5


Ein Jahr später...

Konzentriert blickte ich auf mein kleines Notizbuch hinab, während das Kratzen des Stiftes die Luft erfüllte.

Ein leichter Wind kam auf und blies mir das lange Haar aus dem Gesicht, ich stockte und runzelte die Stirn.

Vor ein paar Monaten hatte ich angefangen, dieses Handbuch zu schreiben, fragt mich nicht warum. Ich hatte einfach das Bedürfnis, diese ganzen Sachen aufzuschreiben. Für keinen Bestimmten. Einfach so.

Ich lehnte mich gegen die Holzwand des Schuppens und blickte kurz in den Himmel hinauf. Es war Samstag und die Sonne brannte angenehm auf meiner Haut.

Und vielleicht - nur ganz vielleicht - versteckte ich mich.

Heute war Jagd.

Und ich hasste die Jagd. Die Jagd und den Blutrausch und alles andere. Deshalb hockte ich nun also hinter diesem alten Schuppen am Rande des Dorfes und hoffte, dass sie mich einfach vergessen würden.

Das war dämlich, ich weiß.

Bis jetzt war es ruhig geblieben, ich hatte aus der Ferne ihre Stimmen gehört und bis auf ein paar Vögel, die fröhlich über meinem Kopf zwitscherten, war niemand da.

Doch dann hörte ich plötzlich Schritte.

Ich hielt inne, der Stift in meiner Hand erstarrte.

Dann lauschte ich.

Okay, ja, sie kamen definitiv näher.

»Verdammt«, murmelte ich und wollte gerade aufspringen, um auf die andere Seite des Schuppens zu huschen, da durchschnitt seine Stimme die Stille.

»Ary?«

Ich stöhnte auf und sackte in mich zusammen, dann kam Cole hinter dem Schuppen hervor.

»Da bist du ja!«

Er stemmte die Hände in die Hüften, das Kinnlange, blonde Haar stob bei der nächsten Windböe nach hinten.

»Eza und ich suchen dich seit mindestens zehn Minuten«, meinte er und sah skeptisch auf mich herab.

Ich schmollte.

»Kannst du nicht einfach sagen, dass ihr mich nicht gefunden habt? Du weißt, ich hasse die Jagd...«, murmelte ich und verschränkte die Arme vor der Brust, auch wenn ich die Antwort längst kannte.

Cole hob eine Braue.

»Du weißt, dass das nicht geht.«

Theatralisch seufzte ich auf und tat so, als würde ich jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Cole konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, dann ließ er sich neben mir auf dem Boden fallen. Einen Moment saßen wir so da und starrten zwischen den Bäumen entlang.

»Weißt du, ich war doch am Anfang auch nicht begeistert, gerade bei den Jägern gelandet zu sein, aber mittlerweile bin ich echt froh drum. Ich würde nichts anderes machen wollen«, versuchte mein bester Freund, mich aufzumuntern.

Das stimmte. Er war mindestens drei Wochen rumgelaufen, wie ein begossener Pudel und hatte geschmollt. Dass Eza und ich unsere Novizen Ausbildung begonnen hatten, hatte seine Laune auch nicht gerade gehoben und so viel ich auch mit meinen Eltern diskutiert hatte, an ihrer Entscheidung hatten sie nichts ändern wollen. Cole wäre ein perfekter Jäger, hatte Dad immer wieder beteuert, gerade wegen seiner Stärke, doch das hatte uns damals auch nicht geholfen.

Mit der Zeit jedoch, hatte Cole die Aufgaben eines Jägers schätzen gelernt und mittlerweile trauerte er den Novizen nicht mehr im Geringsten hinterher.

Ich verdrehte die Augen.

»Ja, ich weiß, aber das ist was anderes... du weißt, ich hasse Blut«, versuchte ich, ihn weichzuschlagen, doch Cole antwortete das, was er eben immer antwortete.

»Ich verstehe nicht, wie du dann bei den Novizen sein kannst.«

Daraufhin schmollte ich einfach weiter.

Kindisch, ich weiß, aber mir fiel keine Antwort darauf ein und einzugestehen, dass er Recht hatte, würde ich sicher nicht.

Plötzlich versteifte sich Cole und starrte ausdruckslos gegen die große Tanne vor uns.

