56
»Was?«
Meine Stimme brach.
Wovon redete er denn da? Vor zwölf Jahren? Er konnte höchstens sieben Jahre gewesen sein.
Er hatte jemanden umgebracht. Mit sieben Jahren.
Aber was hatte das mit Aleyna zu tun?
Alecs Kiefer spannte sich an, er ballte die Hände zu Fäusten, dann traf mich sein brennender Blick, am liebsten wollte ich zurückweichen.
»Wenn«, keuchte er beinahe, unterbrach sich, schloss seine Augen eine Sekunde länger, als es nötig gewesen wäre.
Dann holte er tief Luft.
»Wenn... wenn ich es dir erzählen soll, dann bist du still, verstanden? Kein einziges Wort.«
Ich wusste, was er da versuchte.
Er wollte wie der kalte Ven wirken, den er immer vorgab zu sein. Aber das war er nicht. Er war kein kalter Ven, kein kalter Mensch.
Es war nur so, dass irgendetwas ihn das zeitweise hatte vergessen lassen.
Langsam nickte ich, wusste nicht, ob ich wirklich wissen wollte, was damals geschehen war. Vor zwölf Jahren. Ich war gerade mal fünf Jahre alt gewesen.
»Okay.«
Alec atmete tief durch, wieder schloss er die Augen länger als nötig, seine Gesichtszüge spiegelten den Zwiespalt in ihm wieder.
Er legte den Kopf in den Nacken, als müsse er sich sammeln.
»Warum tu ich das überhaupt?«, murmelte er so leise, dass ich es kaum verstand.
Ja, das wusste ich auch nicht. Aber ich sagte nichts. Ich glaubte, diese Ruhe brauchte er jetzt, um sich zu sammeln.
»Damals«, fing er schließlich an, stockte, als wusste er nicht Recht, ob seine Stimme dem allen standhalten würde.
Ich sagte nichts. Sah ihn still, vollkommen ruhig an, während er kurz blinzelte, an die Decke hinauf sah.
Es war als würde er sich selber tadeln, reiß dich zusammen, sagen.
Er räusperte sich und trotzdem sah ich, wie er kämpfte.
»Damals, als Ally und ich geboren wurden, vor neunzehn Jahren...«
Er hielt inne, räusperte sich wieder, redete weiter. Er litt.
»Unsere Mutter, sie war damals Can...«
Wieder räusperte er sich, ein Name schoss mir in den Kopf, Gedanken, die nicht meine waren.
Odette.
Odette Venatores.
Für einen Moment schwebte dieser eine Name in meinem Kopf, ein schwaches Bild flackerte in mir auf, als könne Alec sich nicht wirklich erinnern.
Ein vergilbtes Foto, zerknittert, die Ecken waren eingerissen.
Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen, es war, als könne er es nicht vor sich sehen, einzig allein dunkelbraune Locken konnte ich wirklich ausmachen, seidig wie Aleynas und doch heller.
Aber da war kein Gesicht. Nicht einmal schemenhaft. Es war, als würde dort, wo ihr Gesicht hätte sein müssen, einfach nichts existieren.
Warum?
Du musst ihm sagen, dass du es sehen kannst...
Es ist unfair, es ist falsch...
Sag es ihm.
»Mein Vater war damals... damals schon Duc und... kurz vor unserer Geburt wurde... wurde meine Mutter angegriffen.«
Es war falsch. Es war falsch wie er meine Mutter aussprach.
Als wäre sie eine vollkommen Fremde. Als würde er sie nicht kennen.
Und langsam beschlich mich ein quälender Gedanke.
Nein.
»Sie... Es war Vaters Ami.«
Was?
Ami? Aber...aber, er war sein Ami! Wie konnte er ihm so etwas antun?
Alecs Atem ging schwer. Seine Fäuste zitterten.
»Er... er war eifersüchtig. Wollte es, wie einen Unfall aussehen lassen, hat sie nachts aus dem Haus gelockt, ihr gesagt, irgendetwas wäre mit Vater passiert.«
Seine Stimme zitterte.
Ich wollte etwas tun, wollte ihn trösten, irgendwie, wenigstens irgendwie. Doch ich rührte mich nicht, hätte nicht gewusst, was ich hätte tun können, denn Alec war nun wirklich nicht der Typ Mensch, der auf tröstende Umarmungen stand. Vermutlich.
Vielleicht würde es seinen Stolz verletzen. Es schien ja jetzt schon so unglaublich unmöglich, wie verletzlich er sich zeigte, wie verletzlich er sich mir gegenüber zeigte, dass er überhaupt so verletzlich sein konnte.
Es war einfach unerklärlich, für uns beide.
