60
Ich spürte, wie seine Hand an meinem Rücken erstarrte, er blinzelte, als würde er noch nicht richtig verstehen, was los war, dann trat langsam die Erkenntnis in sein Gesicht, ich zog nervös meine Augenbrauen zusammen, versuchte wieder, mich irgendwie hochzustemmen, Alec musterte mich verwirrt.
»Was tust du da?«, fragte er mir müder, rauer Stimme, während mein Kopf weiterhin glühte und Ed in sich hinein grinste.
Lila hätte womöglich angefangen, wie wild im Kreis herumzuspringen. Vielleicht hätte sie sogar gekreischt.
»Ehm... ich...«, stammelte ich verlegen, wollte wirklich, wirklich hier weg.
Konnte dieser Blödmann mir vielleicht mal helfen, anstatt genau so liegen zu bleiben?!
Das schaukelte sich langsam zu meinen Top fünf peinlichen Erlebnissen hoch.
Mein Kopf glühte, mein Herz schlug schneller, als es sollte, ich bemühte mich wirklich, normal weiterzuatmen.
Und dann hielt das Auto plötzlich ruckartig an. Ich wurde nach vorne geschleudert, krachte mit dem Kopf gegen den Beifahrersitz, kurz drehte sich alles.
Zu meiner unendlichen Erleichterung allerdings, schien das Alec endlich wachzurütteln.
Während ich einmal wieder drohte, in mich zusammenzusacken, richtete er sich endlich auf, packte meine Schulter und drückte mich ebenfalls vernünftig hoch.
Ich blinzelte heftig, Ed schaltete den Motor aus.
»Wir sind da«, verkündete er gut gelaunt, mein Blick glitt aus dem Fenster, wir standen auf einem kleinen Hof, ich konnte mindestens ein Dutzend Reparaturbedürftige Autos erkennen, in der Dunkelheit ragte ein schon etwas älteres Haus auf, daneben etwas, das aussah, wie ein Schuppen. Wohl die Werkstatt.
Ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, einfach mit einem Fremden mitzugehen? Naja, andrerseits war es auch ziemlich naiv von Ed, einfach so zwei Leute vom Straßenrand aufzusammeln und mit zu seinem Haus zu bringen.
Vor allem, wenn einer so aussah, wie Alec.
Der schwarzhaarige Junge neben mir, den ich mit all meiner Kraft nicht versucht hatte anzusehen, damit mein Kopf endlich aufhörte, Feuerstein zu spielen, hielt in seiner Bewegung inne.
»Was soll das denn heißen?«, schnaubte er, während Ed bereits ausgestiegen war.
Ich seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Du sollst nicht in meinem Kopf rumlungern«, murmelte ich, ehrlich nicht in der Lust, zu streiten, eigentlich wollte ich weiterschlafen.
An einem anderen Ort. Ohne in. Versteht sich.
Und ich hatte Hunger.
Ob es wohl zu viel verlangt wäre, Ed nach etwas zu Essen zu fragen?
»Wenn du aufhörst, an mich zu denken, würde ich vielleicht auch aufhören, in deinem Kopf rumzulungern«, erwiderte Alec einfach, ich verdrehte die Augen.
»Ich denke nicht an dich«, stritt ich stur ab, Alec schnaubte.
»Und was war das gerade«, meinte er herausfordernd, ich hatte das hier ehrlich satt.
»Außerdem ist das unfair, wenn du an mich denken würdest, könnte ich es auch nicht hören.«
Alec verdrehte bloß die Augen und drückte die Tür auf.
Endlich konnte ich vernünftig durchatmen und während der Ven Ed half, das Motorrad abzuladen, blieb ich noch für einen Moment im Auto sitzen.
Ich atmete tief durch und berührte vorsichtig meine Wangen, langsam hörten sie auf zu glühen. Irgendwie wurde es mit Alec immer anstrengend...
Nachdem sich mein Herz wieder wenigstens ein bisschen beruhigt hatte, stieg ich aus, es fröstelte mich, ich wollte am liebsten sofort ins Haus, ich hasste die Dunkelheit, obwohl ich sie durch meine Augen nicht einmal wirklich kannte.
Aber die Dunkelheit, die ich kannte, hasste ich.
Ein Schauer überkam mich. Seit dem Tag, an dem ich von meinem Rudel für tot erklärt worden war, hasste ich sie noch mehr. Gott, war das alles verkorkst...
Mein Blick glitt langsam zum Himmel hinauf, ich versuchte mit aller Macht, das Gefühl von eintausend Augenpaaren beobachtet zu werden, zu unterdrücken, welches ich in der Dunkelheit immer bekam, während es hinter mir schepperte.
Ich zuckte zusammen, betrachtete einen der Sterne, der besonders hell schien, dann einen nächsten, einen dritten. Und schließlich einen vierten.
Es gab bestimmt mehr, die heller strahlten, aber für mich blieb es bei diesen vier.
Meine Mundwinkel hoben sich etwas, ich betrachtete die beiden, die ganz nah beieinander standen.
Es war eine schöne Vorstellung, dachte ich.
Die Vorstellung, dass das Ylva und Fen waren, die auf mich hinablächelten und aufpassten, mich nicht alleine ließen, immer da waren, auch wenn ich sie vielleicht nicht jederzeit sehen konnte.
Ich vermisste sie.
Wie lange war es jetzt her? Zwei Monate? Drei...
