57
»I-Ich habe sie g-getötet.«
Ich schaffte es nicht vernünftig zu atmen, die Erinnerung verblasste und trotzdem war da diese Schwere, diese unendliche schwere in meinem Herzen.
Ich blinzelte heftig, hatte nicht einmal bemerkt, wie sich die Tränen in meinen Wimpern verfangen hatten, mein Puls raste, ich brauchte viel zu lange, um die Situation um mich herum zu erkennen, noch nie hatte ich mich so elend gefühlt.
Langsam richtete ich meinen Blick auf ihn, er sah mich nicht an, sein Kiefer zitterte, sein Atem raste, seine Augen glänzten. Selbst jetzt konnte ich es erkennen.
Er saß da, vollkommen zusammengesackt, vollkommen am Ende. Noch niemals hatte ich ihn so gesehen.
Mein Herz machte einen Aussetzer.
»Nein.«
Sein Blick schnellte zu mir, ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass dieses Krächzen von mir gekommen war.
Irgendetwas schien ihn zu erschrecken, als sein Blick auf mich traf, er zuckte beinahe zurück.
»Du hast sie nicht getötet«, hauchte ich, meine Hände zitterten, am liebsten wollte ich mich unter meine Decke verkriechen und nie wieder hervorkommen.
Er hatte sie nicht getötet... Es war nicht seine Schuld gewesen...
Langsam schüttelte Alec den Kopf, seine Hände ballten sich zu Fäusten, er musste gar nichts sagen, ich wusste, dass er keine Sekunde länger darüber reden wollte, sah es ihm an.
»Warum weinst du?«
Ich hörte seine Stimme kaum. Sie war leise. Ungläubig. Verwirrt. Und sie wollte ablenken.
Beinahe musste ich schnauben, während ich mir beschämt einige der Tränen von den Wangen wischte.
Ja, warum weinte ich? Vielleicht, weil ich selber Aleyna in seinen Erinnerungen umgebracht hatte, weil ich selber gesehen hatte, wie sie irgendetwas packte, wie ihr Blut den Boden beschmutzte hatte, wie die Qual sich über sie legte.
Sag es ihm. Sag es ihm. Es ist unfair.
Ich musste es sagen.
Oh er würde mich sowas von umbringen.
Langsam sah ich wieder auf, er blickte mich immer noch an, mir entging nicht, dass er öfter blinzelte, als er es normalerweise tat.
So ein verdammter Idiot. Oh mein Gott, so ein verdammter Idiot! Von mir aus konnte der Blödmann ruhig weinen, verdammt er hatte jedes Recht darauf, aber nein, diese Oberpfeife hatte ja mal wieder ihren beschissenen Stolz!
Ich wusste nicht, ob ich es mir bloß einbildete, oder ob Alec bei meinem Blick tatsächlich noch etwas mehr zurückzuckte, als hätte ich ihn in eben diesem Moment angeschrien.
Ich räusperte mich, wusste nicht Recht, ob ich meiner Stimme vertrauen konnte, wollte es nicht sagen und käme wohl doch keinen weiteren Tag mit diesem Geheimnis klar, ohne das schlechteste Gewissen meines Lebens zu haben.
Außerdem, nachdem, was er mir alles anvertraut hatte, nachdem er mir von dem schrecklichsten Tag seines Lebens erzählt hatte, wäre ich ein verdammt schlechter Mensch, es einfach weiter zu verschweigen. Es war unfair.
»Weil ich es gesehen habe.«
Meine Worte hallten für einen Moment in dem großen Raum wieder, eine Gänsehaut überkam mich, ich machte mich für jede erdenkliche Reaktion bereit, umgriff die Decke fester, als könne ich mich im Notfall unter ihr verstecken, meine Zähne pressten sich aufeinander, ich sah ihn mehr als nur angespannt an.