Doch in dieser Nacht veränderte sich etwas. Ich sah ihn mit anderen Augen. Denn Schritt für Schritt verstand ich, warum Alec tat, was er tat.
Der schwarzhaarige Junge holte tief Luft, sah mich immer noch nicht an, starrte an die Decke, als würde er es sonst nicht aushalten.
»Er... er hat sie weggeführt u-und dann auf sie geschossen. Drei mal.«
Nein. Bitte.
Ein schmerzhafter Stich durchfuhr mein Herz, als würde es nicht aushalten, wie gebrochen der sonst so unheimlich starke Junge vor mir wirkte.
Alec, bitte, du bist doch sonst immer so stark...
Alec atmete schwer ein.
»Sie... sie war hochschwanger, mit Ally und mir. Ich... ich glaube er hat zweimal ihre Brust getroffen und... und einmal ihren Bauch. Dann... hat er sie einfach zurückgelassen... zum Sterben zurückgelassen. Komplett alleine... mitten im Wald.«
Meine Lunge schien sich immer weiter zuzuschnüren.
Ich verstand es nicht. Verstand einfach nicht, wie grausam eine einzige Person sein konnte, konnte es nicht begreifen.
Alec schloss die Augen.
»Vater hat es gespürt, dass etwas nicht... stimmte.«
Und da traf sein Blick zum ersten Mal meinen. Sein Kiefer zitterte.
»Ich weiß... du denkst er ist ein grausamer Mensch«, hauchte er.
»Ich glaube es manchmal auch. Aber... aber er hat sie geliebt... Er hat sie so sehr geliebt, es... es hat ihn grausam gemacht.«
Ich nickte, ohne, dass ich es steuerte.
Und egal, was er mir angetan hatte, wie sehr ich leiden musste, was geschehen war, ich konnte einfach nicht anders.
Es war banal, es war vollkommen verrückt, es rechtfertigte sein Verhalten kein bisschen und doch... doch empfand ich tiefes, tiefes Mitleid mit diesem Mann.
Er tat mir Leid. Und das, obwohl er mir all diese Sachen angetan hatte.
Ich musste verrückt sein. Vollkommen verrückt. Es machte absolut keinen Sinn.
Ich sollte diesen Mann hassen, sollte ihn wirklich abgrundtief hassen. Doch ich tat es nicht.
»Okay«, hauchte ich einfach, doch Alec verstand die Bedeutung dahinter.
Langsam nickte er, für einen Moment blieb er noch still. Dann erzählte er weiter.
»Sie... sie haben sie gefunden, aber sie waren einfach zu spät...«
Und ich war froh, unendlich froh, dass Alec keine Erinnerungen daran hatte, ansonsten wäre ich womöglich ohnmächtig geworden, ich war zumeist kein sensibler Mensch, doch diese Geschichte, Alecs Geschichte, sie war anders...
Sie ließ mich heftig blinzeln.
»Die Wehen hatten eingesetzt, mein Vater war vollkommen außer sich, die Ärzte sind gekommen, aber sie... sie meinten, sie könnten entweder sie retten, oder die Babys in ihr.«
Es war schrecklich. Es war viel zu schrecklich.
Eine Entscheidung, die grausam war. Eine Entscheidung, die niemand treffen sollte. Nicht einmal ein Ven. Nicht einmal ein Duc. Nicht einmal er.
Alec schluckte schwer, meine Hände zitterten.
»Ann... Ann meinte, er hätte die ganze Zeit geschrien... geschrien und geschrien und geschrien, dass man sie retten sollte, sie sagt, er hätte ihren Namen gerufen, immer und immer und immer wieder.«
Odette.
Es war, als würde dieser Name in meinem Kopf hin und her schwingen. Denn es war eines der wenigen Sachen, die Alec von seiner Mutter wusste.
Odette. Sie hatte Odette geheißen.
»Aber sie haben sie nicht gerettet.«
Es war banal, wie sehr meine Stimme zitterte, es machte keinen Sinn, wie leise sie klang.
Alec zuckte beinahe zusammen, wenn er die Fäuste weiterhin so sehr zusammenpressen würde, würde er sich wehtun.
Hör auf Alec, bitte hör auf.
Und da schüttelte er den Kopf. Langsam, ganz langsam.
»Nein«, hauchte er, »haben sie nicht.«
Ich senkte meinen Blick.
Hatten sie nicht... Deshalb hatte ich seine Mutter niemals gesehen.
»Sie... sie war bei Bewusstsein, ganz schwach. Sie war da. Ann war ihre Hebamme... Sie... meine Mutter, sie hat Vater angesehen, sie hat gelächelt, sagt Ann. Und sie hat mit dem Kopf geschüttelt.«
Er stockte, für den Moment konnte er nicht reden.