Ich vermisste meine großen Geschwister unendlich, vermisste den Trost, den Halt, die Sicherheit, die sie mir gaben.
Früher war es mir immer so vorgekommen, als könne ihnen niemals auch nur irgendjemand irgendetwas anhaben, egal was war, wenn ich bloß zu ihnen ging, würde es gut werden, das war klar, war schon immer so gewesen.
Doch jetzt war ich auf mich alleine gestellt. Sie waren nicht da. Es war meine Aufgabe, das Rudel, meine Familie, zu schützen, ganz nebenbei verbündet mit einem Ven.
Ich wünschte, sie wären hier, wünschte, sie könnten mir helfen, wünschte, sie würden mir sagen, was ich tun sollte.
Ob sie wohl verstehen würden, warum ich das hier mit einem Ven tat? Ich wusste es nicht. Aber ich wünschte es mir.
Und trotzdem war es irgendwie ein Trost zu wissen, dass sie wenigstens von da oben über mich wachten.
Vielleicht klang es albern, vielleicht klang das naiv, aber es war eine schöne Vorstellung.
Mein Blick glitt zu den nächsten beiden Sternen. Wieder zuckten meine Mundwinkel traurig nach oben.
Vielleicht war es Mik, dachte ich. Vielleicht wachte Mik über Alec. Und Aleyna. Vielleicht wachte sie über ihn, vielleicht über mich, vielleicht über uns beide.
Es war merkwürdig, oder? Die Sterne schienen so unendlich weit weg und trotzdem hatte man das Gefühl, man brauchte sich bloß auf die Zehenspitzen stellen, um an sie heranzukommen.
Ich bemerkte gar nicht, wie die Person neben mich trat, war viel zu sehr mit dem Himmel beschäftigt.
Erst, als sie sich räusperte, zuckte ich zusammen, wand meinen Blick erschrocken ab.
»Warum lächelst du?«, fragte Alec und sah mich beinahe neugierig an, kurz glitt sein Blick nach oben, als suche er, was ich sah und fand es doch nicht.
Wieder legte ich meinen Kopf in den Nacken, Ed war wohl schon vorgegangen.
Für einen Moment standen wir einfach nur nebeneinander und sahen in dem Himmel. Und selbst, wenn er meine Gedanken lesen konnte, so besaß Alec dieses Mal den Anstand, zumindest nichts zu sagen.
Ich schlang meine Arme um mich und betrachtete die Sterne meiner Geschwister.
»Denkst du manchmal an sie?«, hauchte ich irgendwann, hatte absolut keine Ahnung, warum ich mich sehnte, darüber zu sprechen.
Alec hielt inne, sein Blick senkte sich auf mich, für einen Moment musterte er nachdenklich mein Profil. Zum ersten Mal störte es mich nicht einmal mehr wirklich.
»Wen meinst du?«, fragte er schließlich ebenso leise, wie ich.
Langsam nahm ich meinen Blick von den Sternen, sah Alec kurz an.
Er hatte die Stirn nachdenklich gerunzelt.
Vielleicht wirkte ich in diesem Moment ein wenig gestört, aber das dachte er ja sowieso schon von mir, also was machte das schon?
»An Mik und Aleyna.«
Alecs Gesichtszüge entglitten ihm, für einen Moment blinzelte er heftig, ich richtete meinen Blick wieder in den Himmel.
»Ich denke oft an sie. Ylva und Fenris meine ich. Sie fehlen mir.«
Ich war eindeutig übermüdet. Sonst würde ich jetzt nicht so mit ihm darüber sprechen.
Und auch Alec schien meine plötzliche Gefühlsduselei zu verwundern. Ich wusste ja selbst nicht, woher sie kam.
»Manchmal glaube ich, sie sehen auf uns hinab, weißt du? Als würden sie auf uns aufpassen.«
Er sagte nichts.
Aber das musste er auch nicht. Ich hatte ehrlich gesagt auch gar nichts anderes erwartet. Er war eben Alec und Alecs ließen bekanntlich keine Gefühle zu. Zumindest meistens.
Ich schlang die Arme noch enger um mich, auf einmal hatte ich gar nicht mehr das Bedürfnis, sofort ins Haus zu stürmen.
»Ja«, ertönte dann plötzlich Alecs Stimme neben mir, ich runzelte die Stirn, er verschränkte seine Arme vor der Brust, zog die Augenbrauen zusammen.
»Ja?«, fragte ich, verstand zunächst nicht, was er meinte.
Alec seufzte, ich wand meinen Blick nicht vom Himmel ab, er auch nicht.
Das war eben einer der Momente, in denen wir uns lieber nicht ansahen.
»Ja«, wiederholte Alec.
»Ich denke an sie. Oft.«
Aus irgendeinem Grund überkam mich ein Schauer, solch ein Geständnis aus seinem Mund zu hören, war irgendwie komisch, obwohl ich doch wusste, wie viel sie ihm bedeutet hatten.
Alec atmete tief ein, war offenbar noch nicht fertig.
Wir beide waren Gefühlsduseliger, als es uns ähnlich gesehen hätte.
»Ally... es ist schon so unendlich lange her, aber ich denke trotzdem oft an sie. Ich frage mich, wie sie jetzt wohl wäre, wie sie ausgesehen hätte...«
Ich blinzelte ein paar Mal, mein Blick glitt zu dem Stern, den ich für seine Schwester bestimmt hatte.