Er zeigte keine Regung. Seine stahlgrauen Augen waren vollkommen starr auf mich gerichtet, er sah mir in die Augen, ich hasste, wenn er das tat, wenn er so genau in sie sah.
Ich meine, das tat niemand wirklich lange. Sobald sie die Blässe meines linken Auges bemerkten, wie milchig es schien, die Narbe, die sich unübersehbar durch es hindurch zog, sahen sie weg.
Aber das tat er nie. Alec sah nicht weg. Obwohl ich es gewollt hätte.
»Was meinst du damit?«
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er da fragte, um die Verbindung zu finden, mich zu erinnern, was ich zuvor gesagt hatte.
Ich neigte meinen Kopf etwas, um ihn besser sehen zu können, wobei ein paar Strähnen meines dunkelroten Haares über mein linkes Auge fielen.
Ganz unabsichtlich, versteht sich.
Gut Aruna, Augen zu und durch...
Nervös räusperte ich mich, fummelte unsicher an dem Saum meiner Decke herum, langsam veränderte sich etwas in seinem Gesicht. Er runzelte die Stirn.
»Seit...«
Ich räusperte mich erneut, meine Stimme schien nicht wirklich zu wollen, wie ich.
Okay, jetzt stell dich nicht so an!
»Ich... ich glaube dein Blut hat mehr verändert, als... als die Tatsache, dass... also, dass ich mich jetzt nicht mehr an deiner Haut verbrenne.«
War ich das, oder wurde es in dem Raum irgendwie unheimlich warm? Oh Halleluja, bitte lass mich das überleben...
Es war, als würde Alec sich langsam immer weiter aufrichten, alles in mir spannte sich an, zu jeder Zeit bereit, aufzuspringen und vor ihm zu flüchten, falls er ausrasten sollte.
Oh bitte lass ihn nicht ausrasten...
Es war, als würde er immer größer werden, ich bemühte mich hier echt, mich nicht einfach unter dem Bett zu verstecken.
Ob ich einen Schlag ins Gesicht wohl wegstecken würde?
»Ich weiß.«
Was?
»Was?«
Verwirrt sah ich ihn an, meine Augenbrauen zogen sich perplex zusammen.
Was redete er denn da?
Ich blinzelte verwirrt, schüttelte unsicher meinen Kopf, während er langsam so wirkte, als müsse er Angst vor mir haben.
Okay, was war hier los? Langsam wurde ich misstrauisch, der Gedanke von seiner Faust in meinem Gesicht verflüchtigte sich allmählich, Alec senkte den Blick.
Er antwortete nicht.
Okay, jetzt machte er mir Angst. Was meinte er denn bitte mit ich weiß?!
»Alec...?«
Meine Stimme klang lauter, misstrauischer, als ich es geplant hatte.
Aber hey, sein Verhalten machte mir langsam wirklich Angst.
Der schwarzhaarige Ven seufzte schwer, dann sah er plötzlich wieder auf.
Reue? War das Reue?
»Du hast es gesehen, nicht wahr? Du hast gesehen, wie Ally... wie ich...«
Er stockte.
Mein Hals schnürte sich zu, mein Herz machte einen Aussetzer.
Was? Woher wusste er das?
Was zur Hölle war hier los?
Er machte mir Angst.
Wie hypnotisiert nickte ich, konnte es nicht einmal steuern.
Alec gab ein zischendes Geräusch von sich, als hätte er sich irgendwo verbrannt, während ich immer misstrauischer wurde.
Woher zur Hölle wusste er das?!
Und wieder sagte er nichts.
Konnte er vielleicht endlich mal sagen, was hier Sache war?!
Ich strich mir die Strähnen vor meinem Gesicht wieder hinters Ohr, meine Wangen fühlten sich durch die Tränen merkwürdig klebrig an, doch zu meinem Glück hatten meine Augen sich mittlerweile wieder beruhigt.
»Was hat das zu bedeuten?«, wollte ich wissen, vielleicht klang meine Stimme ein wenig zu scharf.
