77


Ich fühlte mich irgendwie benommen, als ich langsam wieder zu mir kam, unheimlich schwer. Als hätte mich irgendjemand in Watte eingehüllt.

Meine Sinne funktionierten nicht, wie sie sollten, ich hörte nichts, es war, als wäre die Welt einfach... stumm geworden.

Nur fühlen, fühlen konnte ich. Ich lag auf etwas weichem, es war warm, vermutlich hätte ich mich geborgen fühlen sollen, doch das tat ich nicht, ganz und gar nicht.

Ich fühlte mich schlecht, eingesperrt irgendwie und langsam kamen die Erinnerungen.

Jaspen... Missouri... das Auto...

Alec.

Ruckartig riss ich meine Augen auf, schnappte panisch nach Luft, brauchte viel zu lange, um mich an diese unglaubliche Helligkeit zu gewöhnen.

Alec.

Wo war er? Ging es ihm gut?

Oh Gott, bitte, bitte, bei allem was ich besitze, lass es ihm gut gehen.

Hektisch sah ich mich um, vergaß für einen Moment, wie man richtig atmete, ein seichter Windstoß erfasste mich und ließ mich erschaudern, mein Blick glitt zu der riesigen Fensterfront, die den Blick auf gigantische Tannen freigab, die ihren langsamen Walzer im Wind tanzten, begleitet von der Musik der Vögel.

Wie viel Uhr war es? Welcher Tag? Welche Woche?

Ächzend rieb ich mir über meine Augen, rieb den Schlaf aus ihnen.

Mein linkes Bein pochte unangenehm, mein Rücken ziepte, doch es schien beinahe... komplett verheilt.

Was zur Hölle war passiert? Wie lange war ich weg? Und wo war ich überhaupt?

Langsam aber sicher bekam ich wirklich Angst.

Das gigantische, viel zu helle Himmelbett, in dem ich lag, wirkte auf einmal viel zu erdrückend, der helle Boden, die Couch in diesem riesigen Zimmer, alles...

Keuchend schlug ich die Decke zurück, erschauderte, als ich die andere Kleidung an mir bemerkte.

Eine Knielange, braune Stoffhose und ein weißes T-Shirt mit irgendwelchen Rosen drauf.

Was zur Hölle war geschehen? Was hatte ich hier an? Und wo war Alec?

Diese Frage schien mich anzutreiben, ich achtete nicht einmal auf den dünnen Verband, der sich um mein linkes Bein schlang, setzte meine zittrigen Füße einfach auf den kalten Boden ab und strich mir das wirre Haar aus dem Gesicht.

Es war, als würde ich ein Déjà-vu erleben, ich fühlte mich mehrere Wochen zurückkatapultiert, nach damals, als ich in Aleynas Zimmer in Wyoming aufgewacht war, doch da hatte ich nicht diese Angst empfunden, diese Furcht, die sich siedend heiß in mir ausbreitete, diese unendliche Verwirrung.

Ich stützte mich zittrig an dem beigen Sockelnachttisch ab, fragte mich erneut, wo zur Hölle ich hier gelandet war und doch war da diese leise, nervige Stimme in meinem Hinterkopf, die es schon längst wusste, die ich allerdings mit aller Macht verdrängen wollte.

Bei den Wölfen.

Nein... Denn das würde bedeuten, dass Alec...

Doch ich konnte mir nichts vormachen, mit jedem weiteren Atemzug spürte ich es, mit jeder weiteren Bewegung fühlte ich es, mit jedem Blinzeln roch ich es mehr und mehr.

Mein Körper reagierte wie automatisch darauf, denn er wusste, wo ich war.

»Nein«, flüsterte ich zittrig und stieß mich entschieden ab, nur, um auf zittrigen Beinen stehen zu bleiben und schließlich etwas benommen nach vorne zu taumeln, wobei ich beinahe gegen die große Pflanze krachte, die neben dem Bett stand.

Ächzend hielt ich mich an einem der leichten Vorhänge des Bettes fest, fühlte mich einmal wieder so unendlich dumm und nutzlos.