»Sie ist wunderschön«, erwiderte ich leise, erinnerte mich daran, wie aus dem kleinen Mädchen eine unglaublich hübsche, junge Frau geworden war.
»Ich wünschte, ich könnte sie auch sehen«, murmelte Alec und schüttelte dann den Kopf.
»Ich will mich bei ihr entschuldigen.«
Das verstand ich nicht.
»Wofür willst du dich bei ihr entschuldigen?«
Alec seufzte, rieb sich über den Arm.
»Dafür, dass ich sie nicht retten konnte.«
Ich schnaubte, mein Blick traf ihn, er zuckte beinahe zusammen, ich runzelte die Stirn, er starrte in den Himmel.
Sein Kiefer war angespannt, seine ganze Haltung wirkte angespannt.
»Du warst sieben Jahre alt Alec. Was hättest du machen können? Du weißt doch nicht einmal jetzt, was sie damals angegriffen hat, wie hättest du dagegen ankommen sollen?«
Es war die Wahrheit. Aber er konnte sie einfach nicht sehen. Er schüttelte den Kopf, seine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Wenn ich sie nur irgendwie hätte aufhalten können, wenn ich bloß eine Sekunde schneller gewesen wäre, wenn es nicht sie angegriffen hätte, sondern mich...«
Ich schnaubte.
»Ich glaube nicht, dass irgendjemand es hätte aufhalten können. Nicht einmal dein Vater und, dass es dich hätte erwischen sollen ist einfach lächerlich. Aleyna meinte, es hatte verhindern wollen, dass wir uns treffen. Es hatte nur sie im Visier Alec, niemand hätte etwas dagegen tun können.«
Langsam schüttelte er den Kopf, sah mich nicht an, die dunklen Strähnen hingen ihm im Gesicht.
»Ich verstehe das einfach nicht. Was hast du mit Ally zu tun?«
Eine Frage, die ich mir selbst schon oft gestellt hatte und über die er zuvor nicht hatte reden wollen.
Ratlos zuckte ich mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht«, murmelte ich leise, mein Blick glitt wieder hinauf.
»Aber vielleicht finden wir es bald heraus«, ich stockte kurz, wusste nicht, ob ich ihm sagen sollte, worüber ich nachgedacht hatte.
Aber im Endeffekt würde er es wahrscheinlich sowieso hören, also...
»Alec?«
»Hm?«
»Was ist wenn... wenn in North Carolina... wenn Er derjenige ist, der Ally...«
Ich wollte es nicht aussprechen. Vielleicht war es kindisch, aber ich wollte es nicht.
Alec hielt inne, für ein Moment stockte sein Atem, er blinzelte zu ihrem Stern hinauf, ballte die Hände zu Fäusten.
»Dann«, setzte er an, »werden wir ihn finden und ich werde ihm eigenhändig die gottverdammte Kehle herausreißen, für alles, was er mir jemals angetan hat, für Mik, Siren und Aleyna und für alles was er dir jemals angetan hat, für Ylva und Fenris. Und für Ben.«
Ben. Mein Herz sackte für einen Moment hinab. Ich schluckte schwer.
Ob es... ob es ihm wohl gut ging? Er lebte noch, er musste noch leben, bestimmt lebte er...
»Das ist«, setzte ich an, meine Stimme stockte kurz, ich räusperte mich.
»Das ist eine gute Idee.«
Alec lachte humorlos auf, ich musterte Miks Stern.
Und ich fragte mich, ob Alec auch diese Schmerzen, diese furchtbaren Schmerzen gespürt hatte, als er ihn verloren hatte, wie ich sie gespürt hatte, als meine Geschwister gegangen waren.
Immerhin waren sie Ami gewesen.
Was würde er tun, wenn ich ihn fragen würde? Vielleicht würde er sich einfach umdrehen und weggehen.
Aber vielleicht würde er es mir erzählen, wie er mir von Aleyna und seiner Mutter und seinem Vater erzählt hatte.
»Frag«, murmelte Alec dann plötzlich, ich sah überrascht zu ihm.
»Kannst du nicht hören, was ich fragen will?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Wieso?«
»Weil du Recht hattest. Es ist unfair, ich versuche es zu verdrängen. Ganz geht es trotzdem nicht weg.«
Das überraschte mich allerdings.
Nicht nur, weil Alec zugab, dass ich Recht hatte, sondern auch, dass es ihn überhaupt kümmerte.
»Danke«, stammelte ich perplex, er schnaubte leise.
»Was wolltest du fragen?«
Zugegeben etwas nervös sah ich auf meine Hände, mittlerweile musste sich Ed bestimmt fragen, wo wir blieben.
Schließlich räusperte ich mich. Ich wusste selber nicht genau, warum es mich überhaupt interessierte.
»Wie... wie fühlt es sich an... seinen Ami zu... zu verlieren?«
Angespannt stand ich da, wartete unsicher auf seine Reaktion, er ließ langsam den Kopf sinken, alles an ihm spannte sich an, er starrte auf die Werkstatt vor uns, ballte seine Hände zu Fäusten, presste sie so fest gegen sich, dass es wehtun musste und ich fragte mich bereits, ob es ein Fehler gewesen war, ihn so etwas zu fragen, dann räusperte er sich allerdings.
»Habe ich... habe ich dir schon einmal gesagt, warum er damals im Wald war?«
Überrascht hob ich die Augenbrauen.
