53

»Es tut mir Leid.«

Verwirrt sah ich ihn an, ein leichter Wind kam auf, wehte mir die Locken über meine Schultern, ließ mich leicht frösteln.

Wir hatten bestimmt fünf Minuten komplett stumm nebeneinander gesessen, ohne irgendetwas zu sagen.

Um ehrlich zu sein hätte ich nach dieser Nachricht auch nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen.

»Was?«, fragte ich perplex, als er mich ohne ein Wort zu sagen musterte.

Mittlerweile brach langsam aber sicher der Nachmittag ein.

Er seufzte, sah dann weg, sein Blick glitt über den See, in dem sich das Sonnenlicht weiterhin brach, als traue er sich nicht, mich wirklich anzusehen. Schließlich ließ er die Schultern sinken.

»Ich wollte früher kommen.«

Und jetzt wusste ich, worauf er anspielte.

Ein Schauer überkam mich, Erinnerungen an Cal...

Alec spannte sich aus irgendeinem Grund an, ich war nicht in der Lage, ihm zu antworten.

Immerhin war er gekommen...

Drei ganze Wochen Aruna.

»Sie haben mich festgehalten.«

Bei dem erneuten Lautwerden seiner Stimme nach der kurzen Stille zuckte ich zusammen. Langsam richtete er seinen Blick wieder auf mich, meine Hände krallten sich in das weiße Nachthemd, das Wasser um meine Füße schien auf einmal unendlich kalt.

»Mein Vater... Ich habe ihnen versucht, alles zu erklären, sie haben gemeint, dass die Wunden durch dich irgendetwas mit mir gemacht hätten, dass ich nicht mehr ganz klar im Kopf wäre...«

Er schluckte schwer, als würden in ihm schreckliche Erinnerungen hochkommen, die er niemals mehr vergessen würde.

»Ich... sie haben mich im Clanhaus festgehalten...«

Und selbst wenn ich ihn nicht ansah, einfach auf die Bäume, die hinter dem See aufragten, starrte, so spürte ich doch, wie schwer ihm das alles fiel, hier mit mir zu sitzen, zu sagen, was er sagte.

Ich antwortete nicht.

Alec hielt für einen Moment inne, als müsse er sich darauf vorbereiten, was er als nächstes sagte, als wäre er sich nicht sicher, ob er es wirklich sagen sollte.

»Ich... ich habe gehört, wie... wie du... meinen...«

»Hör auf!«

Mein Kopf schnellte hoch, bei der Schärfe meiner Worte zuckte Alec zusammen, es war, als würde er unter meinem abweisenden Blick nur noch mehr zusammensacken.

Ich wusste, was er sagen wollte. Und ich wollte es nicht hören. Nie wieder darüber reden.

Ich schüttelte angespannt den Kopf.

»Ich will nicht darüber sprechen, nicht einmal daran denken!«

Es war unfair, wie harsch meine Stimme klang, die Kälte in meinem Gesicht, die Abweisung war unfair, wie ich ihn hinter die Kalte Mauer meines Herzens aussperrte.

Aber ich wollte es nicht. Wollte es wirklich nicht. Und da nickte Alec plötzlich, sah mich ernst an.

»Okay.«

Okay? Okay?

Eigentlich hatte ich mich auf Widerspruch vorbereitet, einen finsteren Blick, eine höhnische Bemerkung vielleicht.

Aber ganz sicher nicht auf Verständnis. Die Gefangenschaft musste ihm das Hirn weggepustet haben...

»Es ist noch da«, murmelte Alec schnaubend, ich blinzelte ihn verwirrt an - was redete er denn jetzt schon wieder?! - doch noch ehe ich irgendetwas sagen konnte, schien ihm etwas einzufallen, er schüttelte hastig den Kopf und redete dann einfach weiter.

Er musste verrückt geworden sein...

»Was ich dir eigentlich sagen wollte: Ich konnte Lila und die anderen überzeugen, sie haben mir geglaubt und den Plan ausgearbeitet, dich zu retten.«

Bei der Erwähnung ihres Namens spannte ich mich unwillkürlich an. Doch genau darauf schien Alec spekuliert zu haben.

Seufzend schüttelte er den Kopf, sah mich dann eindringlich an. Für einen Moment stockte ich.

»Bitte, ich weiß, was sie dir angetan haben und ich will mir nicht vorstellen, was du alles erleiden musstest, aber... sie sind gute Menschen Aruna. Sie haben alles gegeben, um dich da raus zu holen und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schrecklich Leid es ihnen tut, wie sehr sie das alles bereuen.«

Ich spannte mich nur noch mehr an, meine Hände ballten sich zu Fäusten.