Aber das musste er nicht. Denn ich hörte es. Eine fremde Frauenstimm, das rundliche, zutiefst traurige Gesicht einer älteren Frau, die grauäugigen Kinder vor ihr hatten darauf bestanden, dass sie es erzählte, ich wusste es, ganz plötzlich wusste ich es, wusste, dass sie Wochen auf das Kindermädchen, auf Ann, eingeredet hatten, dass Aleyna ein unglaubliches Talent dafür hatte, andere Menschen um den Finger zu wickeln.
Sie hatten so lange auf sie eingeredet, sich manchmal sogar geweigert, schlafen zu gehen, bis sie ihnen erzählte, was damals passiert war.
Die Lippen der Frau bewegten sich, die Töne folgten merkwürdig versetzt.
»S-Sie konnte kaum mehr sprechen... eure tapfere Mutter... Aber sie hat es noch geschafft.«
Ich sah, dass der kleine, schwarzhaarige Junge weinte, er musste gerade sechs Jahre alt sein und ich konnte einfach nicht begreifen, wieso dieses Kindermädchen solche grausamen Sachen erzählte, wo die Zwillinge doch noch so jung gewesen waren.
So etwas erzählte man keinen kleinen Kindern.
Aleyna hielt Alecs Hand ganz fest, sie weinte nicht. Starr blickte sie Ann entgegen.
»Was hat sie gesagt?«
Doch ihre Stimme hatte gezittert, man hatte hören können, wie sehr ihr kleines Herz brach und ich konnte nicht anders, in diesem Moment verabscheute ich Ann.
Wie konnte sie solch kleinen Kindern nur diese ganzen Sachen zumuten?
Ann lächelte traurig, ihre braunen Augen glänzten, vorsichtig griff sie nach Aleynas Hand, dann nach Alecs.
»Nein, hat sie gesagt. Hör auf Ileas. Rettet sie, rettet meine Babys... Aleyna und Alec, bitte, rettet sie...«
Die Erinnerung brach mit einem mal so abrupt ab, dass ich aufkeuchte, Alec schien sie mit solch einer Macht ausgeschlossen zu haben, dass es schmerzte, sein Kiefer zitterte.
»Sie wollte, dass man uns rettete«, presste er hervor, keine weiteren Erklärungen.
»Ich... sie hat noch gelebt, als ich geboren wurde, aber... aber als... als Ally...«
Ich wusste, was er sagen wollte.
»Bei Allys Geburt ist sie gestorben.«
Der Satz hing über uns, für einen Moment erfüllte er den Raum, ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen, was ich hätte tun sollen. Alec atmete tief ein.
»Ally wurde geboren, mit dem Zeichen des Can an ihrem Hals.«
Es traf mich, wie ein Schlag. Es war, als würde jegliche Luft aus meinen Lungen gepresst werden, mein Herz setzte aus, mein Mund öffnete sich voller Entsetzen, ich sah ihn an, blinzelte heftig, er starrte an die Decke.
»Aber...«, keuchte ich, seine Hände zitterten.
»Aber, sie... sie hat sie doch nicht umgebracht, er war es, der Ami deines Vaters.«
Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair.
Dieses kleine Mädchen?! Ein Baby?! Can?!
Alec verzog das Gesicht, als würden ihn drückende Kopfschmerzen quälen.
»Ich mache die Regeln nicht Aruna...«
Ich schüttelte den Kopf, wollte nicht glauben, was er da sagte.
»Aber... sie war ein Baby, sie konnte doch nicht...«
»Ich weiß Aruna!«
Bei der Kälte, bei dieser Trauer in seiner Stimme, bei der Lautstärke, mit der er mich unterbrach, zuckte ich so sehr zusammen, dass mein Herz wimmernd protestierte.
Ich senkte meinen Blick.
»Tut mir leid...«, murmelte ich, erinnerte mich daran, dass er nicht wollte, dass ich darüber redete, dass es ihm so schon schwer genug fiel.
Ich konnte meinen verdammten Mund nie halten. Wirklich nie.
»Mein Vater hat uns gehasst.«
Seine nächsten Worte ließen mich erschaudern.
Was?
»Er hat jeden gehasst. Jeden einzelnen. Er hat ihn gefunden, seinen Ami, nachdem er abgehauen war, weil sein Plan schiefgegangen war. Er hat ihn umgebracht. Ohne zu zögern.«
Er ist grausam geworden.
Alecs Worte schossen mir durch den Kopf.
Seit damals ist er grausam geworden.