Nein, hatte er nicht und jetzt, wo er es sagte, wunderte ich mich, warum ich nie gefragt hatte, warum ich nie weiter darüber nachgedacht hatte.
Schließlich schüttelte ich den Kopf.
»Nein.«
Langsam richtete sich sein Blick auf mich, ein unwohles Gefühl überkam mich, er sah mich an, ein undefinierbarer Ausdruck in seinem Gesicht.
Verwirrt blickte ich auf seine Hand hinab, die er langsam, beinahe zittrig anhob.
»An dem Tag vor 13 Jahren. Er ist immer in den Wald gegangen. Genau an diesem Tag. Es war sein Tag der Trauer, der Tag, an dem er alleine sein wollte.«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf, er hielt mir seine Hand hin, ich verstand nicht, was er wollte.
»Was ist passiert?«, fragte ich unsicher.
Auffordernd sah er auf seine Hand hinab.
»Ich zeigs dir«, murmelte er, jetzt verstand ich, was er wollte.
Ich runzelte die Stirn. Konnte er mir Erinnerungen einfach so kontrolliert zuschicken?
Alec zuckte mit seinen Schultern.
»Es ist einen Versuch wert, oder?«
Langsam nickte ich, wusste allerdings nicht, ob ich sehen wollte, was damals passiert war.
Und trotzdem hob ich meine Hand, ein Schauer überkam mich, als ich seine Haut berührte.
Und kaum schlossen sich seine Finger um meine Hand, fing das Szenario um mich herum an, sich zu verändern.
Ich blinzelte ein paar Mal, in dieser Erinnerung war ich nicht er, ich sah auf ihn hinab, spürte einen leichten Druck an meine Hand und war doch irgendwie körperlos.
Die Szene kämpfte sich langsam aus dem dichten Nebel, das erste, was ich hörte, war leise Musik, irgendein unbedeutender Pop-Song, der damals vermutlich im Radio auf und ab gespielt worden war, jetzt allerdings kaum jemand mehr kannte.
Dann tauchte langsam die Rückbank eines Trucks auf, ich erkannte die beiden kichernden Sechsjährigen sofort.
Alec und Aleyna saßen in ihren Kindersitzen und in eben diesem Moment tat Ally so, als wäre einer ihrer geflochtenen Zöpfe ihr Schnurbart.
Einige Bäume flogen am Fenster vorbei, wir mussten in einer waldigen Region sein.
Und dann langsam, ganz langsam erschien auch der vordere Teil des Autos.
Ich kniff die Augen zusammen, das Kichern der kleinen Kinder hallte in meinen Ohren wieder, das Lied war zu Ende, ich glaubte jetzt spielten sie die Nachrichten, doch ich konnte sie nicht wirklich verstehen, als wüsste Alec bloß noch, dass Nachrichten gespielt wurden, nicht, was berichtet wurde.
Und da erschien er. Die Hände fest um das Lenkrad geschlungen, sein Blick fiel auf ein Navi, das schwarze Haar schien ebenso unordentlich, wie es mir so unendlich bekannt vorkam.
Und dann sah er plötzlich nach hinten.
Ich erstarrte. Alles in mir spannte sich an, mein Nasenrücken, den er mir 13 Jahre später brechen sollte, pochte unangenehm, ich wollte zurückweichen, doch es war, als würde ich einfach über Alecs Kopf schweben, ohne steuern zu können, wo ich hinging.
Er sah mich nicht an. Natürlich tat er es nicht, eigentlich war ich nicht einmal da. Nicht wirklich zumindest.
Und trotzdem pochte mein Herz hektischer, als es sollte.
Beinahe unsicher lächelte er seine Kinder an, als hätte er es nicht oft getan, ein merkwürdiges Gefühl machte sich in mir breit, diese jüngere Version des Ducs, sah seinem Sohn, dem Sohn, den ich kannte, so unendlich ähnlich.
Hastig hörte Aleyna auf mit ihren Späßen, als hätte sie Angst, was ihr Vater dazu sagen würde, es war beinahe so, als schmerzte den jungen Mann dieser Anblick.
Er räusperte sich.
»Und, freut ihr euch schon?«, fragte er lächelnd, eifrig nickten die beiden kleinen Kinder.
»Ja«, bestätigte Alec fröhlich.
»Unser erster Urlaub«, nickte Ally aufgeregt.
Beinahe entschuldigend lächelte ihr Vater sie an, das Auto wurde immer langsamer, zu seinem Glück war kein anderes Auto weit und breit zu sehen.
»Ja«, erwiderte der Mann schließlich.
»Ich werde alles wieder gut machen, versprochen.«
Alec schüttelte den Kopf.
»Warum gut machen?«, fragte er ehrlich verwirrt, Aleyna allerdings konnte ich ansehen, dass sie wusste, was ihr Vater meinte.
Vielleicht war sie durch die Bürde an ihrem Hals zu früh zu erwachsen, dachte ich.
Seufzend griff der Duc nach hinten und verstrubelte seinem Sohn das rabenschwarze Haar, während es beinahe unglaublich schien, wie er das alles meisterte, ohne von der Straße abzukommen.
»Schon gut Al«, lächelte er und damit gab sich die kleinere Version des Vens, der irgendwie neben mir stand und meine Hand drückte und dann doch nicht da war, zufrieden. Er seufzte und lehnte sich in seinem blauen Kindersitz zurück.
