttelte ich entschlossen den Kopf, während der Ven nicht an sich halten konnte und das Brötchen verschlang als würde es über Leben oder Tod entscheiden.
»Nein«, entschied ich schließlich.
»Ich kann dir alles später erklären, jetzt müssen wir dich aber erst mal hier raus bekommen.«
Auffordernd sah ich ihn an.
»Also?«
Einen Moment schwieg Alec noch, starrte auf sein Brötchen hinab und seufzte dann.
»Was willst du wissen?«
Ich faltete die Hände vor meinem Bauch, warf einen letzten, nervösen Blick über meine Schulter, doch es schien nicht so, als hätte überhaupt irgendjemand vor, in dieser Nacht noch an diesen unheimlichen Ort zu kommen.
Okay... Die Zeit musste also sein.
»Alles.«
Ich warf einen zweifelnden Blick auf die schwere Tür aus glänzendem Gesteinsglas, an der nirgends eine Spur von einem Schlüsselloch zu sehen war.
Um ihn hier heraus zu bekommen musste ich also so viel in Erfahrung bringen, wie nur irgends möglich.
Seufzend lehnte sich Alec gegen die Wand neben sich und ich wollte mein Entsetzen schon wieder lauthals kundgeben, hielt dann allerdings inne, als kein Zeichen der Verbrennung zu erkennen war.
Ich kniff die Augen zusammen.
Also entweder bestanden die Wände in den Zellen nicht aus Obsidian - was mehr als unwahrscheinlich schien - oder seine Kleidung schützte ihn irgendwie.
Für einen Moment herrschte noch vollkommene Stille, Alec legte den Kopf in den Nacken, wobei er diesmal darauf achtete, dass bloß seine Haarspitzen den Stein hinter ihm berührten.
»Will ist ein verdammtes, feiges, dummes Arschgesicht.«
Ich verschluckte mich an meiner eigenen Spucke und gab ein merkwürdiges Geräusch zwischen Belustigung und Verwirrung von mir, was Alec aufsehen ließ.
»So?«, keuchte ich schließlich außer Atem und schüttelte schnaubend den Kopf.
»Du hast Will also auch schon kennen gelernt?«
Ich erinnerte mich dunkel, wie ich Will und Falkenauge in meiner ersten richtigen Nacht hier belauscht hatte. Will hatte davon geredet, dass Alec nicht reden würde. Er musste also hier gewesen sein...
Alec schnaubte, nickte dann.
»Ja. Ein verdammter Dummkopf. Dachte tatsächlich, mit ein bisschen Obsidian und Werwolfsblut könnte man mich zum reden bringen. Hat die ganze Zeit etwas davon geschwafelt, dass ich dich entführt hätte. Wollte wissen, wo mein Clan ist und warum ich hier bin.«
Ich schnaubte und schüttelte den Kopf, wobei mir nicht unbemerkt blieb, dass Alec sein Gesicht bei jedem weiteren Wort etwas mehr verzog. Er hatte Schmerzen...
»Du bist unvorsichtig Alec«, seufzte ich schließlich, wenn auch milde.
»Ihn zu reizen ist vielleicht nicht die beste Idee. Er ist ein Idiot und eine ziemliche Flachpfeife dazu, aber aus irgendeinem Grund hat er sich in den Kopf gesetzt, mir zu helfen.«
Alec schnaubte und verdrehte die Augen, während ich ihm das zweite Brötchen reichte und sich ein misstrauischer Ausdruck in seine Augen stahl.
»Der Typ hat ne ganz schöne Macke. Und außerdem, woher willst du wissen, dass ich ihn reize?«
Seine letzte Aussage klang ungefähr so überzeugend wie ich, wenn ich meiner Mutter vorgaukelte, für den Vokabeltest gelernt zu haben.
Ich schnaubte.
»Ich kenne dich und deinen Dickschädel. Außerdem redet man über dich, Emma.«
Gott, wie lange hatte ich darauf gewartet, das einmal sagen zu können? Emma. Damit hatte er mich früher immer genervt.
Alec schnaubte, ein humorloses Lachen verließ seine Kehle.
»Seit wann bin ich die Emma von uns beiden?«
Ich verdrehte die Augen. Da war er also wieder. Der Alec, den ich kannte.
Dann runzelte der Ven plötzlich seine Stirn. Er dachte über etwas nach und allem Anschein nach gefiel ihm der Gedanke nicht.
»Du und Will...?«, setzte er schließlich nachdenklich an und weigerte sich strikt, mich anzusehen, während mir ganz und gar nicht gefiel, in welche Richtung das hier lief.
Solche Art von Gespräch konnte ich jetzt mit Sicherheit nicht gebrauchen!