Es tat ihnen Leid? Es tat ihnen Leid?!

Oh ja, mir tat es auch Leid, mir tat es unendlich Leid, welche Qualen sie mir bereitet hatten, welche Narben bleiben würden, körperlich, seelisch...

Und gerade als ich etwas sagen wollte, was womöglich nicht gerade zur Gunsten der Ven gewesen wäre, redete er einfach weiter.

Als hätte er meine Gedanken gelesen.

»Ich verlange nicht von dir, dass du ihnen sofort verzeihst – ich weiß, dass ich der Letzte wäre, der das Recht dazu hätte. Ich möchte dich nur bitten...«

Für einen Moment stockte er.

»Ich möchte dich bitten, dass du ihnen wenigstens eine Chance gibst.«

Ich schluckte, sah stumm auf meine Finger herab, betrachtete die Verkrustungen auf meinen Händen.

Ich wusste nicht, ob ich das konnte...

Ich wusste nicht, ob diese Erinnerungen jemals wieder gehen würden, wusste nicht, ob dieses beklemmende Gefühl eines Tages verschwinden würde, wenn ich Jacob ansah. Ihn und Lila und alle anderen.

Und trotzdem, aus irgendeinem Grund, den ich absolut nicht verstand, nicht verstehen konnte, nickte ich langsam.

Und wenn auch nur um ihn zu beruhigen.

Alec seufzte, ich zupfte nervös an meinen Fingern herum, als müsse ich mich erst wieder daran erinnern, wie sich richtig funktionierten, wieder kam ein leichter Wind auf, ich fröstelte.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte ich schließlich, nachdem keiner von uns etwas sagte.

Alec seufzte, lehnte sich wieder etwas zurück und sah in den klaren Himmel.

»Fürs erste werden wir hier bleiben. Du musst erst einmal wieder zu Kräften kommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nicht auf die Idee kommen würden, hier zu suchen.«

Verwirrt sah ich ihn an. Warum würden sie nicht auf die Idee kommen? Ich meine, offensichtlich war es wohl ein ehemaliges Ferienhaus von ihnen gewesen, wieso war das also so abwegig?

Ebenfalls blieb mir nicht unbemerkt, wie sich Alec bei dieser Feststellung ein wenig anspannte.

»Warum?«

»Darum.«

»Und warum darum?«

Alec schnaubte und schien doch nicht wirklich genervt.

Man hätte beinahe meinen können, dass sich seine Mundwinkel sogar noch etwas hoben.

»Na wenigstens geht es dir jetzt wieder so gut, dass du mich nerven kannst.«

Schnaubend verdrehte ich die Augen. Idiot...

»Und um auf deine Frage zurück zu kommen, wie es jetzt weiter geht. Sobald es dir wieder gut geht, werden wir uns auf den Weg nach North Carolina machen.«

Ich erstarrte. Meine Augen weiteten sich. Meine Kehle schien vollkommen ausgetrocknet.

Erinnerungen, die ich lieber nie wieder sehen, geschweige denn hören wollte, schossen mir in den Kopf. Wahnsinnige Schreie. Wirr rotierende, glanzlose Augen. Der Gestank nach Tod.

»Warum?«

Meine Stimme war nicht mehr als ein Keuchen. Und eigentlich war es eine dumme Frage. Es war mehr als klar, was in North Carolina lauerte, warum wir dort hin mussten.

Und trotzdem wollte ein egoistischer, verabscheuenswerter Teil in mir einfach endlich seine Ruhe. Ein Leben ohne Leid und Kampf und Schmerz und Tod.

Und da war er wieder. Dieser furchtbar eindringliche, ernste Blick, mit dem er mich durchbohrte, mich vollkommen in seinen Bann zog.

»Weil wir einen Krieg verhindern müssen, Aruna.«

Weil wir einen Krieg verhindern müssen. Einen Krieg Aruna.

Seine Stimme hallte in meinem Kopf wieder, mein Schädel brummte.

Aber warum wir... warum wir...

Ich war ohne Zweifel der verabscheuenswerteste Mensch auf diesem Planeten. Ein Egoist.

»Ich habe mir geschworen, nie wieder das Blut eines unschuldigen der Deinen an den Händen kleben zu haben. Und ich habe mir geschworen, nie mehr wieder dein Blut an meinen Händen kleben zu haben, Schuld daran zu sein, wie man dir wehtut. Deshalb müssen wir – muss ich nach North Carolina.«

Aus irgendeinem Grund ließen seine Worte mein Herz für einen Moment aussetzen. Sie machten mich sprachlos. Irgendwie.