Ein Schauer überkam mich, der Boden war kalt, langsam aber sicher endete der Sommer.

Ich blinzelte ein paar Mal, blieb einen weiteren Moment stehen und klammerte mich an dem Vorhang fest, bis meine Beine endlich nicht mehr so sehr zitterten.

Ich atmete tief durch, schallt mich selbst, mich endlich zu konzentrieren, schallt mich selbst, wach zu werden, nicht so schwach zu sein, endlich nach Alec zu suchen.

Ich schloss meine Lider und da blitzten sie plötzlich auf, stahlgraue Augen, in denen ein Sturm, in denen ein Orkan tobte, der mir so unendlich bekannt schien, mit all diesen Farben, all diesem Gefühl.

Ich zuckte zurück, riss die Augen wieder auf, keuchte und schüttelte dann entschieden den Kopf.

Komm schon Aruna, jetzt beweg dich endlich!

Meine Schritte wurden immer fester, während ich auf die helle Tür zusteuerte, die sich an der gegenüber liegenden Wand des Bettes befand, ich fragte mich, was das hier für ein Rudel war, allein dieses riesige Zimmer wirkte so unendlich eindrucksvoll, ich fragte mich, wie ich noch nie von ihnen gehört haben konnte und ich fragte mich, was das hier alles sollte, die Worte des Typen, der mich aus den Trümmern gezerrt hatte, weg von Alec, hallten mir nur allzu klar in den Ohren wieder und ließen mich erschaudern.

Was war hier los? Warum lag ich genau in diesem Zimmer, genau in diesem gigantischen, weißen Bett?

Ich verstand es nicht. Und das galt es jetzt herauszufinden.

Ein letztes Mal atmete ich tief durch, schloss die Augen für einen Moment und hob schließlich etwas zittrig meine Hand, um sie um den goldenen Knauf der Tür zu legen.

Wie der Boden fühlte er sich kalt an und jagte mir einen kleinen Schauer über den Rücken, während mein linkes Bein unterschwellig pochte, mich allerdings kaum am Laufen hinderte.

Und gerade, als ich den Knauf umdrehen wollte, hielt ich inne.

Wie sollte ich mich verhalten? Wie sollte ich vorgehen? Sollte ich mich anschleichen, mich vor ihren Blicken verstecken?

Ich schnaubte. Das würde wohl kaum etwas bringen...

Der Geruch eines fremden Wolfes in ihrem Haus musste wie ein unübersehbares Leuchtsignal sein, ziemlich penetrant nebenbei.

Verstecken würde also überhaupt nichts bringen und vermutlich hätte ich mich dabei so unendlich dämlich angestellt wie immer und irgendeine riesige Blumenvase oder so umgeworfen.

Seufzend rieb ich mir über die pochende Schläfe. Wenn ich etwas erfahren wollte, musste ich hier raus. Und ich würde mit diesen Leuten reden müssen. Es gab keine andere Möglichkeit.

Die Frage war nur, mit welcher Würde, welchem Stolz ich das tun würde. Ich blinzelte, runzelte die Stirn und da musste ich plötzlich an Alec denken, an seinen Charakter, wie er gehandelt hätte.

Alec war stolz, sehr sogar, obwohl ich wusste, wie viel mehr hinter dieser kalten Fassade steckte, angefangen bei den Wunden, die durch Aleynas grausamen Tod noch nicht ganz verheilt waren.

Er würde mit hoch erhobenem Haupt hier raus maschieren, dachte ich, egal wie er aussah, oder was ihm angezogen worden war.

Er würde seine Miene zu Eis werden lassen, er würde sich seinen Stolz nicht nehmen lassen.

Also ballte ich meine freie Hand zu einer Faust, hob den Kopf und stieß die Tür auf, jederzeit bereit, meine Show abzuziehen.

Als mein Blick jedoch auf den langen, hellen Flur fiel, gesäumt von ein paar Topfpflanzen und mindestens einem Dutzend weiteren Türen, hielt ich inne.

Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, vielleicht hektisch herumwuselnde Menschen, wenigstens einen, doch der Flur war vollkommen leer. Keine Menschenseele weit und breit zu sehen.

Okay? Naja, vielleicht war das ja ein ganz gutes Zeichen, oder? Zumindest sahen sie mich nicht wirklich als Gefangene an.

Trotzdem setzte ich meinen ersten Schritt eher unsicher, als erwartete ich, sie würden jeden Moment aus den Wänden stürzen und über mich herfallen.

Natürlich geschah nichts dergleichen, ich lief einfach weiter, das Zimmer, in dem ich aufgewacht war, lag ganz am Ende des Flures, an seinem Anfang konnte ich eine Treppe erkennen, allerdings sah ich selbst von meiner jetzigen Position die zwei weiteren Abzweigungen.

Was war das hier? Ein Palast?

Naja, da die Wölfe irgendwo im Wald leben mussten, vermutlich nicht.

Nervös friemelte ich an dem Saum des fremden Oberteils mit dem noch fremderen Geruch herum.

Wieso passierte so ein Scheiß eigentlich immer? Wieso konnten wir nicht wenigstens einmal ohne Schwirigkeiten voran kommen?

Ich schluckte schwer.

Keine Sorge Aruna, du schnappst dir einfach Alec und ehe sie es auch nur erahnen, seid ihr beide verschwunden, ihr schafft das schon, wie immer.

Alecs Tod war keine Option. Überhaupt keine. Alec war nicht tot. Ganz bestimmt nicht.

Ich schluckte den schweren Kloß in meinem Hals hinunter, Bilder stiegen mir in den Kopf, eine reglose Person, ich schüttelte ruckartig mit dem Kopf.

Alec ist nicht tot, Aruna! Denk nicht daran! Er ist Alec, der Arsch wird noch uns alle überleben.

Wie eine Kakerlake.

Genau, der Idiot war auch nur eine blöde Kakerlake, den man mit einem Bus überfahren konnte und er wurde trotzdem überleben.

Er war ein Idiot... er war ein Idiot... er war ein Idiot...

Oh Gott, nein, was ist mit dir los Aruna, was tust du denn da?

Ich konnte es einfach nicht verhindern, es geschah wie automatisch, meine Lippe hatte angefangen zu beben, alles in mir erschauderte und dann diese bescheuerten Tränen, die meine Sicht verschwimmen ließen.

Es geschah viel zu plötzlich, als würde ich jetzt erst richtig aufwachen.

Und eine von ihnen, eine vermaledeite Träne erkämpfte sich einen Weg aus meinem Auge.

Wenn Alec... wenn Alecsander tot war...

Es war, als würde mir mit einem Mal jegliche Luft zum Atmen genommen werden, es überkam mich wie eine unheimliche Welle, sie nahm mich vollkommen ein, für einen Moment vergaß ich alles, es pakte mich mit so einer unendlichen Wucht, dass ich schreien wollte und dann löste sich plötzlich dieser Laut aus meiner Kehle, dieser unendlich gequälte Laut, dieser Laut voller tiefer, aufrichtiger, unglaublicher Trauer, voller Angst, voller Furcht, der im Flur wiederzuhallen schien.

Alec... er... er durfte nicht...

Für einen Moment vergaß ich mein Vorhaben, für einen Moment schien ich nicht mehr in der Lage, vernünftig zu denken, denn da waren diese Bilder, wie er da gelegen hatte, das Blut, dieses Blut...

Seine Augen... sie waren geschlossen gewesen, seine Brust, sie hatte sich nicht mehr...

Und dann knickten meine Knie einfach weg, mit einem allesdurchdringenden Schluchzer glitt ich die Wand hinab, schlug mir die Hände vors Gesicht, bekam keine Luft mehr, für den Moment verlor ich vollkommen den Verstand.

Er... er durfte nicht... wenn Alec tot wäre...

Sieh doch nach! Finde es doch heraus! Reiß dich zusammen, beweg dich, verlier nicht den Verstand!