»Was soll das mit ihm? Ich habe ihn immer flüstern gehört, mit irgend so einer merkwürdigen Frau. Warum redet er so von dir?«
»Wie?«
Gut, ich wusste ganz genau was er meinte... In den letzten Tagen war Will unerträglich geworden und nach allem was Falkenauge gesagt hatte, schwante mir Übles. Sehr Übles...
Er verdrehte die Augen.
»So eben.«
Aha, das half weiter.
»Sehr Hilfreich...«
»Aruna!«
Beschwichtigend hob ich meine Hände, vermutlich sollte ich es lieber nicht übertreiben.
»Ist ja gut...«, murmelte ich seufzend, wobei sich der Herr jetzt bequemte, mich anzusehen, mit einem lodernden Blick wohl bemerkt.
Aber sonst war alles gut bei ihm?
Schließlich seufzte ich und verschränkte irgendwie beinahe trotzig meine Hände.
»Irgendwas musste ich ja tun, um dich hier raus zu holen und ebenfalls in den Zellen zu landen, weil sie mich für eine vollkommen Verrückte halten, die einem Ven vertraut, erschien mir da nicht gerade hilfreich. Also habe ich einfach Wills Steilvorlage genutzt und ihnen weiß gemacht, du hättest mich wirklich entführt.«
Auf Alecs vorwurfsvollen Blick hin hob ich erneut meine Hände und blinzelte ihn kopfschüttelnd an.
»Tut mir leid, aber irgendetwas musste ich ja tun...«
Und dann plötzlich, ohne Vorwarnung, kam mir dieser eine Gedanke, der mich erstarren ließ.
»Oh Gott...«, keuchte ich und sah ihn mit geweiteten Augen an.
»Hat Will... ist er dewegen noch... haben sie dir deswegen noch...«
Ich brachte es nicht zu Stande, auszusprechen, was ich dachte.
Aber das war auch gar nicht nötig. Alec verstand, was ich sagen wollte. Und sei es nur, weil er meine Gedanken lesen konnte.
»Ob er mich deshalb schlimmer gefoltert hätte, als sowieso schon? Unwichtig Aruna, ich bin kein kleines Kind mehr. Außerdem hab ich sie wohl irgendwann so genervt, dass sie mich in einer Nacht aus einer diesen Folter - Zellen in das Teil hier geschleppt haben. Haben wohl das Interesse an mir verloren, Will hat nicht wirklich viel Geduld. Er ist ein miserabler Alpha, wenn du mich fragst. Die Einsamkeit macht einen nur...«
Er stockte, als würde er jetzt erst realisieren, was er dabei war, zuzugeben.
Gott... Alec und sein stolz.
»Die Einsamkeit macht einen verrückt? Lässt einen darüber nachdenken, was seine eigene Existenz für diese Welt überhaupt noch bedeutet?«
Ich kannte es. Ich kannte es viel zu gut. Drei Wochen lang. Drei quälend lange, schreckliche Wochen, bis er kam.
Alec sah mich nicht an.
Ich bemerkte, dass sein Kiefer zitterte. Er ballte die geschundenen Hände zu Fäusten. Die verkrusteten Schnitte hoben sich unangenehm von seiner bleicher gewordenen Haut ab. Und wir beide wussten, dass ich Recht hatte...
Für einen Moment schwiegen wir wieder, hingen unseren eigenen Gedanken nach. Und ein weiteres Mal ärgerte ich mich darüber, dass er die Fähigkeit abbekommen hatte, meine Gedanken zu lesen - warum zur Hölle auch immer - und nicht andersrum.
Apropos!
Wegen diesem Blutdings wollte ich ihn unbedingt auch noch fragen. Der Gedanke war mir relativ schnell gekommen, denn was wäre denn, wenn ich auf diese bescheuerte Pflanze nur so reagierte, weil er mir sein Blut - auf welche Art auch immer - eingeflößt hatte?
Ja, so ganz unintelligent war Aruna dann manchmal doch nicht. Manchmal konnte ich tatsächlich etwas, was sich denken nannte. Gut, vielleicht hielt ich mch in diesem Moment auch etwas brillianter, als ich eigentlich war...
Doch gerade, als ich, ganz Aruna typisch, mit all meinen Fragen heraus brechen wollte, hielt ich mich noch zurück. Ich stockte.
Doch so sehr es mich wurmte, so neugierig ich auch war... Jetzt musste ich mich auf andere Dinge konzentrieren.
Später Aruna, später, verstanden? Gut...
»Also...«
Ich räusperte mich und rieb mir die Arme.
Hier unten war es aber auch kalt.
»Wie bekomme ich jetzt diese Tür auf?«
Zuversichtlich blinzelte ich Alec an, doch als ich sein Gesicht sah, stockte ich.
Er sah aus, als wäre ihm Übel. Schrecklich Übel, um genau zu sein. Das gefiel mir nicht, wirklich nicht, Gott was war denn jetzt wieder...?
»Will holt es aus seinem Herzen.«
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