Mit großen Augen sah ich ihn an, konnte nicht fassen, wie sehr er sich von dem Alec unterschied, den ich kennen gelernt hatte.

Er sah mich nicht an, als wären ihm seinen eigenen Worten unangenehm, ich wusste nicht, wie viele Momente vergingen, bis ich mich wieder fing.

Ich wollte sein Blut auch nicht an meinen Händen kleben haben, das konnte er mir glauben...

Dann räusperte ich mich.

»Aber wir haben keinen einzigen Anhaltspunkt, wonach wir suchen. Was machen wir, wenn wir in North Carolina sind?«

Alec schien beinahe erleichtert, dass ich nicht wirklich auf seine vorherigen Worte einging.

»Ich habe gehört, wie mein Vater mit seinen Beratern über merkwürdige Geschehnisse im Osten des Staates geredet hat. Was anderes sollte es also sein? Und wenn wirklich etwas da sein sollte - wenn Er da sein sollte - dann werden wir ihn finden.«

Und da hoben sich seine Mundwinkel plötzlich erneut etwas. Er grinste mich doch tatsächlich milde an.

Nun war ich vollkommen verwirrt. Das war definitiv nicht der Alec, den ich kannte.

»Immerhin muss deine Spürnase ja wenigstens für irgendetwas gut sein.«

Schnaubend verdrehte ich meine Augen.

»Ich bin doch kein Hund«, entgegnete ich mehr oder minder böse, dann fiel mir etwas ein.

»Wer sind überhaupt wir? Kommen die anderen mit?«

Denn, dass wir nach North Carolina mussten, war klar.

Was für eine Wahl hatte ich überhaupt? Bis wir keine wirklichen Antworten hatten, konnte ich nicht zurück.

Alec seufzte.

»Wir beide. Du und ich. Lila und die anderen werden zurückgehen, zu zweit kommen wir schneller voran. Missy meinte, sie würden sich schon etwas einfallen lassen, was die Geschehnisse erklärt.«

Wir beide. Zu zweit. Alleine. Oh super...

Das würde bestimmt gut gehen...

Dann hob ich zweifelnd meine Brauen.

»Was wollen sie sich denn bitte einfallen lassen?«

Ich meine das war durchaus eine Frage, die ihre Berechtigung hatte.

Wie wollten sie ihre Taten bitte erklären?! Ich meine, Mitglieder ihres Clans zusammenzuschlagen und mich aus ihren Fängen zu holen war ja wohl kein Versehen gewesen.

Alec zuckte bloß mit den Schultern.

»Missy ist sehr schlau.«

Ja, das hatte ich mittlerweile auch schon bemerkt...

Wieder wurde es still, wir hingen unseren eigenen Gedanken nach. Stumm starrte ich auf meine bandagierten Beine und hoffte nur, dass sich die Wunden nicht irgendwie öffnen würden, ich war mir nämlich ziemlich sicher, nach all dem was passiert war, auch nur bei dem geringsten Tropfen Blut auszurasten.

Blut...

Blut.

Blut!

Mit einem mal war ich wieder hellwach, mein gesamter Körper spannte sich an, ich schoss quasi in die Höhe, das Wasser um meine Füße gab ein empörtes Plätschern von sich - wie konnte ich das nur vergessen?!

»Blut!«, rief ich atemlos aus, Alec zuckte so heftig zusammen, dass er sich hastig an dem Steg festkrallen musste, um nicht im nächsten Moment zur Seite weg in den See zu kippen, seine Augen weiteten sich.

»Was?«, keuchte er, musterte mich alarmiert, ich schüttelte hastig den Kopf, meine Locken peitschten hin und her, mein Hals protestierte zischend.

»Nein!«, rief ich aufgebracht.

»Nein!«

Nun sah er mich so an, als wäre ich komplett geisteskrank. Aber das war nichts Neues. Wenigstens eine Sache an diesem Tag.

»Dein Blut!«, keuchte ich, langsam schien ihm zu dämmern, was mein Problem war.

»Dein Blut... Was habt ihr getan? Andere Zutaten? Uraltes Buch? Was zur Hölle?!«

Aufgebracht sah ich ihn an, denn der Gedanke auch nur einen Tropfen seines Blutes auf welche Art auch immer berührt zu haben war einfach nur...

