4
10 Jahre später...
Murrend drehte ich mich in meinem Bett um und zog die graue Decke über meinen Kopf.
Es klopfte.
»Ary?«
Während sich Ylva noch die Mühe machte, vor der Tür stehen zu bleiben, kümmerte es Fenris kein Stück. Ohne zu zögern kam er in mein Zimmer gestürmt und zog mir die Decke weg, während Ylva die dunkelblauen Vorhänge zur Seite schob.
»He!«, beschwerte ich mich und rollte mich zusammen.
»Lasst mich in Ruhe, ihr Idioten«, nuschelte ich und während Ylva schnaubend die Hände in die Hüften stemmte, so wie Mum es auch immer tat, nahm mir Fenris auch noch das Kissen weg, mit dem ich - natürlich vergeblich - versucht hatte, mich zuzudecken und der Kälte der Frühe zu entkommen.
»Aufstehen du Schlafmütze! Heute ist doch dein großer Tag«, versuchte Ylva, mich zu motivieren.
Und als ich mich immer noch nicht regte, verdrehte sie genervt die Augen.
»Die Zeremonie, schon vergessen?«, pflichtete nun Fenris seinem Zwilling bei und das war der Moment, in dem ich hellwach wurde.
In schwindelerregender Geschwindigkeit schnellte ich hoch, woraufhin Fenris, der zuvor noch direkt an meinem Bett gestanden hatte, etwas zurücktaumelte.
Ohne meine Geschwister noch weiter zu beachten, sprang ich auf.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte ich entsetzt und hastete in meinem Zimmer umher, auf der Suche nach etwas zum Anziehen, während mich die beiden verdutzt beobachteten.
»Beruhig dich Liebling«, kam es plötzlich von meiner Zimmertür, die Fenris und Ylva aufgelassen hatten.
Ich hielt inne und starrte nun meine Mutter an, die breit grinsend da stand und mich beobachtete.
»Macht das ihr hier raus kommt, ihr beide müsst euch auch noch anziehen«, wies Mum meine Geschwister grinsend an, die sich daraufhin aus dem Staub machten.
Als Alphafamilie würden sie bei der Zeremonie ganz vorne stehen und den Sechzehnjährigen die Hand schütteln, wenn sie zugeteilt wurden und so weiter, und so weiter.
Zugegeben, ich war verdammt nervös, auf mich würde man immerhin ein besonderes Augenmerk legen. Und das nicht nur, weil ich eine Rote war.
»Hier«, sprach Mum plötzlich und holte mich aus meinen Tagträumen.
Ich zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete skeptisch das hellblaue Etwas in ihren Händen, das sie mir hinhielt.
»Was ist das?«
Mir schwante Übles, jetzt, wo Lumina so breit grinste.
»Dein Kleid!«, sagte sie begeistert, ich seufzte schwer.
Natürlich musste ich ein Kleid anziehen, war ja klar, dass sie eine einfache Bluse nicht durchgehen lassen würde. Ich hatte es trotzdem gehofft.
»Muss das sein?«, murmelte ich, während Mum das Kleid entzückt vor mich hielt.
Ein ärmelloses, knielanges Etwas, bestickt mit kleinen, perlmuttweißen Perlen. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie erinnerte es mich sofort an eine Meerjungfrau. Total albern.
»Ja, das muss sein!«, bestätigte meine Mutter.
Und so hatte ich also keine andere Wahl.
»Du wirst so hübsch darin aussehen!«, seufzte Lumina und fügte dann noch ein: »Ylva hat ihr Kleid geliebt«, hinzu, als sie meine bedröppelte Miene sah.
»Ja, aber Ylva ist ja auch...«, wollte ich ansetzen, Mum jedoch unterbrach mich.
»Komm Aruna, beeil dich jetzt, wir müssen gleich los!«, wies sie mich an und drückte mir dann das Kleid in die Hand, ehe ich auch nur noch irgendetwas sagen konnte.