Immerhin war ich ja diejenige, die ihm verschwiegen hatte, ab und zu in seine Erinnerungen abtauchen zu können.
Er atmete schwer ein, als würde ihn irgendetwas noch mehr verunsichern, als er sowieso schon war.
Okay. Jetzt machte er mir Angst.
»Versprichst du mir, meinen Kopf da zu lassen, wo er ist?«
Was?
»Was?!«
Was redete er denn da? Warum sollte ich seinen Kopf... ach keine Ahnung, er war komisch!
Er benahm sich komisch! Was war hier los?
Alec wirkte todernst.
»Versprich es mir.«
Ich schnaubte.
»Wenn ich nicht weiß, wofür ich dir vielleicht den Kopf abreißen sollte, kann ich dir auch nichts versprechen.«
»Aruna!«
»Jaja, okay, ich verspreche es.«
Ich verdrehte die Augen.
Was hatte der denn auf einmal für Stimmungsschwankungen?
Naja, aber wenigstens war er jetzt von der Erinnerung an Aleyna abgelenkt und dem Gedanken, dass er sie umgebracht hatte, was natürlich absoluter Unsinn war.
Er war nur ein verängstigter, kleiner Junge gewesen, der den letzten Wunsch seiner Schwester erfüllt hatte.
Alec schluckte schwer, für einen Moment schien er in irgendwelchen Gedanken zu versinken, langsam wurde ich ungeduldig.
Außerdem war unklar, wie viel man auf mein Versprechen geben konnte, immerhin stimmte, was ich gesagt hatte.
Ich konnte nichts versprechen, wenn ich nicht wusste, worum es ging und so wie er sich verhielt, hatte er tatsächlich Angst davor, was ich in den nächsten Minuten tun würde.
Langsam verlor ich meine Geduld. Nicht, dass ich jemals viel Geduld gehabt hätte.
Er sollte endlich sagen, was Sache war!
Schließlich seufzte er schwer, traute sich nicht, mich anzusehen, als hätte er tatsächlich Angst, ich würde ihn schlagen.
»Ich fürchte, du bist nicht die einzige, die etwas verschwiegen hat.«
Okay. Jetzt hatte er es geschafft. Ich war absolut verwirrt, misstrauisch und mein Geduldsfaden war wirklich, wirklich kurz davor, zu reißen.
Ich sagte nichts, wartete, dass er endlich weiterreden würde, wovor er offenbar ehrlich Angst hatte. Okay?
»Ich weiß, dass du meine Erinnerungen sehen kannst.«
Oh.
»Weil ich deine Gedanken lesen kann.«
WAS?!
»Du kannst WAS?!«
Alec zuckte so heftig zusammen, dass sein Kopf beinahe gegen den Pfosten des Himmelbettes krachte, meine Stimme war lauter und geschockter als beabsichtigt, vollkommen ungläubig sah ich ihn an, schüttelte meinen Kopf wie eine Verrückte.
Mein Mund klappte auf.
Eigentlich sollte es mich nicht so sehr schocken, eigentlich sollte ich ihn nicht so ansehen, denn es war ja nicht so, dass ich seinem Kopf vollkommen fern blieb, aber hallo?!
Das waren meine Gedanken, meine, da hatte er absolut nichts zu suchen! Ich meine, ich benahm mich so schon absolut geisteskrank, er musste mich für vollkommen minderbemittelt halten, wenn er in meinem Kopf rumgeisterte!
»So schlimm ist es nicht«, murmelte er.
Was?! So schlimm ist es nicht? So schlimm ist es nicht?!
Okay Aruna, beruhig dich, lass es ihn erklären, werd hier bitte nicht zu einer verrückten Furie, keiner kann Furien leiden, du bist keine Furie.
Alec seufzte.
»Danke.«
Was?
Moment... las er grad etwa meine Gedanken? Oh mein Gott, er las meine Gedanken.