Ich wusste absolut nicht, wie ich diese Sache einfach hatte vergessen können.

Alec sah mich - mal wieder - nicht an.

»Wir mussten es tun. Du... deine Kräfte sind immer weiter geschwunden, es stand wirklich nicht gut um dich, glaub mir, sonst hätten wir es niemals getan.«

Jetzt bekam ich Angst.

»Was getan Alec?«

Ich wollte es nicht, wirklich nicht, aber meine Stimme klang mehr als nur unsicher.

Immer noch sah er mich nicht an.

»Missy hat es gefunden. Das Buch meine ich, in unserer Bibliothek. Wir wissen nicht, warum es existiert, warum es jemals jemand hätte tun sollen, aber dort war von einem Trank die Rede. Mittels des Blutes eines Vens sollte ein Lykanthrop von der Schwelle des Todes geholt werden können.«

Immer noch sah er mich nicht an, ich konnte nicht fassen, was er da gerade sagte.

Blut? Lykanthrop? Ven?

Aber sie hassten sich, warum sollte irgendjemand jemals so etwas ausprobiert haben, es dann ganz nebenbei auch noch aufschreiben?!

»Die Nebenwirkungen wurden nicht aufgezählt, Lila hat Nächte damit verbracht, die Zutaten zusammenzuklauen, für den Fall, dass wir den Trank als letzten Ausweg bräuchten, wenn wir dich erst da rausgeholt hatten.«

Wenn ich Gedacht hätte, ich wäre zuvor geschockt gewesen, hatte ich mich geirrt. Gewaltig.

Entsetzt öffnete sich mein Mund, mein Herz wummerte empört auf, meine Hände ballten sich zu Fäusten, nervös presste ich sie gegeneinander.

»Ihr... ihr wisst nicht, was die Nebenwirkungen sind?«, krächzte ich mehr als nur entsetzt, denn ich wollte nun wirklich nicht innerhalb der nächsten Tage einfach so umkippen und nie wieder aufwachen.

Auch wenn ich für den Moment zumindest seinem Blut mein Leben zu verdanken hatte.

»Doch«, meinte Alec dann plötzlich ganz trocken, endlich sah er mich an.

Gespannt hielt ich den Atem an.

»Zumindest wissen wir, dass ich dich jetzt berühren kann, ohne deine Haut zu verbrennen.«

Ich seufzte.

»Was für ein Glück...«, murmelte ich milde, Alec schnaubte, als hätte ich ihn beleidigt.

Und da fiel mir plötzlich etwas ein. Erinnerungen, die nicht mir gehörten.

War das...? War das eine weitere Nebenwirkung?

Meine Güte, wenn ich durch diese bescheuerte Blutsache jetzt irgendwie mit seinem Geist verbunden war, würde ich mich von der nächsten Klippe stürzen. Ehrlich.

Er war verwirrend genug, da brauchte ich nicht auch noch in seinem Kopf herumspuken.

Ich wurde nervös. Sollte ich es ihm sagen? Oder zumindest meine Vermutung erläutern?

Ich meine, wäre es nicht irgendwie fair? Ich für meinen Teil würde ihn umbringen, würde er in meinem Kopf herumspuken, ohne mir auch nur irgendein Wort zu sagen.

Vielleicht irrte ich mich, vielleicht spielte mein Gehör mir ein Streich. Doch es schien beinahe so, als würde Alec für einen Moment schwerer einatmen.

Aber vielleicht hatte ich mir das alles bloß eingebildet, die Sache mit den Erinnerungen meine ich, vielleicht hatte mein verwirrter Kopf mir einen Streich gespielt.

Ich sollte warten, dachte ich. Warten, bis ich mir meiner Sache sicher war.

Und dann würde er nie erfahren, wie lange ich gezögert hatte...

Alec blieb wieder ungewöhnlich still.

Seufzend stützte ich mich, wie er, auf meine bandagierten Arme, sie zitterten leicht und doch war es nichts.

Sein Blut hatte mich wohl wirklich gerettet...

Egal was eine makabere, was eine merkwürdige Vorstellung das war. Ehrlich, sie war unheimlich...

Langsam schloss ich meine Augen, die Sonne brannte angenehm warm auf meinem Gesicht, auch wenn es Herbst war.

Ich hatte sie vermisst. Die Sonne meine ich. Wo ich sie doch diesen ganzen Monat kein einziges Mal gesehen hatte...

Sie hatte mir gefehlt...

Das Wasser kitzelte meine Füße. Und aus irgendeinem Grund überkam mich ein merkwürdiges Gefühl.