Doch ich konnte nicht. Nicht dieses Mal.

Warum? Warum hatte es ihn so sehr getroffen? Ich saß doch auch in diesem vermaledeiten Wagen...

»N-Nein«, wimmerte ich, rastete in diesem Moment wohl vollkommen aus, warf meinen Kopf in den Nacken, schluchzte, verbarg mein Gesicht, mein Körper bebte, ich wusste nicht, was ich hier tat, was auf einmal über mich kam, warum ich auf einmal alles vergaß, was ich vor gehabt hatte.

Denn da war dieser Gedanke... Dieser Gedanke, dass die Welt Alec verloren hatte...

»W-Warum?«, wimmerte ich, meinen Kopf gen Himmel gerichtet, schluchzte, vergaß für einen Moment alles.

Ich wollte nicht daran glauben, dass er tot war, ich wollte es einfach nicht, aber...

Aber dieser Anblick...

»W-Warum tust du mir das an?« Meine Stimme war nicht mehr als ein gequältes Schluchzen, in dem Moment erlitt ich einen totalen Nervenzusammenbruch, in dem Moment verfluchte ich die Mondgöttin, alles war zu viel, eigentlich müsste ich weiter gehen, mich davon überzeugen, was mit Alec war...

»W-Warum nimmst du mir immer die, die mir... mir am meisten...«

Meine Stimme brach, ich konnte nicht weiter reden, in dem Moment konnte ich nicht einmal darüber nachdenken, was ich an eben jenem Tag dabei war, zuzugeben.

Aber war sollte ich leugnen...

Nach all dem, was passiert war, nach all dem, was wir durchgemacht hatten...

Wie konnte mir Alec da nichts bedeuten? Ich konnte es nicht zuordnen, nicht in Worte fassen, aber irgendetwas, wenigstens etwas bedeutete mir dieser große, dumme, finster drein blickende Idiot...

Oh Gott... Oh Gott... Oh Gott Alec... Alec...

Aruna, jetzt beruhig dich! Raste nicht aus! Du weißt doch noch gar nicht, ob er tot ist, du musst ihn nur finden und dann...

»A-Aber es ist doch immer so...«, wimmerte ich.

Es ist immer so... Leute die mir nahe stehen sterben.

Oh Gott. Oh mein Gott. Ich war das Unglück, ich war das pure Pech, ich war schlecht, so unendlich schlecht...

Ich schluchzte gequält auf, die brennenden Tränen durchnässten meine Strähnen, kletterten auf meine Hände, ich öffnete den Mund, wollte nach Luft schnappen, meine Brust hob sich zu schnell, viel zu schnell, ich konnte einfach nicht mehr.

Alec... Wie er dort gelegen hatte...

Warum?! Warum er? Warum nicht ich...

Ich hätte es verdient. Nach all dem, das ganze Unglück, das ich, die Rote, über Leute in meiner Umgebung gebracht hatte...

Ich hätte es verdient... Ohne mich wären sie alle besser dran... Alec...

»Warum weinst du?«

Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich mich verschluckte, hustete, und dann voller Schreck die Augen aufriss, meinen Kopf nach vorne schnellen ließ, heftig blinzelte.

Und dann erstarrte ich.

Das kleine Mädchen vor mir taumelte erschrocken einen Schritt nach hinten, ihre blonden Engelslöckchen waren mit einem blauen Haarreif aus ihrem Gesicht gestrichen worden, die großen, runden Augen mit den langen Wimpern starrten mich an, die kleinen Arme hingen unsicher an ihren Seiten, ein großer, orangener Fleck zeichnete sich auf dem sonst strahlend weißen Rock ihres Kleides ab.

Lupa.

Oh mein Gott. Meine Lupa, meine kleine Prinzessin.

Mein Herz flatterte, sie sah mich mit gerunzelter Stirn an, ich blinzelte heftig, wollte aufspringen, wollte sie umarmen, nie wieder los lassen, fragen, wo Phelan war, doch da hielt ich inne.