Okay, an nichts Peinliches denken, denk an nichts Peinliches.
Aber ich war nun einmal Aruna.
Ich war einmal im Mädchenklo so sehr gestolpert und ausgerutscht - auf was auch immer, eigentlich hatte es keinen erstichtlichen Grund gegeben - dass ich kopfüber in eine der Toilettenschüsseln gefallen war, während die Toilette wohlbemerkt gut besucht war. Dabei hatte ich so einen Lärm veranstaltet, dass mich alle angesehen hatten und bei dem panischen Versuch, meinen Kopf wieder zu befreien, hatte ich den Toilettensitz ausversehn abgerissen. Die Blicke, mit denen sie mich beobachtet hatten, während ich versucht hatte, meine Haare irgendwie unter dem Handföhn trocken zu bekommen, wobei sich einige von ihnen in ihm verfangen hatten und hinein gezogen wurden, woraufhin ich dann vor lauter Schrecken mit voller Wucht mit dem Kopf gegen das bescheuerte Teil gekracht war und aufgekeucht hatte, wie eine verwundete Seekuh, würde ich niemals vergessen.
Oh Aruna, ich hasse dich.
Alec gab ein ersticktes Geräusch von sich, verschluckte sich und fing lautstark an zu husten, ich wollte mich am liebsten von einer Klippe stürzen.
Oh Super...
Beinahe erschöpft ließ ich mich nach hinten sinken, das war definitiv zu viel für mich und die Szene, die ich hier grade schob sah mir absolut nicht ähnlich, aber wie würdet ihr denn bitte reagieren, wenn ihr erfahren würdet, dass irgendein Kerl in eurem Kopf herum spukte?
Ich atmete tief durch, in dem Versuch, mich irgendwie zu beruhigen.
»Gut«, murmelte ich irgendwann, Alec hob überrascht die Brauen, nachdem er mehr oder weniger erfolgreich sein Grinsen verborgen hatte.
Arschloch.
Er hob eine Braue. Das hatte er wohl gehört. Na gut, dann eben so.
»Arschloch.«
Er verdrehte bloß die Augen. Ich ging nicht weiter darauf ein.
»Du konntest also seit dem See meine Gedanken lesen?«, stellte ich nüchtern fest, doch auf einmal spannte sich Alec wieder vollkommen an.
Verwirrt blinzelte ich ihn an. Was war jetzt schon wieder los? Noch mehr schlechte Nachrichten würde ich vermutlich nicht ertragen...
»Naja, nicht ganz.«
Was meinte er mit nicht ganz?
Hatte es bei ihm später angefangen als bei mir?
»Nicht ganz«, murmelte er wieder, dieses Mal noch leiser.
Ich biss mir auf die Lippen. Konnte er wenigstens aufhören, auf meine Gedanken zu antworten? Konnte er wenigstens so tun, als könne er sie nicht hören?
Das war nämlich ziemich gruselig...
»Was meinst du mit nicht ganz? Seit wann kannst du hören, was ich denke? Hörst du es überhaupt? Oder wie funktioniert das?«
Ich klang neugieriger als ich sollte, ehrlich. Und es war definitiv viel zu spät, um solche Nachrichten zu verkraften.
Immer noch schaute Alec mich nicht an, als fürchtete er tatsächlich, ich würde ihn schlagen.
»Wenn ich dir sage, dass es angefangen hat, damals als wir in dieser Besenkammer waren und ich dich vor meinem Clan gewarnt habe, schlägst du mich dann?«
Was?!
Er konnte... meine Gedanken... seit, SEIT DAMALS?!
Ich hatte das Bedürfnis, ihn zu schlagen. Hatte ich ehrlich.
»Bitte tus nicht.«
»Raus aus meinem Kopf!«
»Ich kann das nicht steuern!«
»Ich bring mich um...«
Vollkommen erschöpft glitt ich die Kopflehne hinab, überlegte, wie ich es möglichst unauffällig anstellen könnte, ihn von dem Bett zu treten.