Ich kniff die Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn, wusste nicht wieso ich mit einem Mal so unruhig wurde.

Was war das?

Alec neben mir regte sich nicht.

Auf einmal war es unheimlich still. Ich wollte meine Augen öffnen, aus irgendeinem Grund wollte ich meine Füße schleunigst aus dem nun ganz und gar nicht mehr angenehmen Wasser heben, ein kalter Schauer raubte mir den Atem.

Doch es war zu spät. Ich hatte keine Zeit mehr zu reagieren.

Es packte mich einfach. Ich schrie auf, etwas – jemand – packte meine Knöchel, mit einem mal wurde ich hinab gezogen, mein Herz setzte für einen Moment aus, nur um dann tausend mal so schnell weiter zu schlagen und mit einem mal war da nur noch Wasser, es rauschte in meinen Ohren, die Kälte überkam mich wie eine gnadenlose Winterbrise, aus irgendeinem Grund schaffte ich es nicht, die Augen zu öffnen, schlug wie wild um mich, wollte nach Hilfe rufen, alles ging so unglaublich schnell.

Und dann wurde es plötzlich unheimlich still. Als würde alles einfach stehen bleiben. Aufhören.

Ich atmete nicht. Aber ich musste auch gar nicht atmen. Es war, als würde ich im Wasser schweben.

Die Kälte verschwand. Mein Haar wirbelte schwerelos im Wasser herum. Mein Herz hörte auf zu schlagen.

Und dann spürte ich sie. Durchdringliche Augen, die mich anstarrten, mich durchbohrten, musterten, erzittern ließen.

Angst. Ja, ich bekam definitiv Panik.

Und dann riss ich meine Augen auf.

Mein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei, panisch wollte ich zurückweichen, alles um mich herum schien schwarz, tiefdunkel, als würde nichts existieren.

Außer sie.

Das Mädchen.

Sie sah mich aus glanzlosen, grauen Augen an, tiefe Augenringe zierten ihr eingefallenes, fahles Gesicht, ihre Lippen schienen jegliche Farbe verloren zu haben, dass schwarze Haar hing in nassen Strähnen in ihrem Gesicht, das helle Kleid schwebte, wie sie, beinahe unheimlich, geisterhaft, in der unendlichen Schwärze.

Ich wollte mich bewegen, immer panischer und panischer, sie sah aus, als wäre sie einem Horrorfilm entsprungen, ich wollte fliehen, wollte schreien, um Hilfe rufen, die Schwärze erdrückte mich.

Doch es schien nichts anderes mehr zu existieren. Nur sie und ich.

Und erst, als sie ihre Hand hob, als sie ein paar Strähnen des vollkommen nassen, schwarzen Haares zur Seite strich, erkannte ich sie.

Aleyna.

Das kleine Mädchen war Aleyna. Aleyna die Alec einst geliebt hatte.

»Endlich.« Ihre Stimme ging mir durch Mark und Bein, mein Körper wollte Panik haben, vollkommen ausrasten, wie sie da so vor mir schwebte, komplett fahl, mit tiefschwarzen Augenringen.

Und doch machte ihre Stimme etwas mit mir. Ein unglaubliches Gefühl, das ich nicht beschreiben konnte.

Vertrautheit. Unheimliche Vertrautheit. Tiefe Verbundenheit. Glück.

Was zum...?

Und da lächelte das kleine Mädchen plötzlich.

Und sobald sie das tat, veränderte sich die Szenerie um uns plötzlich.

Sie veränderte sich.

Was zur Hölle passierte hier?

Langsam verschwand die Schwärze, eine unendlich weite Blumenwiese tat sich um uns auf, nichts mehr als Wiese und tausende von Blumen, der Himmel über uns vollkommen klar.

Schritt für Schritt gewann die Haut des Mädchens an Farbe, ihre Wangen wurden rosig, ihre Lippen schienen so dunkelrot, wie ich es selten gesehen hatte, die grauen Augen begannen zu strahlen, das tiefschwarze Haar lockte sich um ihr rundliches Gesicht.

»Was...?«, keuchte ich vollkommen verwirrt, starrte sie fassungslos an, während sie immer noch glücklich grinste.

Was passierte hier?

»Tut mir Leid, wenn ich dich erschreckt habe«, meinte Aleyna dann plötzlich mit heller, glockenheller Stimme.

Und diese Stimme machte etwas mit mir.

Sie beruhigte mich. Es war, als würde sie das sein, auf das ich all die Jahre gewartet hatte. Als wäre sie das, was all die Jahre in meinem Leben gefehlt hatte.