»Bis wir drei wurden, war er kaum da, immer nur Ann. Langsam wurde es allerdings besser. Ich glaube, er hat erst nach diesen Jahren verstanden, dass wir seine Kinder sind. Er war nie der perfekte Vater, das behaupte ich nicht, manchmal war er zu ungeduldig mit uns, aber irgendetwas hat ihn dazu gebracht, uns langsam in sein Herz zu schließen. Vier Jahre hat es gedauert, insgesamt vier. Aber er hat uns geliebt. Aleyna... er hat sie geliebt... Langsam hat es sich wirklich gebessert.«
Ich wollte nicht hören, was danach kam. Denn ich wusste, es war schrecklich.
Es war der Moment, der diesen Mann endgültig kaputt gemacht hatte.
Für einen Moment redete Alec nicht. Und ich wusste, in diesem Moment dachte er an Dinge, an die er nie wieder hatte denken wollen, an den schrecklichsten Tag seines Lebens. An den Tag, an dem seine Schwester gestorben war.
»E-Es war hier«, hauchte er, seine Stimme zitterte.
»Genau hier. In Wyoming, in diesen gottverdammten Bergen.«
Und da kamen die Erinnerungen.
Sie nahmen mich einfach ein, vermischten sich mit Alecs zittriger Stimme, ich wollte es nicht, wollte es verhindern, wollte nicht sehen, was ich gleich sehen würde, aber es ging nicht.
Ich wollte Alec etwas zurufen, wollte ihm endlich sagen, was ich konnte, doch es war zu spät.
Die Erinnerung war viel zu stark.
Langsam erschien die Szene um mich herum, tauchte wie aus dem Nebel auf.
Ich wollte es nicht, ich wollte es einfach nicht...
Doch dann war es vorbei. Ich war eine andere Person. Dieses Mal war ich Alec, dieses Mal sah ich nicht bloß auf ihn hinab.
Und ich fragte mich, welcher Unterschied entschied, ob ich bloß auf ihn hinab sah, oder ob ich er war.
Ich sank vollkommen in die Erinnerung hinab. Ich vergaß wer ich war.
Es war Sommer. Ich spürte Besorgnis.
Ausgestreckt lag ich auf dem Holzboden in ihrem Ferienzimmer, eines der Fenster war geöffnet, ließ warmen Wind hinein.
Die Vögel sangen, ich hatte ihre Lieder noch nie gemocht, die Bäume rauschten, ein normaler Tag. Für mich.
Ich machte mir Sorgen. Etwas stimmte mit Ally nicht. Seit wir gestern hier angekommen waren, stimmte irgendetwas nicht mit ihr.
Sie benahm sich komisch. Wie jetzt.
Nervös schritt sie in dem Zimmer hin und her, strich sich immer unruhiger die dunklen Locken hinter ihr Ohr, das Chamäleon Puzzle, welches normalerweise ihr absolutes Lieblingspuzzle war und mit dem man sie immer beruhigen konnte, lag unangerührt vor ihr.
Mein Onkel war mit Siren, Lila, Missy, Jacob und Xav im Wald, sie sammelten Beeren, wie wir es immer taten, wenn wir hier waren.
Ally hatte sich strikt geweigert, mitzugehen. Als hätte sie Angst.
»Was ist mit dir los Ally?«
Besorgt sah ich meine Schwester an, abrupt hielt sie inne, während das Puzzle immer noch unangerührt vor mir lag.
Sie wirkte irgendwie angespannt. Beinahe verzweifelt.
Was war denn los?
Schließlich seufzte sie, trat einen Schritt auf mich zu und ließ sich vor dem Puzzel nieder.
Ihre Stirn war gerunzelt, ihr rundes Gesicht wirkte blasser als sonst, ihre Wangen glühten nicht, wie sie es sonst immer taten.
Angespannt sah ich sie an, schließlich zuckte sie beinahe verzweifelt mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht«, hauchte sie kopfschüttelnd, noch niemals hatte ich meine Schwester so verzweifelt gesehen.
Langsam bekam ich Angst.
Vorsichtig richtete ich mich auf. Allys Unterlippe bebte.
»Es ist einfach so ein Gefühl«, wimmerte sie, ihre Augen glänzten.
Vorsichtig nahm ich ihre rechte Hand, hasste es, meine Schwester so zu sehen.
Schon immer hatte ich es gehasst, zu sehen, wenn sie irgendetwas hatte, wo es doch so viel schöner war, wenn sie lächelte.
Dann sah sie aus wie eine Prinzessin. Also, fand ich. Nicht wie diese blöden krönchenbessesenen Prinzessinen aus dem Fernsehr. Wie eine coole Prinzessin halt.
»Aber es ist doch alles gut, du brauchst wirklich keine Angst haben, Papa hat uns doch gesagt, dass es hier gar keine Trolle gibt.«
Ich dachte, so könnte ich sie beruhigen. Immerhin beruhigte es mich, ich hatte nämlich Angst vor Trollen, aber das wusste bloß sie.