Ein heftiger Stich durchfuhr mein Herz, für einen Moment blieb mir die Luft weg.

Das... das war nicht Lupa.

Aber dieses kleine Mädchen sah ihr so unendlich ähnlich.

Die blonden Locken... Doch Lupas waren heller, Lupas waren länger, immer mit einer kleinen, gelben Spange zurückgesteckt, damit sie zumindest den Anschein eines braven, kleinen Mädchens erwecken konnte.

Lupas Haut, sie war heller, als die des Mädchens vor mir, ihre Nase war spitzer, ihre Lippen waren schmaler, ihre Ohren wirkten frecher und sie hatte diese kleinen Sommersprossen auf dem Nasenrücken, die sie so unendlich süß machten.

Sie war ein Stück größer, als das Mädchen vor mir, hatte eine andere Haltung, nicht so gerade, und das Funkeln in ihren rehbraunen Augen...

Es ähnelte kein bisschen dem des Mädchens vor mir, jetzt, wo ich klarer sehen konnte, wo ich klarer denken konnte, sah ich, dass die Augen des Mädchens mehr die Farbe von Bernstein hatten.

Nicht braun... kein braun... Das war nicht Lupa... nicht meine Lupa...

Die Sehnsucht hatte mich Dinge sehen lassen.

Und dennoch sah sie mich genau so neugierig an, wie Lupa es getan hätte, vielleicht etwas schüchterner.

»Alles okay bei dir?« Ich blinzelte heftig, die Tränen rannen immer noch über meine Wangen, ich fühlte mich ausgelaugt, ich fühlte mich wirklich müde...

Der Blick des kleinen Mädchens glitt auf mein bandagiertes Bein, dass ich angewinkelt hatte, während ich da hockte wie ein Häufchen Elend, während mein Herz schwerer und schwerer wurde, weil ich gedacht hatte, Lupa so unendlich nah zu sein und dann war ich doch wieder so fern...

Sie streckte ihren kleinen Arm aus und deutete auf mein Bein.

»Tut das weh?«, fragte sie beinahe vorsichtig, als sorgte sie sich, ihre Worte könnten mich verletzen.

»Weinst du deshalb?«

Ich schluckte schwer, mein Zittern konnte ich einfach nicht verhindern, dann schüttelte ich bebend meinen Kopf.

In dem Moment konnte ich einfach nicht reden, ich wusste nicht einmal, warum ich ihr diese Frage beantwortete, immer hin war sie ein Lykanthrop des anderen Rudels, das war klar, ebenso, wie klar war, dass sie... dass sie eine... eine Alphatochter war.

Wie Lupa. Wie ich.

Man sah es ihr an, ich konnte es spüren.

Und doch war sie nur ein kleines Kind, ein kleines, unschuldiges Mädchen, dass neugierig war, unvorsichtig.

Ich könnte sie festhalten, als Geisel nehmen, um hier abzuhauen, um Alec zu fordern...

Alec... Alec der lebte... bestimmt lebte er... wenn nicht... wenn er tot war...

Es schmerzte, es schmerzte so sehr, so sehr, dass ich es nicht beschreiben konnte, so sehr, dass ich es nicht verstand.

Und doch war sie nur ein kleines Mädchen, ein kleines, unschuldiges Kind. Wie Lupa.

Sie runzelte nachdenklich die Stirn und ließ sich dann plötzlich ohne zu zögern vor mich fallen.

»Warum dann? Also ich habe geweint, als ich mir den Arm gebrochen habe.«

Sie verzog das Gesicht, als könnte sie sich ganz genau an den Tag erinnern.

Ich sagte nichts, zitterte einfach weiter und fühlte mich dumm, so unendlich dumm, mich so schwach vor einem kleinen Mädchen zu zeigen.

Aber in diesem Moment...

Das Mädchen legte den Kopf schräg und musterte mich nachdenklich.

»Du hast schöne Augen.«

Ich blinzelte heftig, für einen Moment setzte mein Herz aus, ich erstarrte.