Vollkommen hypnotisiert sah ich zu dem kleinen Mädchen hinab, all die Angst, all der Schrecken schien mit einem Mal einfach zu verschwinden.

Beinahe reuevoll sah sie auf ihre nackten Füße.

»Ich konnte es nur nicht länger aushalten. Ich wollte dich endlich sehen.«

Sie wollte mich sehen? Was geschah hier? Was hatte das alles zu bedeuten? Was redete sie denn da?

Aleyna grinste immer noch.

Sie war ein hübsches Kind. Unheimlich hübsch.

Und sie schien so unendlich vertraut, jedes einzelne Detail, wie sich ihre Locken kringelten, der Schwung ihrer Lippen, die Form ihrer Augenbrauen.

Ich musterte sie vollkommen fasziniert, doch anders als sie konnte ich diese Gefühle absolut nicht zuordnen.

»Willst du dich vielleicht hinsetzen?«, fragte Aleyna dann plötzlich, deutete einladend auf die Wiese.

Vollkommen überrumpelt nickte ich - dachte ehrlich gesagt nicht wirklich nach - und sobald ich mich hinsetzte, hatte ich das Gefühl auf dem gemütlichsten Sofa, das jemals existiert hatte, zu sitzen.

Auch wenn es einfach nur eine Wiese war. Eine unheimlich unendliche Wiese.

Beinahe aufgeregt setzte sich Aleyna vor mich, musterte mich, begierig, nie wieder zu vergessen, was sie dort sah.

»Wo sind wir hier?«, keuchte ich und kaum war meine Stimme ertönt, schien es beinahe so, als würde Aleyna für einen Moment inne halten.

Dann grinste sie stolz, ihre kleinen, graden Zähne blitzten auf.

»In meinem Himmel. Wunderschön, nicht wahr?«

Und sie hatte Recht. Er war schön. Wunderschön.

Friedlich, mit tausenden, bunten Farben, wie es sich ein kleines Kind wünschte, wie ich mir meinen eigenen Himmel früher immer vorgestellt hatte.

Und erst, als mir dieser Gedanke kam, schienen ihre Worte richtig zu mir hindurchzudringen.

Meine Augen weiteten sich, während sie mich weiter ansah, als wäre sie nie wieder gewillt, irgendwo anders hinzusehen.

»Dein Himmel? Heißt das... heißt das du...«

Aleyna nickte, seufzte dann beinahe wehleidig.

»Ja, ich fürchte, das heißt wohl, ich bin tot... Es tut mir wirklich schrecklich leid Aruna, ich wünschte, wir hätten uns davor noch wenigstens ein einziges Mal sehen können.«

Aruna? Woher kannte sie meinen Namen? Und was meinte sie mit ihrem Wunsch, mich vor ihrem Tod noch wenigstens ein einziges Mal gesehen zu haben?

Mein Kopf brummte. Ich verstand einfach gar nichts mehr. Verstand nicht, was dieses kleine Mädchen mit mir machte.

»Ich... ich verstehe nicht...«, krächzte ich, Aleyna lächelte entschuldigend.

»Das muss alles schrecklich verwirrend für dich sein«, murmelte sie leise, dann wurde ihr Lächeln nur noch breiter.

»Du bist furchtbar groß geworden, weißt du das eigentlich Aruna?«

Beinahe verträumt sah sie mich an.

Was redete sie denn da? Ich war groß geworden? Aber...?

»Weißt du, auch wenn ich gestorben bin, wenn irgendjemand unbedingt verhindern wollte, dass wir uns treffen, war ich immer da.«

Sie legte ihre Hand auf ihre Brust.

»Hier drin, verstehst du? Ich war immer da. Du hast es nur nie gemerkt. Du konntest mich nicht sehen, aber ich habe dich gesehen.«

Es klang beinahe so, als wolle sie sich entschuldigen.

»Ich... ich verstehe das nicht. Was meinst du, damit, warum hätten wir uns treffen sollen? Wer hätte das verhindern sollen?«

Aleyna seufzte.

»Ich weiß nicht, wer es verhindern wollte.«

Ihre kleinen Hände spielten mit den tiefschwarzen Locken.

»Ich weiß nur, dass wir uns hätten treffen müssen. Weil es unser Schicksal ist. Weil es unser Schicksal war.«

Sie wirkte beinahe traurig und da streckte sie plötzlich die Hand nach mir aus.

Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass kein einziges Prae ihre Haut schmückte.