Bis mir wieder einfiel, dass er meine Überlegungen vermutlich hörte.
Das war sowas von deprimierend.
Und zu seinem eigenen Glück, war er so schlau und hielt dieses Mal die Klappe, antwortete nicht einfach auf meine Gedanken.
»Du kannst also meine Gedanken lesen?«
Alec nickte.
»Seit dem Moment, in dem wir in dieser komischen Besenkammer gestanden haben?«
Wieder nickte er.
»Du hörst, was ich denke? Also, hörst es, als würde ich wirklich reden?«
Das würde zumindest seine komischen Antworten erklären, wenn niemand geredet hatte...
Er nickte erneut.
»So ähnlich. Wenn ich dich angucke und mich darauf konzentriere, höre ich sie, als würdest du mit mir reden. Wenn ich es verdränge und dich nicht ansehe, ist es nicht so stark, dann sind es eher Gefühle.«
Oh Wow. Er hörte also nicht bloß, was ich dachte, er spürte auch noch, wie ich mich fühlte.
Vermutlich wäre von der Klippe springen tatsächlich der beste Ausweg. Oder ans andere Ende des Landes zu flüchten. Mich vergraben... In einen Bunker ziehen... Auf den Mond fliegen...
Aber Moment, was hatte er da gesagt? Wenn er sich darauf konzentrierte?!
»Sag mir bitte, du konzentrierst dich nicht darauf, meine Gedanken zu lesen.«
Alec blieb stumm.
Ich gab ein äußerst merkwürdiges Geräusch von mir, irgendetwas zwischen Empörung und Verzweiflung und schlug mir die Hände vors Gesicht.
Es half nicht gerade, dass er wohl irgendwie der Meinung war, mich anzustarren wäre eine gute Idee.
Ich seufzte.
»Okay, du kannst meine Gedanken lesen, gut.«
Naja, mehr oder weniger gut.
Wieder nickte er.
»Aber warum? Warum seit damals?«
Eine der wenigen schlauen Fragen, die ich in dieser Nacht gestellt hatte.
Ich meine, ehrlich: Warum? Was hatte dieser Tag verändert? Warum hockte er seit diesem Tag in meinem Kopf? Was war geschehen? Was war anders an dieser Situation von damals?
Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was er alles mitbekommen hatte...
Er war kein Lykanthrop, es machte absolut keinen Sinn.
Was war also an diesem Tag geschehen?
Für einen Moment blieb der Ven noch still. Dann setzte er zu einer Antwort an.
»Ich weiß es nicht.«
Das half weiter...
»Ich habe versucht, irgendetwas rauszufinden. Aber es waren immer nur Lykanthropen untereinander, die in die Gedanken der anderen eindringen konnten, oder Ami.«
Ich seufzte schwer und starrte hinauf an die Decke.
Warum musste eigentlich ungefähr alles in meinem Leben so unendlich verwirrend ablaufen? Außerdem war ich müde...
»Aber gab es denn keine einzige Situation, in der du es nicht geschafft hast, meine Gedanken zu lesen?«, fragte ich hoffnungsvoll.
Es war banal. Es war vollkommen banal, so darüber zu reden. Als würde ich über eine andere Person reden, nicht über mich selbst.
Und da hielt Alec inne.
»Doch«, entgegnete er dann plötzlich nachdenklich.
Überrascht sah ich auf, Hoffnung regte sich in mir, ich richtete mich wieder etwas auf.
»Wann?«
Alec runzelte die Stirn.
»Am See. Nachdem du wieder zu dir gekommen bist. Da war es wie früher, als ich deine Gedanken noch nicht lesen konnte. Oder, wenn du in den letzten Wochen sp abwesend und nachdenklich gewirkt hast.«
Ich hielt inne. Ich hatte über Aleyna nachgedacht, in all diesen Momenten hatte ich über Aleyna nachgedacht. An ihren Himmel und was sie gesagt hatte, an die Rote Göttin und ihre verwirrende Aussage, dass der Herbst kommen würde.