Doch es war, als machte es Ally nur noch unruhiger.
»Nein«, murmelte sie, umklammerte ihren Körper mit den Händen.
»Nein, das ist es nicht.«
Aber was war es dann? Was hatte Ally denn?
Ich wollte ihr so gerne helfen, aber wie? Wie bloß?
Vielleicht sollte ich ihr erklären, dass Trolle Höhenangst hatten und deshalb nicht in die Berge kamen, meinte zumindest mein Papa.
Ich hatte nicht mehr die Zeit, darüber nachzudenken, denn da keuchte sie plötzlich auf, als würde sie etwas spüren, was ich nicht spüren konnte, sie sprang auf, ich hörte, wie schnell ihr Herz raste, vollkommen erschrocken zuckte ich zurück.
Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie starrte das Fenster an, erschrocken folgte ich ihrem Blick, aber da war nichts. Überhaupt nichts.
»Ally, warte!«, rief ich ängstlich, als sie herumwirbelte, doch da rannte sie einfach los.
»Er ist hier!«, wimmerte sie, das lange Haar peitschte ihr hinterher, als sie aus dem Raum rauschte, mein Herz machte einen Aussetzer.
»Nein!«, rief ich panisch, während ich mich aufrappeln wollte, stolperte, wieder hochschnellte.
»Warte! Nicht! Ally!«
Ich rannte los, mein Herz hämmerte wie wild, ich schlitterte vollkommen ungehalten in den Flur, die Angst packte mich, meine Schwester hechtete wimmernd zu der Treppe, ich krachte gegen die Wand gegenüber ihrer Tür, konnte meinen Schwung nicht kontrollieren, fiel beinahe wieder hin, sie hatte die Treppe fast erreicht, ich zwang mich weiter zu rennen.
Nein! Was hatte sie denn bloß? Wer war hier? Sie sollte warten!
»Er ist hier«, schluchzte meine Schwester, sie sprang die Treppe hinab, meine Füße donnerten über den Boden.
Sie machte mir Angst. Ally machte mir Angst.
»Wer ist hier? Ally warte!«
Aber sie wartete nicht, war vollkommen panisch. Sie wartete einfach nicht auf mich, ich hatte Angst, so große Angst, wünschte, Papa wäre da, der wusste nämlich immer, was man machen musste.
Jetzt hatte ich Angst, einfach nur Angst.
Ich krachte die Treppe hinab, sie war immer schon schneller gewesen als ich, hatte beinahe die Tür erreicht.
»Warte!«, rief ich panisch.
»Geh da nicht raus!«
»Aber er ist hinter mir Alec! Hilf mir! Hilf mir doch!«
Meine Augen brannten, meine Lippen zitterten.
Aber wer? Wen meinte sie denn? Wovon sprach sie? Hier ist doch niemand.
Ally, Ally, nein!
»Hier ist niemand!«, schluchzte ich, hatte so viel Angst, Ally rannte einfach weiter, krachte gegen die Tür, drückte sie einfach auf, mein Herz setzte aus, sie sollte da nicht raus gehen, ich wusste nicht, was passieren würde, aber ich hatte ein schreckliches Gefühl, panisch sah sie über ihre Schulter, schrie auf, als würde sie jemanden sehen, den ich nicht sehen konnte, jemanden der genau hinter ihr war, ich rief verzweifelt nach ihr, furchtbare Angst packte mich und dann stürmte sie einfach hinaus.
Ich würde es nie wieder vergessen. Nie, nie, nie wieder.
Eine unheimliche Kälte überkam mich, ich spürte Tränen der Verzweiflung über meine Wangen rinnen und dann erfüllte plötzlich ein unheimliches Lachen die Luft, wirr, verrückt, ich konnte niemanden sehen doch es ließ alles in mir aufschreien, machte mir so viel Angst, so unglaublich viel Angst, ging mir durch Mark und Bein, ließ alles in mir erschaudern.
Ich wollte schreien, wollte schluchzen, mich verstecken, unter dem Tisch verkriechen, wie ich es bei Gewitter immer getan hatte, bis Ally mich fand und überzeugte, dass die Engel bloß ein Fest feierten.
Doch es ging nicht, es ging einfach nicht, ich musste ihr doch helfen, ich musste Ally doch helfen!
Und dann geschah es.
Ich schrie. Und ich wollte nicht mehr aufhören zu schreien. Nie wieder. Niemals.
Schluchzend hechtete Ally nach vorne, ihr rechter Fuß berührte für den Bruchteil einer Sekunde den Vorplatz unseres Hauses.