Was?

»Solche Augen will ich auch haben«, überlegte das kleine Mädchen weiter, ein kleines, verlegenes Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht.

»Es sieht aus, als würden die Farben miteinander kämpfen, weißt du? Als könnten sie sich nicht entscheiden, welche hübscher ist.«

Ich blinzelte heftig. Niemals hatte jemand so offen über meine Augen geredet, niemals hatte jemand gesagt, sie sähen schön aus, man hatte sie immer gemieden, war lieber nicht auf sie zu sprechen gekommen, aber dieses kleine Mädchen...

»Meine Mama sagt immer, durch die Augen kann man in die Seele sehen, oder so«, erzählte das Mädchen weiter.

Sie redete genau so viel wie Lupa...

»Du musst eine hübsche Seele haben.«

Mein Herz stockte, ich konnte nicht fassen, was sie da sagte, wie unbekümmert sie schien, während sie so erzählte.

»W-Wie«, meine Stimme brach kratzig ab, war nicht mehr als ein Krächzen gewesen und doch sah das Mädchen neugierig auf, sah mich beinahe... bekräftigend an, als wäre ich hier das kleine Kind und nicht sie.

»W-Wie heißt du?«

Meine Stimme war immer noch vom Weinen gezeichnet, meine Wangen klebten von den Tränen und meine Augen mussten mit Sicherheit rot geschwollen sein.

Ich wusste nicht wirklich, warum ich gerade das fragte, eigentlich schien es so unendlich unwichtig, eigentlich wollte ich in diesem Moment lieber umkippen und nie wieder aufwachen, aber irgendetwas löste dieses kleine Mädchen in mir aus...

Die Liebe einer großen Schwester.

Ich schluckte schwer... nicht dran denken... nicht...

»Isla, wenn du magst darfst du mich aber auch Ily nennen.«

Sie lächelte breit und schien dann zu überlegen, während ich mich schallt, endlich wieder normal zu atmen, aus diesem Zusammenbruch herauszukommen...

Ich wusste ja nicht ob er... ich wusste nicht...

»Und wie heißt du?«

Bei dem erneuten Klang ihrer weichen Stimme, zuckte ich zusammen und selbst wenn sie es gesehen hätte, sagte sie nichts.

Ich schluckte schwer, überlegte einen Moment, ihr einen falschen Namen zu nennen. Doch warum? Sie war nur... nur ein kleines Mädchen.

»A-Aruna«, antwortete ich schließlich mit leiser, immer noch zitternder Stimme.

Ich war so erbärmlich...

Isla legte den Kopf schief, als müsse sie einen Moment über den Namen nachdenken, überlegen, ob er ihr nun gefiel, oder nicht.

»Darf ich dich Ru nennen?«, fragte sie schließlich und sah mich mit einem süßen Lächeln an, ein bittendes Funkeln trat in ihre Augen, ihre Ohren färbten sich beinahe unmerklich rot, als bereute sie die Frage im Nachhinein.

Ich blinzelte für einen Moment verwirrt und dann verließ ein laut meine Kehle, den ich selber kaum zuordnen konnte, etwas zwischen, Unglaube und lachen, auch wenn ich mich immer noch so unendlich schwer fühlte.

Und schließlich nickte ich, langsam, ganz langsam.

Ich meine, sie war ein kleines Mädchen... Warum sollte ich ihr so eine Nichtigkeit verbieten?

Für einen Moment blieb Isla still, ich lehnte meinen Kopf gegen die Wand hinter mir, spürte, wie sie mich musterte.

»Darf ich wissen, warum du geweint hast Ru? Ich kann Geheimnisse auch wirklich gut für mich behalten! Dass Ella zum Beispiel in Wirklichkeit das Fenster in der Sporthalle kaputt gemacht hat...«

Sie unterbrach sie selbst, ihre kugelrunden Augen weiteten sich, sie sah mich erschrocken an.

»Ups.«

Und sie erinnerte mich an Lupa, so sehr, so unendlich, dass es weh tat...