Beinahe automatisch hob ich meine eigene Hand, steuerte es nicht einmal, sanft umfassten ihre kleinen Hände sie.

Und da geschah etwas mit mir. Eine unheimliche Wärme breitete sich in mir aus, es war als würden abertausende kleine, goldene Funken durch meinen Körper schießen, ihre Hände fühlten sich unheimlich warm an, sie lächelte.

Und ich lächelte.

Und ich spürte eine Verbundenheit zu diesem kleinen Mädchen, wie ich es noch nie gefühlt hatte. Noch niemals.

»Vielleicht fällt es dir leichter«, flüsterte Aleyna, »wenn ich so aussehe.«

Und dann veränderte sich ihre Gestalt plötzlich.

Vollkommen fasziniert blickte ich sie an, keine Spur der Angst, ein tiefes Gefühl des Glücks.

Es war, als würde sie ein weißer Schimmer umgeben, ihre Gestalt erstrahlte beinahe, ihr Licht nahm mich vollkommen ein, ich musste meine Augen schließen.

Und als ich sie wieder öffnete, erblickte ich sie.

Ein schöneres Mädchen hatte ich wohl nie in meinem Leben gesehen.

Immer noch lächelte sie mich so unheimlich vertraut an, die glänzenden Haare lockten sich um ihr makelloses, helles Gesicht, ihre Gesichtszüge erinnerten mich unwillkürlich an die einer Elfe.

Und ihre Augen erstrahlten. Erstrahlten in einem stahlgrau. Ich kannte diese Farbe. Ich erkannte sie sofort. Ich würde sie überall wiederekennen, denn wie oft hatte ich schon den Sturm gesehen, der in ihnen tobte?

»Du... du bist Alecs Schwester«, hauchte ich ungläubig, während sie meine Hände immer noch festhielt, als wolle sie mich nie wieder loslassen.

Langsam, beinahe traurig nickte sie.

»Ja. Auch ihn musste ich verlassen...«

Ich verstand absolut überhaupt nichts mehr.

»Aber... aber was hat das alles zu bedeuten? Was sind das... warum kommst du mir so...«

Ich stockte, wusste einfach nicht, was ich sagen sollte.

Langsam löste sie ihre linke Hand von meiner, ein sachter Wind erfasste ihr Haar, ließ es nach hinten wehen, ließ sie aussehen wie eine Göttin.

»Deshalb«, hauchte sie, begann langsam, feine Striche in die Luft zu malen.

Und überall, wo ihr Finger die Luft berührte, entstanden goldene, feine Linien.

Ich hielt meinen Atem an, Aleyna blickte beinahe konzentriert auf ihr Werk. Und langsam erschien es. Langsam fügten sich die Striche zusammen.

Das Zeichen der Roten.

Ich schüttelte den Kopf.

»Warum?«, hauchte ich vollkommen verwirrt, wusste einfach nicht, was hier geschah.

Aleyna seufzte bedauernd.

»Es tut mir wirklich leid, aber das darf ich dir nicht sagen. Sie hat mir nur gestattet, dich einmal zu sehen, nach all diesen unendlichen Jahren, in denen ich auf dich aufgepasst habe. Ich darf nicht zu viel sagen.«

Ich blinzelte heftig, mein Herz klopfte unregelmäßig, verstand einfach nicht, was hier los war.

»Auf mich aufgepasst? Wie? Und wer ist sie?«

Ich musste verzweifelt aussehen, wahrlich und wirklich verzweifelt.

Aleyna nickte einfach.

»Ja, ich habe auf dich aufgepasst, wie es meine Aufgabe ist, selbst im Tode.«

Auf die andere Frage gab sie mir keine Antwort.

Ich war vollkommen gefesselt von ihrer Stimme. Ein Engel. Als wäre sie mein Engel. Ein Schutzengel?

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe das nicht. Bitte, erklär es mir doch. Wieso habe ich jetzt erst das Gefühl, komplett zu sein«, hauchte ich.

Ja, ich verstand es definitiv nicht. Ich war vollkommen berauscht. Berauscht von diesem Mädchen, das auf irgendeine, auf irgendeine seltsame Weise mein Glück ausmachte.

Dessen Aufgabe es schien, mir Glück zu bringen.

Ein Mädchen, das tot war. Alecs Schwester.

Bedauernd blickte Aleyna hinab.