Und dann wurde sie plötzlich mit voller Wucht in die Luft geschleudert, ich schrie panisch auf, hörte sie schreien und schreien und schreien und schreien, konnte nichts mehr sehen, rief voller Verzweiflung nach ihr, etwas hatte sie gepackt, schleuderte sie durch die Luft, aber ich konnte es nicht sehen, konnte es einfach nicht sehen und ihre Schreie, ihre Schreie, ihre Schreie, diese unheimlich lauten Schreie, sie rief nach mir und dann war da die Qual, ich krachte aus dem Haus, sah voller Entsetzen, wie ihr Körper durch die Luft geschleudert wurde, immer weiter weg, rot, ich sah rot, ich schrie, rief nach ihr, sie hörte mich nicht, ich konnte einfach nicht begreifen, was ich da sah, ihr Haar wurde zu allen Seiten geschleudert, eine unsichtbare Macht hatte sie gepackt.
Nein! Nein! Ally! Nein!
Und sie schrie weiter und weiter, wurde durch die Luft auf den See zugeschleudert, drei Meter über dem Boden, ihr Kleid wirbelte herum, sie schrie voller unglaublicher Schmerzen, voller unglaublicher Qual, mein Herz hörte einfach auf zu schlagen, Angst, unheimliche Angst, ich rannte weiter, rief nach ihr und rief und rief, sie hörte nicht, wurde weiter und weiter geschleudert, es war so unmöglich, es schien so unendlich unmöglich, ich streckte meine Hände aus, wollte nach ihr Greifen, aber sie war einfach zu weit weg, einfach viel zu weit, ich konnte nicht, ich konnte einfach nicht...
Nein! Nein! Was geschah denn hier?
Ein unheimlicher Schmerz erfüllte meinen Körper, dieses Lachen, diese wahnsinnige Lache, sie erfüllte alles, Ally schrie und schrie und schrie und ich wollte einfach nur, das es aufhörte, konnte ihr Gesicht nicht sehen, ihr Haar verdeckte alles.
Nein! Ally!
Und dann wurde es still. So unglaublich still. Grausam still.
Nein.
Sie stürzte einfach hinab, ihr Körper schien vollkommen erschlafft, ich rief voller Verzweiflung ihren Namen, stolperte den Pfad hinab, sah, wie sie mit einem dumpfen Aufprall auf dem Boden aufkam, dieser schreckliche, dieser unvergessliche Geruch stieg mir in die Nase, ich hatte so unglaublich viel Angst, so viel Angst, so viel Angst...
Mein Blick war starr auf ihren Körper gerichtet, eine dunkle Lache bildete sich unter ihm, das Lachen war verschwunden, ich konnte nicht atmen, taumelte vollkommen hypnotisiert auf sie zu, auf ihren Körper, wie er regungslos am Boden lag, hinter ihr taten sich die Berge auf, auf dieser Wiese hatten wir immer getanzt, jetzt bot sie das schrecklichste Bild, welches ich jemals gesehen hatte.
Meine Schwester, sie war doch meine Schwester, meine Ally, meine Ally...
Meine Beine gaben nach, verzweifelt rief ich nach den anderen, in meinen Ohren rauschte es so unendlich laut, ich wollte schreien, immer lauter, immer weiter, doch meine Stimme brach, ich konnte einfach nicht mehr, als wollte es irgendjemand verhindern, ich wimmerte ihren Namen.
»Ally... nein, Ally...«
Meine Stimme brach, tiefe, unendlich tiefe Angst packte mich, Unglauben, meine Beine knickten ein, ich fiel hin, richtete mich wieder auf, ein warmer Wind kam auf und trotzdem schien er so kalt, so unendlich kalt für mich.
Wie alles. Alles war kalt. Alles tat weh.
Mein Herz schlug nicht mehr.
Wimmernd kam ich bei ihrem regungslosen Körper an, ich wollte nicht sehen, was ich sah, ihr weißes Kleid war vollkommen mit Blut durchtränkt, ihr Hals... ihr Hals...
Nein.
Ich wimmerte auf, griff nach ihr, klammerte mich an sie, zog sie zu mir, das Blut durchtränkte meine Kleidung, diese kreisförmige Wunde an ihrem Hals schien viel zu grausam, das Blut, welches aus ihr sickerte, vollkommen neben mir drückte ich sie an mich.
»Nein... nein, bitte, bitte nicht...«
Der See neben uns erstrahlte Golden, die Sonne stand hoch am Himmel, ich sah es gar nicht, sie musste leben, sie musste doch.
Wimmernd presste ich meinen Kopf an ihre Brust.
Ich japste vollkommen atemlos auf. Sie hob sich! Sie hob sich! Ally atmete, schwach, aber sie atmete!
»O-Okay«, wimmerte ich.