»Wann sind wir da?«, fragte er schließlich, Aleyna sah aus dem Fenster und da spürte ich, dass etwas nicht stimmte.
Der Duc spannte sich an, seine Hände um das Lenkrad verkrampften sich, seine Stirn zog sich kraus.
Aleyna merkte es als nächstes, dieses Mal war ich mir ziemlich sicher, dass es daran lag, dass sie die Can war.
Ihre Brauen zogen sich zusammen, während Alec immer noch nichts spürte und seufzend mit den Kordeln seines Pullovers herumspielte.
»Was ist hier los Papa?«, fragte dann Aleyna plötzlich, verwirrt sah Alec auf, der Duc zuckte beinahe zusammen, das Auto rollte langsam aus.
»Ich weiß es nicht mein Schatz«, murmelte er leise, all seine Sinne schienen gespannt, er lauschte, ich sah, wie Alec Angst bekam.
Und dann roch ich es.
Das erste Zeichen der Zerstörung.
Blut.
Mir wurde schlecht. Ich wollte es nicht riechen, nie, nie, nie wieder und trotzdem war es in diesem Moment so unheimlich präsent.
Und obwohl ich nicht wirklich da war, obwohl das bloß eine Erinnerung war, fing mein Herz hektischer an zu schlagen, mir wurde schlecht.
»Was ist denn?«, fragte Alec unsicher, Aleyna schluckte schwer.
»Da hinten raucht es Papa«, flüsterte sie ängstlich und jetzt sah auch ich es.
Dicker, tiefschwarzer Rauch waberte über den Bäumen, kurz vor der nächsten Kurve.
Der Duc hob den Kopf, für einen Moment schloss er die Augen. Er roch etwas.
»Wölfe.«
Das Wort schien die Zeit stehen zu lassen. Für einen Moment blieb mir die Luft weg, Alecs Augen weiteten sich, es schauderte mich.
»Aber sie sind nicht mehr hier«, hauchte Aleyna.
»Ich kann sie nicht riechen.«
Ihr Vater schüttelte den Kopf.
»Ihr Geruch ist schwach«, bestätigte er, es war so bizarr, wie er mit seiner kleinen Tochter darüber sprach, während Alec so aussah, als müsse er sich gleich übergeben.
»Warum brennen die Bäume?«, fragte er dann mit zittriger Stimme, doch ich konnte noch im gleichen Moment sagen, dass es nicht die Bäume waren.
Ich roch es. Einen Geruch, den ich niemals wieder vergessen würde.
Fleisch. Verbranntes Fleisch.
Und jetzt fing auch Aleyna an, zu zittern.
»Ein Dorf«, hauchte sie, mir wurde schwindelig.
Der Motor des Autos erstarb mit einem japsenden Geräusch, der Duc warf einen schnellen Blick über seine Schulter.
»Pass auf deinen Bruder auf Ally, ich werde gucken gehen, okay?«
Panisch schüttelte Aleyna den Kopf, Alec wurde immer blasser, ich befürchtete, er würde jeden Moment einfach ohnmächtig werden.
»Nein«, krächzte Aleyna beinahe panisch.
»Wenn sie zurückkommen und wir ganz alleine sind...«, keuchte sie mit angstvoll geweiteten Augen.
Das Gesicht ihres Vaters verzog sich, er rieb sich die Schläfe, strich sich fahrig die dunklen Strähnen aus dem Gesicht und in diesem Moment erinnerte er mich so unglaublich an seinen Sohn, dass es schmerzte.
»Na gut«, murmelte er schließlich, schien jetzt schon zu bereuen, was er da tat.
»Aber wenn ich euch sage, dass ihr die Augen zu machen sollt, hört ihr sofort auf mich, verstanden?«
Eifrig nickte Aleyna, mir kam es sowieso so vor, als würde sie lieber mit geschlossenen Augen aussteigen.
Ihr Vater schnallte sich ab, warf einen besorgten Blick auf seinen Sohn, der vollkommen blass da saß.
»Schon gut Al«, murmelte Aleyna und nahm die Hand ihres Bruders, der sie mit großen Augen ansah.
»Hier gibt es keine Wölfe mehr. Und auch keine Trolle. Du brauchst also gar keine Angst haben.«
Doch wie viel Angst sie selber hatte, das konnte selbst Alec sehen.
Er schluckte, sein Vater stieg aus, ließ die Tür hinter sich scheppernd zuknallen, Alec zuckte zusammen, während Aleyna sich zittrig abschnallte.
»Ally?«
Alecs Stimme zitterte, sie sah auf.
»Werden wir tote Menschen sehen?«
Es schmerzte, wie viel Angst in seiner Stimme mitschwang, ein kleines Kind sollte sich über so etwas keine Gedanken machen.
Und es schien so unmögich, dass das der Alec war, den ich kannte.
Aleynas Tod musste alles verändert haben.
Für einen Moment stockte seine Schwester, dann zwang sie sich zu einem kleinen Lächeln.
»Nein, keine Angst. Du musst bloß deine Augen schließen, dann passiert nichts.«
Er nickte.
»Okay.«
Und schließlich schnallte auch er sich ab, auch wenn ich sehen konnte, wie seine Hand zitterte, auch wenn ich die Unruhe in seinen Augen erkannte.
Aleyna stieg aus dem Wagen aus, sah ihren Bruder auffordernd an.
Alec atmete tief durch.