»Guck«, meinte Alec plötzlich und riss mich wieder aus meinen Gedanken.
»Jetzt zum Beispiel wieder. Woran hast du gedacht?«
Okay, gut, Aleyna war also ein Wort, das ihn von meinen Gedanken fernhielt?
Probieren wir etwas anderes...
Langsam ließ ich die Mauer in meinem Kopf hochfahren, wie ich es schon unzählige male getan hatte, wenn ich nicht wollte, dass irgendein Lykanthrop einfach in meinen Kopf eindrang.
Ich hatte Übung darin. Sehr viel sogar, wenn ich ehrlich war.
Und ich hoffte es würde reichen.
Okay, Konzentration.
Langsam schloss sich die Mauer um meine Gedanken, Alec beobachtete mich verwirrt.
Irgendein Gedanke auf den er reagieren würde... Irgendeiner...
Super, dass mir gerade jetzt keiner einfiel, ich sonst aber ununterbrochen an so etwas bescheuertes dachte.
Okay Aruna, denk nach...
Alec stinkt? Sehr originell...
Außerdem stank er nicht. Also nicht wirklich. Vielleicht würde manch einer sogar behaupten, er roch ganz... anehmbar.
Alec ist eine Gesichtsgrätsche. Noch besser...
Und wieder eine Lüge. Ganz objektiv und distanziert betrachtet, sah er vermutlich... ganz gut aus.
Genau, ja Aruna, ganz gut...
Okay, andere Gedanken.
Und erst da bemerkte ich, dass ich schon an Sachen dachte, auf die der Ven reagieren würde. An äußerst peinliche Sachen nebenbei.
Erschrocken glitt mein Blick zu ihm, er saß vollkommen ausdruckslos da.
»Was tust du da? Wie machst du das?«
Beinahe hätte ich erleichtert ausgeatmet.
Gut, er hatte es nicht gehört.
Und da kam plötzlich vollkommen unangebrachter Stolz in mir hoch. Ha! Ich hatte es geschafft!
Ich bemerkte nicht einmal, wie meine Mauer wieder fiel.
»Weißt du«, meinte Alec dann plötzlich und runzelte die Stirn.
»Es macht echt keinen Spaß, in deinem Kopf festzustecken. Der ist ziemlich verwirrend.«
Ich schnaubte und verdrehte die Augen.
»Du bist natürlich vollkommen nachvollziehbar«, erwiderte ich trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust.
Alec lachte leise auf und schüttelte den Kopf.
»Nein, manchmal verstehe ich mich selbst nicht«, murmelte er so leise, dass ich es beinahe nicht verstanden hätte.
Innerlich seufzte ich auf. Ging mir genau so...
Das hier zum Beispiel, alles.
Es war immer noch vollkommen surreal, wie ich hier gelandet war, mitten im Nirgendwo, mir ein Haus mit fünf Ven teilte und mit einem von ihnen durch irgendeine bescheuerte Blutsache eine vollkommen verwirrende Verbindung hatte, durch die ich in seine Erinnerungen eintauchen konnte.
Nicht zu vergessen seine tote Zwillingsschwester, die irgendetwas mit meinem Dasein als Rote zu tun haben wollte und zu der ich eine komplett unmögliche Verbindung spürte, obwohl ich sie niemals getroffen hatte, sie ganz nebenbei gestorben war, als ich fünf Jahre alt gewesen war.
»Das ist doch verrückt. Das alles«, murmelte ich und legte meinen Kopf in den Nacken.
Alec lachte humorlos auf.
»Ja«, meinte er seufzend.
»Das ist verrückt.«
Ich runzelte die Stirn und betrachtete die feinen Muster, die in das Kopfteil geschnitzt worden waren.