»A-Alles wird okay, k-keine Angst, ich... ich bin ja da.«
Vollkommen im Wahn griff ich nach ihren Händen, umklammerte sie, als wäre es das letzte, woran ich mich festhalten könnte, wog uns vollkommen wirr hin und her.
Ihre Augen blieben geschlossen.
»S-Schon gut... schon gut, die anderen kommen gleich, P-Papa kommt gleich, dir kann... dir kann gar nichts passieren...«
Ich merkte nicht, wie das Leben langsam immer mehr aus ihr wich, wollte es nicht merken, drückte sie einfach ganz ganz fest an mich, sie konnte nicht sterben, das ging doch gar nicht.
»Alles gut... w-wirklich, sie kommen gleich.«
Mein Atem wurde langsamer und langsamer und langsamer, ich konnte einfach nicht mehr atmen.
Das Blut, dieses ganze Blut, wie es aus der Wunde an ihrem Hals sickerte, Wunden, wie ich sie noch niemals gesehen hatte.
Nein, nein, nein...
Nein, Ally, bitte, bleib bei mir, ich brauch dich doch...
»A-Al-...«
Blitzartig sah ich auf, schaute vollkommen aufgelöst auf sie hinab, ihre Augen, diese wunderschönen Augen, hatten sich einen spaltbreit geöffnet.
Sie lebte! Sie lebte!
Alles wird gut Alec, sie hat die Augen auf, da kann sie gar nicht sterben! Man stirbt doch bloß, wenn man die Augen zu macht!
Wie verrückt schüttelte ich den Kopf, die heißen Tränen brannten auf meiner Haut, vermischten sich mit ihrem Blut, ihr Gesicht war eine einzige Maske aus Qualen.
»Nein, nein... Schon gut, wirklich, jetzt wird alles gut, halt nur deine Augen auf, dann wird alles gut, keine Angst Ally, wirklich«, stammelte ich vollkommen wirr vor mir her.
Sie bewegte ihren Kopf, einen Millimeter, dann keuchte sie so voller Schmerz auf, dass sich ihre Augen beinahe wieder nach hinten drehten.
Nein... nein...
Sie wollte mit dem Kopf schütteln, aber warum, aber warum?
Es würde doch alles gut werden, sie brauchte doch keine Angst haben, wirklich, nur die Augen aufhalten, das musste sie tun, das war doch ganz einfach...
»Nein... es... es wird doch...«
Sie öffnete den Mund, ihre Brust hob sich kaum, der pure Schmerz lag über ihr.
Und dann verlangte sie etwas. Verlangte etwas, was ich niemals, nie, nie, nie wieder vergessen würde.
»M-mach...das...«
Sie hustete, Blut rann zwischen ihren Lippen hervor, dieser metallische Geruch, er schien nie wieder gehen zu wollen.
Nein... nein... keine Angst Ally, es ist okay, dir passiert nichts...
»... es aufhört... A-Alec.«
Und dann spürte ich, wie ihre Hand hinab sank, sie griff etwas an meinem Schuh, schaffte es irgendwie es an sich zu ziehen.
Vollkommen außer mir schüttelte ich den Kopf. Sie drückte es mir in die Hand.
Nein, nein, nein, was verlangte sie denn da?!
»Nein«, keuchte ich, wollte den Knauf des kleinen Messers nicht einmal berühren, Papa zwang mich, es immer bei mir zu tragen.
»Nein, es wird doch alles gut, nein...«
Ally hustete wieder, Blut, so unendlich viel Blut, ihre Augen drohten wieder, einfach zuzufallen, ich spürte ihren Schmerz, ihren unendlichen Schmerz, dann trafen mich ihre glänzende Augen, so voller Qual, dass es mich zerriss.
»N-Nein...«
Sie wollte weitersprechen, konnte einfach nicht, doch ich wusste, was sie sagen wollte.
Nein Alec, wird es nicht.
Wie verrückt schüttelte ich den Kopf, Ally drückte mit den Silberdolch in die Hand, hielt ihn fest wie ich, ich war vollkommen neben mir.
»Nein... nein, ich kann nicht...«
Sie sah mich flehend an, so unglaublich flehend, so unglaublich herzzerreißend, dass es mich entzwei riss, mich komplett hinab zog.
Und ihre Worte, ihre Worte, ich würde sie nie wieder vergessen.
»B-Bitte... mach... a-aufhört.«
Sie hustete, spuckte Blut, mit den letzten Kräften, die meine mutige Schwester besaß hob sie unsere Hände an.
Bitte, flehte sie, bitte, bitte Alec.
Nein, nein, nein! Ich konnte doch nicht...
Sie war doch meine Schwester! Es würde doch alles gut werden...
Nein, wird es nicht, sie leidet!
Sei still, wollte ich schreien.
Sei einfach still! Still, still, still!