»Wenn du es nicht siehst, sieht es dich nicht, wen du es nicht siehst, ist es nicht da«, murmelte er, als müsse er sich selbst überzeugen, dann kletterte er aus dem großen Truck.
Es war, als würde mich irgendeine unbekannte Macht zu ihm hindrücken, als würde ich nur existieren, weil er da war, der Druck an meiner Hand verstärkte sich, der Geruch wurde beißender, der Rauch wurde geradewegs in unsere Richtung geweht.
Der Geruch machte mich schwindelig, Alecs Gesicht schien vollkommen blass, für einen Moment schien es so, als wollte er sich die Nase zuhalten, Aleyna sah sich unruhig um, dann trat ihr Vater plötzlich vor sie, die beiden Kinder bemühten sich wirklich, möglichst aufrecht zu stehen, als wollten sie ihm unbedingt gefallen, selbst jetzt noch.
Eindringlich sah der Duc seine Zwillinge an.
»Gut, ihr bleibt hinter mir, verstanden? Und ihr hört genau auf das, was ich sage. Wenn ich sage, dass ihr die Augen zumachen sollt, dann macht ihr die Augen zu, wenn ich sage, ihr sollt rennen, dann rennt ihr.«
Die Kinder nickten, die identische Sorge in den grauen Augen.
Und da wurde der Blick des Mannes plötzlich sanfter, er beugte sich zu seinen Kindern hinab, sah sie ehrlich an.
»Ihr müsst keine Angst haben, ich bin da, ich pass auf euch auf, niemand wird euch etwas antun.«
Liebevoll strich er über Alecs Wange, seine Tochter nickte ihn tapfer an und nahm die Hand ihres Bruders.
»Ich passe auf«, erklärte sie, als wäre es das Selbstverständlichste auf dieser Welt, ihr Vater blinzelte stolz auf sie hinab und nickte.
Langsam richtete er sich wieder auf, wollte es sich vor seinen Kindern nicht anmerken lassen, doch er war in höchster Alarmbereitschaft, ich sah es ihm an.
Und dann lief er los, der Rauch schwebte wie eine gigantische, tiefschwarze Bestie im Himmel, verkündete Unheil, Schmerz, Tod.
Alec hatte Angst. Ich hatte Angst. Aleyna hatte Angst. Und ihr Vater witterte Gefahr.
Dicht an dicht liefen die Zwillinge ihrem Vater hinterher, Alec blinzelte heftig, der Geruch wurde unerträglich.
»Ich will da nicht hin«, flüsterte er seiner Schwester zu, sie schüttelte stumm den Kopf, wir kamen der Kurve immer näher, ich hielt den Atem an, mein Herz machte nervöse Sprünge, ich wollte nicht sehen, was ich gleich sehen würde und doch schien es mir nicht möglich, die Augen zu schließen.
Es schien mir nicht möglich, weil Alec es ebenfalls nicht tat.
Ich tat es nicht, weil niemand in dieser Erinnerung die Augen schloss.
Und dann sah ich es.
Mein Atem stockte. Mein Herz stolperte, der Druck an meiner Hand wurde noch fester, als würde ich sonst jeden Moment umfallen, der Vater erstarrte, Alec keuchte auf, Aleynas Augen weiteten sich.
Zerstörung, die pure Zerstörung tat sich vor uns auf.
Eine weitere Straße zweigte von der eigentlichen Straße ab, führte zu einem kleinen Dorf.
Eigentlich.
Mir war schlecht, so unendlich schlecht, ich blinzelte heftig, etwas brannte in meinen Augen.
Die Häuser waren vollkommen zerstört, vollkommen verkohlt, tiefschwarzer Rauch bahnte sich von ihnen, hinauf in den Himmel, wo er sich zu einer riesigen Bestie zusammenschloss, die alles niederzubrüllen schien.
Und dann diese Körper.
Ich bekam keine Luft mehr.
Dutzende Körper lagen zwischen den Häusern, ich blinzelte heftig, ihre Augen starrten ausdruckslos in den Himmel.
Die Inbecs waren zerfetzt worden.
Der Mann, der uns am nächsten lag, schien mich geradezu anzustarren, seine Brust war aufgerissen, das Blut sickerte immer noch aus ihr, die Augen schienen voller Entsetzen, der Kopf stand in einem merkwürdigem Winkel ab, sein Mund stand offen, als würde er nach Hilfe schreien, neben ihm lag ein verkohlter Körper.
»Augen zu«, hauchte dann plötzlich der Duc mit erstickter Stimme und auf einmal wurde alles schwarz.
Ich sah nichts mehr, aber ich spürte es. Ich roch es. Ich fühlte es.
Ich wurde weiter nach vorne geschoben, der Vater hatte seine Kinder bei den Händen gepackt, hielt sie eng an sich gedrückt, dieser Geruch schien so unerträglich, ich hatte das Gefühl, Asche würde auf mich hinab regnen, eine Gänsehaut erfasste mich, ich hörte ein unterdrücktes Schluchzen, Alec weinte, irgendwo brachen die letzten Überreste eines Hauses zusammen, ich zuckte zusammen, das Geräusch hallte in meinen Ohren wieder, ich hörte es unter ihren Füßen knirschen, mein Magen drehte sich um.
Dann veränderte sich die Atmosphäre.
Es wurde kalter. Der Boden war ein anderer.