Praes, wie mir erst jetzt auffiel.
Und das war eine weitere Verrücktheit in meinem verkorksten Leben, nicht, dass es nicht schon verrückt genug gewesen wäre.
Ich schlief in einem Bett, geschmückt mit Praes. Und es störte mich nicht einmal...
Irgendwann in den letzten Wochen hatte ich wohl den Verstand verloren.
»Hast du nicht.«
»Würdest du vielleicht aus meinem Kopf verschwinden? Der gehört nämlich eigentlich mir.«
Alec verdrehte schnaubend die Augen.
»Nein, kannst du vielleicht einmal die Klappe halten? Ich versuche hier gerade nett zu sein.«
Eine weitere Verrücktheit. Ein Ven versuchte nett zu mir zu sein...
»Ich meine ja nur, wenn, haben wir beide den Verstand verloren. Immerhin sitze ich auch hier.«
Das stimmte...
Eigentlich hatte es bereits damit angefangen, dass er mich damals nicht erschossen hatte und ich nicht das Bedürfnis gehabt hatte, ihn zu zerfleischen.
Gott schien das lange her...
Und da fiel mir etwas ein.
»Alec?«
»Hm?«
»Darf ich dir eine Frage stellen?«
Verwirrt glitt sein Blick zu mir, zuvor hatte er noch gedankenverloren aus dem Fenster in die vollkommene Finsternis gestarrt.
»Kommt drauf an, welche Frage du stellst.«
Frag einfach.
»Damals, als du das erste Mal aufgetaucht bist, an der Quelle meine ich. Warum hast du mich nicht getötet?«
Eine Frage, die ich mir oft gestellt hatte. Warum hatte er es nicht getan?
Alec schien für einen Moment zu vergessen, wie man atmete. Dann blinzelte heftiger, als er es sonst tat.
Fragend sah ich ihn an. Er blieb stumm.
Und als ich schon dachte, gar keine Antwort mehr zu bekommen, öffnete sich plötzlich sein Mund.
»Ganz ehrlich?«
Zugegeben etwas verunsichert nickte ich. Alec senkte den Blick.
»Ich weiß es nicht.«
Oh. Er wusste es nicht? Das machte genau so wenig Sinn, wie ich, allerdings wusste ich ja auch nicht, warum ich damals nicht einmal daran gedacht hatte, mich zu verwandeln.
»Ich wusste, dass du ein Lykanthrop bist. Immerhin hast du noch Hund gestunken.«
»Hey!«
Aber Moment. Hast? Verwirrt runzelte ich die Stirn.
»Was meinst du mit hast?«
Er zuckte beinahe beiläufig mit den Schultern. Und trotzdem sagte sein Gesicht, das wie so oft für einen Moment die Fassung verlor, dass dieser Gedanke ganz und gar nicht beiläufig war.
»Keine Ahnung. Du riechst nicht mehr nach Hund.«
Fand es noch irgendjemand so komisch wie ich, wie wir uns hier darüber unterhielten, wie ich roch?
Ich zuckte mit den Schultern, um ehrlich zu sein wollte ich über diese eine weitere Verwirrung gar nicht genauer nachdenken.
»Liegt vermutlich am Wolfswurz.«
Ich wollte an das Amulett um meinen Hals greifen, vergaß dabei vollkommen, dass ich es abgenommen hatte, weil es unheimlich genervt hatte, wie es die ganze Zeit wummerte, wie ein hektisches Herz, mich selbst vollkommen unruhig gemacht hatte, und erschrak beinahe, als ich bloß Aleynas Kette berührte.
Und erst da fiel mir wieder ein, dass ich es nicht trug.
Also lag es nicht am Wolfswurz.
Alec zuckte bloß mit den Schultern, schien meine kleine Aktion nicht einmal wirklich wahrzunehmen.