Die Jäger sprachen mit ihm.

So war das immer, wenn man überraschend in ein Gespräch eingelinkt wurde. Man erstarrte und wurde zu einem bewegungslosen, sabbernden Etwas.

Okay, vielleicht hatte ich das Sabbern hinzugedichtet, um Cole zu ärgern.

Einfach aus Spaß gab ich Cole einen Stoß gegen die breite Schulter, sodass er wie ein schlaffer Sack Mehl zur Seite fiel und auf dem Boden liegen blieb, während ich darauf wartete, das er wieder aufwachte und mir erklärte, was die Jäger zu sagen hatten.

Ungeduldig tippte ich mit meinem Schuh auf dem Boden herum, bis Cole plötzlich tief einatmete.

»Au!«, beschwerte er sich und rappelte sich wieder auf.

Mürrisch zupfte er sich den Dreck aus seinem Haar.

»Und, was wollte dein Schlägertrupp?«, fragte ich und grinste ihn blöd an.

»Wir sind kein Schlägertrupp!«, schnaubte er.

Ich schnalzte mit der Zunge.

»Wohl. Der Bambi - Schlägertrupp.«

Cole wollte empört etwas darauf erwidern, bremste sich dann allerdings wieder und sah mich finster an.

»Du versuchst abzulenken, Ary!«, beschwerte er sich.

Gut, das war vielleicht etwas zu offensichtlich gewesen.

Er rappelte sich auf und zog mich erbarmungslos mit sich hoch.

»Komm, die anderen sind schon los, Eza wartet an der Ostseite auf uns, wir müssen uns beeilen.«

Auf meine kleinlauten Beschwerden ging er gar nicht ein.

Er zog sich einfach das T-Shirt über den Kopf und warf es achtlos auf den Boden. Ich drehte mich hastig um und kniff die Augen zusammen.

»Du könntest mich wenigstens vorwarnen!«, beschwerte ich mich und verschwand dann hinter der nächsten Wand des Schuppens.

Ich hörte Cole leise lachen und begann ebenfalls, meine Kleidung auszuziehen.

Einer Verwandlung hielten sie nämlich nicht stand.

Als letztes friemelte ich an dem Verschluss meines Amuletts herum.

Ein Halbmond aus Obsidian, gefüllt mit den violetten Blüten des Wolfswurz. Meine Abwehr gegen Ven, falls ich jemals auch nur irgendeinem von ihnen begegnen sollte. Er würde mich nicht erkennen. Zumindest nicht als Lykanthrop.

»Beeil dich«, ertönte es plötzlich in meinem Kopf, was mich aus irgendeinem Grund zusammenzucken ließ.

»Cole, ich warne dich, komm um die Ecke und ich bring dich um!«, rief ich und konnte mir Coles Wolfsgrinsen nur zu gut vorstellen.

Und dann schloss ich die Augen. Langsam erschien das Bild einer großen, schlanken Wölfin in meinem Kopf.

Eine Wärme, so sanft wie eine seichte Sommerbrise, breitete sich in meiner Brust aus, meine Fingerspitzen kribbelten und dann begann das Prickeln. In Sekundenschnelle breitete es sich in meinem Körper aus, ließ die kleinen Härchen auf meinem Arm sich aufstellen und zwang mich auf die Knie.

Tiefrotes Fell schoss aus jeder einzelnen Pore meines Körpers, meine Wirbelsäule krümmte sich, es knackte.

Und dann war es vorbei.

Ich schüttelte mich einmal und reckte den Kopf in die Höhe, um die Sommerluft tief einzuatmen.

Wie gewohnt schien jetzt alles viel deutlicher. Die Vögel waren lauter, die Luft roch klarer und ich konnte selbst Coles Herzschlag hören.

Widerwillig trottete ich wieder zu ihm.

Ein hellgrauer Wolf mit bernsteinfarbenen Augen und einem dämlichen Wolfsgrinsen wartete gelassen auf mich.

Eine weitere Sache, die mich als Rote gebrandmarkt hatte, waren meine Wolfsaugen. Sie waren blau. So blau wie früher, als ich noch nicht erblindet war - auch wenn mein linkes Auge trotzdem nicht mehr in der Lage war, etwas zu sehen.