Ich erschauderte, ein unheimliches Gefühl erfasste mich, wieder schluchzte Alec unterdrückt auf, wusste nicht, wo er war, genau so wenig wie ich, dieser unheimliche, dieser beißende Geruch setzte sich in mir fest, als wolle er niemals wieder gehen.
»Okay, macht die Augen auf.«
Und da krachte alles mit einem Mal wieder auf mich ein.
Hektisch sah ich mich um, wir standen in einem Haus, es war vollkommen verwüstet worden, die Möbel waren zertrümmert, die Treppe, die einst in einen weiteren Stock geführt hatte, war in sich zusammengebrochen und dann diese Spuren.
Überall diese Spuren. Krallen.
Die Vorhänge waren zerfetzt, überall lag Füllmaterial der einst grauen Couch herum.
Jetzt war sie rot.
Ich wagte es nicht, nach draußen zu sehen, Alec zitterte, Aleyna drückte sich an ihn, war blass, wie ich es noch nie gesehen hatte.
Und selbst dem Duc schien das Grauen ins Gesicht geschrieben.
Er packte seine beiden Kinder an den Schultern, sah sich hastig um.
»Okay, ihr wartet hier auf mich, verstanden? Ich werde nach Überlebenden suchen«, keuchte er atemlos, Alecs Hände bebten.
»Aber...«, wollte Aleyna verzweifelt ansetzen, ihr Vater schüttelte mit Nachdruck den Kopf.
»Nein, ihr werdet nicht mitkommen. Ihr werdet das nicht sehen! Ich bin immer in der Nähe, ich passe auf euch auf, aber jetzt brauchen vielleicht andere Leute meine Hilfe. Bitte mein Engel, bleib hier und warte, ich komme gleich wieder.«
Tapfer nickte Ally, Alec stand vollkommen erstarrt da, ich bekam kaum mehr Luft, weil er kaum mehr Luft bekam.
Seine Augen glänzten wie hypnotisiert starrte er auf das blutgetränkte Sofa, er blinzelte, dann löste sich eine einzige, kristallene Träne aus seinem Auge.
»Papa«, hauchte er zittrig, sein Vater blickte ihn besorgt an.
Langsam hob Alec den Blick, klammerte sich an die Hand seiner Schwester.
»Warum gibt es Monster?«
Diese Frage traf mich mitten ins Herz. Ich wusste nicht wieso. Ich erschauderte, mein Atem stockte, ich keuchte auf und doch hörte es niemand.
Monster... Lykanthropen... Monster...
Und in diesem Moment schämte ich mich, schämte mich so sehr ein Lykanthrop zu sein.
Ich hatte immer gesagt, es gab Unterschiede, gute und böse Wölfe. Es stimmte. Eigentlich stimmte es.
Und trotzdem hatte Luna sie erschaffen, wie sie mich erschaffen hatte.
Ich schämte mich so sehr.
Der Duc senkte langsam seinen Kopf.
»Damit Leute wie wir sie beseitigen können«, erwiderte er leise, richtete sich dann langsam wieder auf.
»Und ihr verlasst das Haus nicht«, wies er sie mit Nachdruck an, seine Kinder nickten stumm, dann war ihr Vater verschwunden.
Zittrig standen sie in dem großen, zerstörten Raum, früher war er wohl ein Wohnzimmer gewesen.
Sie wagten es nicht, sich umzusehen, der Geruch ließ mich immer schwindliger werden, Alecs Angst nahm mich in seinen Bann.
»I-Ich«, stotterte Alec, seine Stimme brach, sie wagten es nicht, sich hinzusetzen, Aleynas Lippen bebten, Und in diesem Moment war sie das Kind, das sie sein sollte.
»Ich hasse Werwölfe«, hauchte Alec dann plötzlich, für einen kurzen Moment presste er die Augen aufeinander, Aleyna lehnte ihren Kopf zittrig an seinen.
»Alle?«, hauchte sie, er nickte.
»Alle.«
Irgendetwas veränderte sich in Aleynas Gesicht, als würde sie über etwas nachdenken.
»Ich hasse sie auch«, hauchte sie.
»Aber nur die, die das hier getan haben. Die anderen kenne ich nicht. Vielleicht hasse ich sie auch, ich weiß es bloß noch nicht. Aber vielleicht hasse ich sie auch nicht, weil sie so etwas hier, die Werwölfe, die das getan haben, auch hassen.«
Alec blinzelte seine Schwester beinahe ungläubig an, ich starrte Aleyna an, konnte nicht glauben, was sie da sagte, konnte nicht glauben, wie dieses kleine Mädchen dachte, wie sie vernünftiger war, als beinahe jeder andere Ven.
»Aber sie sind alle so«, hauchte Alec, langsam schüttelte Ally den Kopf.
»Woher willst du das wissen? Hast du schon jeden einzelnen von ihnen getroffen?«
Alec wollte zu einer Antwort ansetzen, als plötzlich ein Geräusch links von ihnen ertönte, ich zuckte heftig zusammen, der Druck auf meiner Hand wurde immer fester, die Panik stieg in mir auf, Alec und Aleyna fuhren voller Angst herum, klammerten sich aneinander, es hörte sich an, als würde irgendjemand irgendwo gegen schlagen.
Die Tür eines umgefallenen Schrankes erzitterte, ich schaffte es nicht, vernünftig zu atmen.
Aleyna drückte ihren Bruder fester an sich, die pure Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben, sie wollte ihn hinter sich drücken, doch Alec schüttelte den Kopf, sah den Schrank an, als könne er etwas sehen, was den anderen verborgen blieb, ich wurde misstrauisch, Aleyna bekam Panik, doch das war kein Wolf.