Ich wollte es nicht, wollte die Stimme, die in mir aufkam, sich immer mehr aufbäumte, nicht mir gehörte, nicht wirklich zumindest, einfach nicht zulassen, aber sie wurde größer und größer, ich schüttelte panisch den Kopf, Allys Hand fiel schlaff hinab, ihre Augen glänzten voller Tränen, sie hatte Angst, so unendlich Angst.
Ich habe keine Angst vor dem Tod, Alec, weißt du? Ich habe bloß Angst, dass es weh tut. Ich will nicht, dass es weh tut.
Mit einem Mal schoss mir ihre Stimme in den Kopf, was sie damals gesagt hatten, als Papa uns sogar ein Eis gekauft hatte, während wir am Meer warteten, dass er von seinen Geschäften zurück kam.
Der Wind hatte ihr Haar erfasst, es herumwirbeln lassen, während sie zufrieden ihr Zitroneneis aß, nachdenklich auf das weite Meer hinaus sah.
Nein, nein... ich wollte nicht... Aber du musst. Du weißt, dass du musst. Du weißt, dass sie es so will.
Ally sah mich flehend an, ihr Mund öffnete sich, sie keuchte, rang nach Atem, quälte sich.
»Bitte...«
Ein einziges Hauchen. Ihre Stimme war ein einziges, leises, furchtbar leises Hauchen.
Meine Hand zitterte, die Stimme gewann immer mehr Gewalt, ich wollte das nicht tun, ich wollte es einfach nicht, doch es war, als würde mich eine andere Person steuern.
Nicht der Alec, den ich kannte.
Ally hustete wieder, ich drückte ihre Hand so fest ich konnte, die Person, die mich steuerte, wollte einfach nicht mehr aufhören.
»Schon gut, schon gut«, murmelte ich, langsam senkte ich das Messer hinab.
Nein! Nein! Ich wollte das nicht! Nein!
Du musst! Wie dein Vater es dir beigebracht hat! Beende es! Diesen letzten Gefallen musst du ihr tun! Sie leidet!
Ihre Worte damals am Meer hallten in meinem Kopf wieder. Ich konnte es nicht mehr vergessen, sie wiederholten sich immer und immer wieder.
Wie Papa es mir gezeigt hatte.
Ich drückte ihre Hand, drückte sie so fest ich konnte, murmelte irgendetwas, versprach, dass es gleich aufhören würde.
Nein, ich wollte das nicht, meine Hand gehorchte mir nicht mehr.
Nein! Nein! Bitte...
Hör auf! Lass das!
Aber du musst. Du musst sie loslassen. Du musst einmal mutiger sein, Alec, einmal mutiger als Ally. Du darfst nicht egoistisch sein, lass sie nicht leiden.
Und dann war es vorbei.
Ein grausames, ein schreckliches Geräusch, ich wimmerte auf, Allys Brust hörte auf, sich schwach zu heben, alles in mir sackte in sich zusammen.
Für einen Moment starrte sie mich noch an, ihr Mund öffnete sich, Blut rann ihr Kinn hinab.
»Danke...«
Der Wind trug ihre Stimme weg.
Ihre Augen wurden glasig. Ausdruckslos. Ihre Hand in meiner erstarrte.
Nein.
Was hatte ich getan? Was hatte ich getan?
Nein! Nein! Ich wollte das nicht!
Du musstest Alec, du musstest!
Ich brach zusammen, brach über dem leblosen Körper meiner Schwester zusammen, konnte einfach nicht glauben, was ich getan hatte, begriff nicht, wer mich steuerte, war so voller Verzweiflung, wimmerte, schluchzte, heulte auf wie ein verletztes Tier strich wie im Wahn über ihre erschlaffte Hand, schluchzte ihren Namen, konnte mich einfach nicht mehr bewegen, sah nichts mehr, hörte nichts mehr, ihr Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen.
Und es war meine Schuld.
Was hatte ich getan? Was hatte ich getan? Ich war ein Monster.
»E-Es tut mir so leid...«
Meine Stimme wurde von meinem Wimmern verschluckt, ich klammerte mich an sie, als könne sie das wieder lebendig machen, hasste mich, hasste mich so sehr, verfluchte mich, verabscheute mich.
Und während ich da lag, während ich weinte und schluchzte und glaubte, nie wieder aufstehen zu können, während meine Sonne erloschen war, während ich die schnellen Schritte der anderen hörte, ihre panischen Schreie, wie sie auf uns zurannten, war da dieser Schmerz, dieser unendliche Schmerz an meinem Hals, tausende Stiche, sie quälten mich, ich wollte schreien, wollte, dass es einfach verschwand, doch die Asche brannte sich tief in meine Haut.
Nein... nein... nein... bitte...
Doch ich wurde Can.
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