»Naja, ist ja auch egal. Du stinkst einfach nicht mehr nach Hund. Jedenfalls habe ich keine Ahnung, was damals passiert ist. Vielleicht hatte ich Mitleid mit dir, es schien mir nicht fair, du warst komplett schutzlos.«
Ich schnaubte. Ja, das noch einmal so vor Augen geführt zu bekommen, half definitiv.
Alec runzelte die Stirn. Beinahe nachdenklich, als wäre er von seinen eigenen Worten nicht gerade überzeugt.
Und jetzt wäre ich gerne diejenige von uns, die die Sache mit dem Gedankenlesen abbekommen hatte.
Lassen wir einfach mal außen vor, warum er es überhaupt konnte. Es machte nämlich absolut keinen Sinn. Immerhin standen wir vor der Sache mit dem Blut in keiner wirklichen Verbindung. Wir hatten einfach das gleiche Ziel gehabt, dass sich unsere Familien nicht gegenseitig umbrachten.
Für einen Moment wurde es wieder still, ich hielt Aleynas Kette fest, jetzt erst schien es so, als würde alles, was ich gesehen und gehört hatte, richtig zu mir durchdringen.
Ich blinzelte heftig, Bilder schossen mir in den Kopf, Aleyna, wie sie durch die Luft geschleudert wurde und es schien unmöglich, wie ich es hatte verdrängen können.
»Was glaubst du war es?«
Alec sah mich verwirrt an, immerhin hatte ich das Thema in eben diesem Moment um 180 Grad gewendet. Aber so etwas tat ich oft.
»Was meinst du.«
Ich seufzte. Vielleicht rastete er wieder aus, wenn ich weiter drüber sprach. Aber wann handelte ich schon jemals wirklich intelligent?
»Ich meine... Aleyna hat von einem Er gesprochen. Diese wahnsinnige Lache... Wer war Er?«
Wie zu erwarten war Alec nicht wirklich begeistert, von diesem Thema. Er zuckte mit starrem Blick mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Wir haben es niemals herausgefunden.«
Ich wollte gerade eine weitere Frage stellen, doch da schüttelte er ruckartig den Kopf.
»Mir wäre es lieber, wenn wir nicht darüber philosophieren würden«, presste er zwischen seinen Zähnen hervor, mein Mund klappte wieder zu.
Verständlich irgendwie...
Alec seufzte, dann fiel sein Blick auf meine Hand, wie sie Aleynas Kette umklammerte.
Er runzelte die Stirn. Dann kniff er die Augen zusammen.
»Woher hast du die?«
Und das war wohl der Zeitpunkt, an dem ich meinen Part des Versprechens einlösen musste.
Auffordernd sah er mich an, als wäre er sich noch nicht ganz sicher, ob er die Kette nun kannte oder nicht.
Augen zu und durch.
»Von deiner Schwester.«
Alec erstarrte.
»Was?«
Ungläubig blinzelte er mich an.
»Ich wollte es dir schon am See erzählen, aber du sahst aus, als würdest du mich lieber ertränken, als mir zuzuhören.«
Beinahe wie hypnotisiert starrte er mich an, seine Augen folgten jeder einzelnen Bewegung meiner Lippen, als hätte er Angst, irgendetwas zu verpassen, was zugegeben ziemlich unangenehm war.
Ganz langsam schüttelte er den Kopf.
»Ich ertränk dich nicht, versprochen«, murmelte er und ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht wirklich realisierte, was er sagte.
»Ganz sicher?«, fragte ich ehrlich zweifelnd.
Er nickte.
»Was ist mit Ally?«
Es schmerzte, wie er ihren Namen aussprach, so voller Hoffnung, so voller, tiefer, ehrlicher Liebe.
Langsam öffnete sich mein Mund. Und ich erzählte ihm, was mit Ally war. Ich erzählte ihm alles.
Angefangen bei dem Moment, in dem sie mich in den See gezogen hatte.
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