Und vielleicht tat ich es deshalb, vielleicht redete ich deshalb, weil sie mich an meine kleine Schwester erinnerte, vielleicht, weil ich sonst fürchtete, zu explodieren, wenn ich meine Sorge nicht wenigstens mit einer Person teilte...

Ich wusste es nicht, wirklich nicht, es machte absolut keinen Sinn, es war dumm...

Aber mein Mund öffnete sich. Aber am Ende war sie doch nur ein kleines Mädchen.

»I-Ich habe Angst«, hauchte ich, Isla runzelte verwirrt die Stirn und streckte dann langsam ihren kleinen Arm aus, um ihre Hand vorsichtig, beinahe unsicher, auf meine linke, geballte Faust zu legen.

Bei ihrer Berührung zuckte ich zusammen und doch zog ich meine Hand nicht weg.

Und dann schaute sie mich an, wirkte mit einem mal so unendlich ernst, so viel erwachsener, als sie sollte.

»Warum hast du Angst Ru?«, flüsterte sie, als wolle sie nicht, dass irgendjemand hörte, was sie sagte, weil diese Worte nur zwischen uns beiden bleiben sollten.

Weil es ein Geheimnis war.

Ich schluckte schwer, sah auf ihre kleine Hand hinab und öffnete dann langsam meine Faust.

Isla sagte nichts, umklammerte meine Finger einfach, beinahe bestärkend, als wolle sie mir die Angst nehmen.

Und ich tat nichts dagegen.

»I-Ich habe Angst«, hauchte ich, sah sie nicht an, »d-das einer Person, die ich... die ich mag, etwas schlimmes passiert ist...«

Ich sah, wie Isla nachdenklich die Stirn runzelte, ein paar Mal blinzelte und sich nachdenklich über den Stoff ihres Kleides strich.

»Das hatte ich auch mal«, murmelte sie schließlich gedankenverloren.

Ein kleiner Stich durchfuhr mein Herz. Wenn Isla, wenn dieses kleine Mädchen jemals schon gefühlt haben sollte, wie ich mich in diesem Moment fühlte, so unendlich elend, dann war diese vermaledeite Welt einfach nur grausam, so unendlich unfair, dann war die Mondgöttion ein verdammtes Arschloch.

Dann gab es sie nicht. Die Monsgöttin. Dann existierte sie nicht.

»Mein großer Bruder ist von einem Gebissenen angegriffen worden und wir wussten eine Nacht nicht, wie es mit ihm weiter geht. Ich habe viel geweint, weißt du? Aber irgendwann war es vorbei und er hat sich erholt, irgendwann wird es immer besser. Glaub ich.«

Für einen Moment schwieg sie, ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, traute meiner Stimme nicht ganz.

Doch dann sah Isla plötzlich ruckartig auf, ihre Augen weiteten sich.

»Hat der böse Mann, der dich gefangen hatte, der Person etwas getan?«, fragte sie beinahe ehrfürchtig und das war der Moment, in dem die Lebensgeister wieder in mich zurück kehrten.

Isla wusste, wer ich war, aber das war jetzt nicht das entscheidende.

Ruckartig richtete ich mich auf, sie zuckte erschrocken zusammen, doch darauf konnte ich in dem Moment keine Rücksicht nehmen.

Böser Mann? Alec! Sie musste von Alec reden!

Sie dachten, er hätte mich gefangen? Unwichtig!

»Böser Mann Ily?! Wo ist er? Was ist mit ihm?«

Mein Herz schlug immer aufgeregter, sie redete von Alec, sie musste einfach von ihm reden!

Isla sah mich angesichts der Lautstärke meiner Stimme mit großen Augen an, öffnete erschrocken den Mund, schloss ihn dann wieder, ich sah sie fragend an, wollte sie am liebsten schütteln, damit sie endlich redete, tat es natürlich nicht.

Schließlich schien Isla irgendwelche Schlüsse zu ziehen, denn auf einmal wurde ihr Gesicht wieder weicher.