Ein Wolf versteckte sich nicht in einem Schrank. Und das wusste Alec.
Langsam ließ er seine Schwester los, sie wollte ihn aufhalten, doch er trat einfach einen Schritt auf den Schrank zu.
Es war, als würden sich ihre Rollen mit einem Mal um 180 Grad wenden, ich wusste nicht, warum Aleyna es in diesem Moment nicht verstand.
»Nein«, krächzte sie panisch, traute sich allerdings auch nicht, einen weiteren Schritt nach vorne zu treten.
»Nein Alec, mach das nicht!«, zischte sie verzweifelt, doch Alec trat einen weiteren Schritt nach vorne, ich wurde mitgeschoben und da hörte ich es, im gleichen Moment, wie er es hörte.
Ein leises, unterdrücktes Schluchzen.
Alec blinzelte heftig, mein Herz stockte, ein unheimliches, ein unglaublich starkes Gefühl überkam mich, ich konnte es nicht einordnen.
»Alec!«, zischte Aleyna panisch, als sich der schwarzhaarige Junge langsam hinab beugte, mit einem Mal schien er wie ausgewechselt, er hatte keine Angst mehr, ganz plötzlich hatte er keine Angst mehr, als wäre da eine Aufgabe, die er noch erledigen musste.
Und langsam verschwand der Geruch von Blut und Rauch und Schmerz und Tod.
Als würde sich Alec zu diesem Moment nicht mehr daran erinnern.
»Das ist kein Wolf«, hauchte der kleine Junge, mein Herz schien immer wärmer zu werden, zittrig umfasste Alec den Knauf des Schrankes, wieder ein Aufschluchzen, dass mir - das ihm - im Herzen wehtat.
Und dann öffnete er den Schrank, Aleyna keuchte entsetzt auf, doch sie konnte nicht sehen, was wir sahen.
Ein kleiner, blonder Junge hatte sich in dem Schrank zusammengerollt, umklammerte seinen Körper, weinte, schluchzte, die weichen Locken standen wirr von seinem Kopf ab, bei der plötzlichen Bewegung zuckte er zusammen, verbarg sein Gesicht ängstlich vor Alec, als hätte er Angst, er würde ihn angreifen.
»Hey«, murmelte Alec leise, seine Stimme war ruhig, ich verstand einfach nicht, woher diese Ruhe auf einmal kam.
Und da sah der Junge im Schrank plötzlich mit großen Augen auf, ein fieser Schnitt zog sich über sein rechtes Auge, blutete und doch schien er sonst unverletzt.
Sein Körper zitterte wie wild und doch veränderte sich etwas, als er Alec ansah.
Alec blinzelte heftig, der Junge im Schrank sah ihn wie ein verschrecktes Reh an und dann schoss er plötzlich ohne Vorwarnung hoch, Aleyna schrie erschrocken auf, der Junge riss Alec zu Boden, doch es war nicht, wie Ally dachte.
Voller Angst schloss er die Arme um Alec, klammerte sich an ihm fest, schluchzte gegen seine Brust, konnte gerade erst fünf Jahre alt sein, war viel kleiner und schmächtiger als der Ven.
Keuchend landete Alec auf dem Rücken und handelte doch beinahe wie automatisch.
Beruhigend legte er seine Arme um den Jungen, die wirren Locken des Jüngeren hingen ihm im Gesicht zittrig setzte er sich wieder auf, legte seinen Kopf auf das blonde Haar ab und strich unsicher über den Rücken des kleinen Jungen, Aleyna beobachtete sie vollkommen erstarrt.
»Schon gut«, flüsterte Alec, während der Junge gegen seinen Pullover schluchzte.
Und in diesem Moment wirkte Alec viel erwachsener, als er sollte.
Ein tiefes Gefühl der Verantwortung überkam mich. Alec fühlte sich verantwortlich. Vom ersten Moment an fühlte er sich verantwortlich für diesen Jungen.
Für Mik.
»Schon gut, jetzt passiert dir nichts mehr, ich pass auf dich auf«, flüsterte der Ven und schloss für einen Moment die Augen, strich behutsam über den bebenden Rücken des anderen und während die Szene um mich langsam verblasste, hörte ich weiter und weiter, wie er beruhigend auf ihn einredete.
Mit voller Wucht wurde ich in die Realität zurückgeschleudert, meine Beine gaben nach, ich keuchte auf, meine Knie knickten einfach ein, ich blinzelte, hatte nicht einmal bemerkt, wann ich angefangen hatte zu weinen, im letzten Moment packten mich zwei starke Hände unter den Achseln, hinderten mich daran, einfach zusammenzusacken, voller Grauen sah ich zu Alec hinauf, er sah mich an, sein Kiefer zitterte, er blinzelte heftig.
»Du... du willst wissen, wie es sich angefühlt hat, seinen Ami zu verlieren?«, keuchte er atemlos, ich war nicht in der Lage, überhaupt irgendetwas zu tun, nicht einmal stehen konnte ich, die Tränen waren einfach da, ohne, dass ich wusste, woher sie kamen.
Alecs Hände zitterten. Er zitterte. Trotzdem hielt er mich fest.
»Wie Sterben«, keuchte er.
»Jede einzelne Sekunde hat es sich angefühlt, wie Sterben.«
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