»Ich darf es dir nicht sagen, wirklich... Glaub mir, ich würde es so unheimlich gerne, ich würde alles dafür tun, um wirklich bei euch sein zu können, bei dir und Alec, um meine Pflicht auf der Erde zu erfüllen, meine Pflicht euch gegenüber zu erfüllen, aber es geht einfach nicht. Ihr müsst das alleine schaffen.«

Ich schüttelte den Kopf, vollkommen perplex.

»Deine Pflicht? Aber was ist deine Pflicht?«

Ich wollte nicht, dass sie ging.

Wollte es nie wieder. Denn dieses Mädchen gehörte zu mir. Irgendwie. Ich spürte es. Sie war ein Teil von mir.

Aleyna seufzte. Langsam ließ sie ihren Kopf hinabsinken, ihre Stirn berührte meine, ein Schauer überkam mich, sie schloss die Augen, ich sah sie vollkommen gebannt an, war gefangen in ihrer Wirkung auf mich.

»Ich fürchte, das musst du selber herausfinden. Du glaubst gar nicht, wie gerne ich dir helfen würde, aber es geht nicht, ich darf nicht. Du und Alec... ihr müsst es alleine schaffen.«

Ein Wind kam auf, diesmal war er heftiger, wirbelte unsere Haare auf, ließ sie zu einem Meer aus Schwarz und Rot verschwimmen, dutzende Blätter in hundert verschiedenen Farben wirbelten um uns herum.

Beinahe bedauernd sah Aleyna auf, ließ meine Hände dennoch nicht los, sah in den Himmel, als könne sie etwas sehen, was mir verborgen blieb.

»Der Herbst kommt«, murmelte das schwarzhaarige Mädchen vor mir beinahe verträumt, wieder dieser Schauer.

Dann sah sie mich plötzlich wieder an, ihr Blick ließ etwas in mir erschaudern, sie lächelte mich traurig an.

»Du musst jetzt gehen. Sie gibt uns nicht länger Zeit.«

Was? Nein! Ich wollte nicht gehen! Nicht jetzt! Ich hatte doch noch so unglaublich viele Fragen!

Beinahe hektisch schüttelte ich den Kopf.

»Nein«, keuchte ich.

»Ich will nicht gehen, nicht alleine! Und ich habe doch noch so viele Fragen!«

Und ich verstand selber am allerwenigsten, wieso, wieso ich nicht alleine gehen wollte.

Aleynas trauriges Lächeln wurde nur noch breiter.

Vorsichtig löste sie ihre Hände aus meinen, ich wollte sie festhalten, doch sie verschwanden einfach.

Sie griff sich an den Hals, erst jetzt erkannte ich die goldene Kette mit dem funkelnden, roten Kristall um ihren Hals.

»Hier«, murmelte sie, löste den Verschluss.

»Damit du weißt, dass ich bei dir bin. Damit du es nicht mehr vergisst«

Auffordernd streckte sie mir die Kette entgegen, vollkommen hypnotisiert nahm ich sie, drückte sie fest an mich. Sie war wunderschön.

Dann sah ich auf.

»Du... wir... sehen wir uns wieder?«

Ich wusste nicht, warum ich es wollte, kannte dieses Mädchen ja nicht einmal und trotzdem ertrug ich den Gedanken nicht, sie nie wieder zu sehen.

Kurz schien es, als würde sie überlegen. Dann nickte sie zögerlich.

»Ja. Ich denke, ich kann sie dazu überreden.«

Und dann verblasste plötzlich alles um mich herum.

Die Wiese, die Blumen.

Und Aleyna.

Ihr schönes Gesicht, die glänzenden Locken, das vertraute Lächeln.

»Nein«, keuchte ich, wollte meine Hände nach ihr ausstrecken, doch konnte mich nicht bewegen, als würde mich irgendetwas zurückhalten.

Sie blieb vollkommen still sitzen, sah mich beinahe traurig an.

Und da schoss mir plötzlich diese eine Frage durch den Kopf.

Wenigstens noch eine Frage, Aleyna, eine einzige, bitte!

Ein heftiger Wind kam auf, ließ meine Haare wie wild umher wirbeln, während er sie nicht einmal zu berühren schien, als wäre er es, der mich wegtrug.

»Warte!«, rief ich beinahe verzweifelt, Aleyna sah mich immer noch traurig an.

»Wer ist sie? Aleyna, wer ist sie?«

Für einen Moment schien es beinahe so, als wolle das Mädchen die Hand nach mir ausstrecken, schien sich dann aber selbst davon abzuhalten, der Wind nahm zu und zu, sie musste schreien, damit ich sie verstand, das Getose drohte mich wegzutragen.

»Die Rote Göttin natürlich!«

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