»Du brauchst keine Angst haben, Ru. Mein großer Bruder hat ihn Gefangen, jetzt kann er dir nichts mehr tun.«

Hat ihn gefangen. Hat ihn gefangen.

Alec lebte! Oh mein Gott! Er lebte!

Mein Herz sprang und sprang und sprang, vor Erleichterung war ich kurz davor, wieder anzufangen zu heulen.

»Er lebt«, hauchte ich leise, atmete tief aus, während Isla unsicher nickte.

»Ja, aber er kann dir nichts tun, wirklich, mein Bruder passt auf dich auf, das hat er gesagt.«

Bruder. Ihr Bruder.

Erst jetzt drangen diese Worte richtig zu mir durch. Ich wurde immer aufgeregter.

»Dein Bruder Ily, kannst du mich zu ihm bringen?«

Ich würde diesen Mistkerl eigenhändig enthaupten!

Wieder nickte Isla unsicher.

»Ja, er hat sich sowieso schon Sorgen gemacht, wann du wieder aufwachst«, erzählte sie und richtete sich vorsichtig wieder auf, ich sprang auf die Beine, wollte am liebsten losstürmen, das verdammte Arsch umbringen und doch musste ich mich beherrschen.

Ich konnte ihn weder umbringen, noch losrennen.

Wenn ich uns hier irgendwie rausholen wollte, musste ich mich geschickter anstellen, würde ich mein Verhältnis zu diesem Vic offen legen, würde ich vermutlich noch selbst eingesperrt werden.

Und deshalb musste ich ein Spiel spielen. Halleluja, wie sollte ich das denn hinbekommen?

»Wie lange war ich denn weg?«, fragte ich, vor Aufregung zitterte meine Stimme, ich hatte das Bedürfnis, Isla anzufahren, schneller zu gehen, auch wenn wir den Gang zur Treppe jetzt schon eher entlang hetzten, als das wir liefen, was Isla vollkommen zu verwirren schien.

Zumindest ihr gegenüber hatte ich in dem Moment ein schlechtes Gewissen.

»Ich glaube vier Tage, die Ärzte haben dir was für die Wunden gegeben, hat Ti zumindest erzählt. Alle reden über dich und wir wollten dir auch wirklich nicht weh tun, aber mein Bruder hat gesagt, dass es keine andere Möglichkeit gab.«

Vier Tage. Weitere vier Tage verloren.

Unwichtig Aruna! Jetzt musst du erst mal heraus finden, wie du Alec hier raus schaffst!

Am besten sollte ich damit anfangen, erst mal herauszufinden, wo er war.

Isla hüpfte die breiten Treppenstufen hinab, die zu einer gigantischen Eingangshalle führten.

Ich schluckte schwer. Vielleicht war die Schlosstheorie doch gar nicht so falsch...

Das würde einiges schwerer machen...

Und je weiter wir liefen, desto mehr wunderte ich mich, dass niemand hier sein zu schien, abgesehen von Isla.

Wo waren sie alle? Allem Anschein nach war es ein größeres Rudel, wenn man sich allein mal dieses Haus ansah und ich fragte mich, warum wir in Little Falls noch nie von ihm gehört hatten.

Ich hatte keine Zeit, mich näher in der Eingangshalle umzuzusehen, warf nur einen kurzen Blick auf die hölzerne Doppeltür, die allem Anschein nach nach draußen führte, denn da packte mich Isla schon am Arm und deutete auf eine der weißen Türen links von uns.

»Da«, erklärte sie.

»Eigentlich wollte ich gerade zum Frühstück gehen, Mary wird immer böse, wenn man zu spät kommt.«

Ich hatte keine Zeit mehr, zu fragen, wer Mary war, denn genau in dem Moment öffnete sich die Tür.

Die Person, die dabei war hinaus zu gehen, hielt inne und ein unheimlich stechender Blick aus eisblauen Augen traf mich.

Traf mich und ließ mich erstarren.

PS: Isla wird Eila ausgesprochen :)

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