Bis auf ein paar Ausnahmen (einschließlich der Alphafamilie) hatten sie alle bernsteinfarbene Augen.

»Na endlich.«

»Du bist die größte Nervensäge, die ich kenne, weißt du das, Lewis?«

Cole erhob sich und schnappte spielerisch nach meiner Schnauze.

»Und du bist die größte Nervensäge, die ich kenne, Rote.«

Ich verdrehte die Augen über diesen äußerst kreativen Konter. Er nannte mich oft Rote. Mir war es egal.

Mit meiner Pfote drückte ich seinen Kopf runter.

»Wie schön es ist, wenn du die Klappe hältst«, neckte ich ihn weiter, er schnappte nach meiner Pfote.

»Wie schön es sein wird, dich verlieren zu sehen«, meinte er patzig und dann rannte er einfach in Richtung Ostseite los.

Er wollte ein Wettrennen? Konnte er haben!

Keine Sekunde später preschte ich los, ihm dicht auf den Fersen.

Cole war ein guter Läufer, musste er ja, immerhin war er bei den Jägern. Er schlängelte sich geschickt zwischen den Tannen hindurch, doch auch ich war nicht umsonst bei den Novizen.

Ich gab zu, das Rennen war ein befreiendes Gefühl, wie der Wind an einem vorbei sauste und alles zu einem einzigen, bunten Gemisch aus Farben zerfloss, außer das Ziel, dass du vor Augen hast.

In meinem Fall Coles breiter Rücken.

Ich holte immer weiter auf, meine großen Pfoten donnerten über den Waldboden und ich heulte befreit auf.

Das hatte ich vermisst.

In letzter Zeit war Cole immer öfter bei den Jägern gewesen und unsere kleinen Wettrennen hatten mir gefehlt.

Die Ostseite kam immer näher, Eza hörte uns mit Sicherheit bereits.

»Zu langsam«, höhnte Cole in meinen Gedanken.

Na warte! Der hatte immerhin früher gestartet!

Ich fixierte seinen Rücken, ließ meine Beine immer schneller über den Boden trommeln, leckte mir über die Lefzen, das Ziel kam immer näher.

Und dann stieß ich mich ab.

Mit einem triumphierenden Jaulen landete ich auf seinem Rücken und wir krachten mit voller Wucht gemeinsam zu Boden.

»Runter von mir, Rote!«, lachte Cole

Ich knurrte.

»Klappe halten!«

Wie kleine Jungwölfe kugelten wir kabelnd über den Boden und jaulten und knurrten und heulten.

Ich schnappte nach ihm, er wich aus und versuchte nach meiner Schnauze zu beißen, ich war mir sicher, dass wir aus nichts weiterem als einem Knäuel aus rotem und grauem Fell bestanden.

»Na warte«, knurrte Cole.

»Schwach«, lachte ich.

»He!«

Wir beide zuckten zusammen und hörten mit unserem kindischen Gekämpfe auf.

Verdattert sahen wir beide hoch und erblickten Eza in Form einer hübschen, dunkelbraunen Wölfin, erstaunlich groß für ihr Alter.

»Was zur Hölle treibt ihr beiden Pfeifen da?«

Selbst in meinem Kopf konnte ich ihr Grinsen hören.

»Er hat angefangen!«

»Sie hat angefangen!«

Empört starrten wir beide uns an, bis Eza Cole mit der Vorderpfote in die Rippen trat.

»Au! Was soll das?!«

Nun sah er entrüstet zu Eza hinauf.

Es wirkte beinahe, als würde die Wölfin mit den Schultern zucken.

»Du hast es bestimmt verdient.«

Innerlich gluckste ich und funkelte Cole schelmisch an, der sich mürrisch aufrappelte, doch dann knuffte Eza auch mir in die Seite.

»Ey!«

»Und du auch!«

Dann grinste sie mich an, während Cole schmollend voraus trottete.

»Wollen wir los?«, fragte sie.

Innerlich seufzte ich auf.

»Hab ich denn eine Wahl?«

Bedauernd schüttelte sie den Kopf.

»Sorry Ary, da musst du durch.«

Und natürlich hatte sie recht.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top