Dann war sie verschwunden.
Seufzend streckte ich das Kleid von mir weg und betrachtete es wenig begeistert. Zweifellos hatten es die Näherinnen gemacht und ich war mir sicher, Lily würde es lieben. Vielleicht war es ja ganz hübsch, aber nichts für mich.
Bei Lily war ich mir immerhin zu hundert Prozent sicher, dass sie zu den Näherinnen kommen würde. Meinen besten Freund - Cole - hatte ich damit aufgezogen, dass er sie dort hin begleiten würde. Aber er wollte, genau wie Eza und ich, zu den Novizen.
Seufzend zog ich mir das Kleid über, würde ich noch länger trödeln, würde Mum mich mit Sicherheit umbringen.
Skeptisch stellte ich mich vor den großen Spiegel in meinem Zimmer und betrachtete mich. Vielleicht sah das Kleid wirklich nicht schlecht aus, ich fühlte mich trotzdem albern.
Die langen, dunkelroten Strähnen meines Haares hingen mir wie immer im Gesicht, ich pustete eine Strähne weg.
Und da war sie. Die Narbe von damals, quer über das Auge, das mit der Zeit komplett erblindet war. Nachdenklich legte ich den Kopf schief. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man es erkennen. Die Blindheit, meine ich. Die Farben in diesem Auge schienen blasser. Aber irgendwie machte es mir mittlerweile kaum mehr etwas aus, keine Ahnung wieso.
Ich meine, es war erblindet, da war ich gerade mal sechs Jahre alt. Ich hatte mich daran gewöhnt und aus einem wirklich seltsamen, seltsamen Grund, gefiel mir die Narbe. Irgendwie.
Ich meine, sie machte mich aus. Das war ich, genau so. Aruna, mit den Sommersprossen und den wirren Locken. Und der Narbe, dem blinden Auge.
Es war vollkommen normal geworden. Ich fühlte mich wie jeder andere Mensch auch und konnte mir kaum mehr vorstellen, wie es war, mit zwei Augen sehen zu können.
Gut, ich hatte gewisse Verhaltensmuster entwickelt, zum Beispiel, dass ich immer darauf achtete, auf der linken Seite einer Person zu laufen, damit mein gesundes Auge die Person ansehen konnte, aber ich tat es mittlerweile fast automatisch.
Es war keine Last für mich.
Plötzlich klopfte es und ich zuckte zusammen. Manchmal passierte es, dass ich mich, ohne es richtig zu merken, im Spiegel betrachtete. Minutenlang. Seit damals war es wohl irgendwie zu einer Angewohnheit geworden. Doch während ich damals immer nur die Narbe gesehen hatte, das blinde Auge, sah ich nun bloß mich.
Meine Mutter band mir das Haar zu einem hohen Zopf zusammen - fragt mich nicht, wie sie das bei den Locken geschafft hat - und zwang mir einen perlenbesetzten Haarreif auf, der beinahe aussah, wie eine kleine Krone (echt ätzend) und dann war ich so weit.
Gemeinsam mit Mum lief ich die Treppen hinunter zu unserem Flur, wo bereits der Rest meiner Familie wartete.
Während Dad einen dunklen Smoking trug, sahen Phelan und Lupa einfach zum Anbeißen aus.
Er trug einen zuckersüßen, weißen Anzug, bei dem ich mir ziemlich sicher war, dass er heute nicht weiß bleiben würde. Mum hatte versucht, ihm das dunkelbraune Haar ordentlich zurückzukämmen, doch es stand wirr von seinem Kopf ab, während seine grünen Augen unschuldig blinzelten.
Lupa hingegen trug ein rosa Kleidchen, ihre blonden Haare hatte Mum geflochten. Trotzdem konnte dieser engelhafte Anblick nicht täuschen.
Lupa war frech, sehr sogar, und gemeinsam mit Phelan, den sie voll und ganz unter Kontrolle hatte, brachte sie alle auf die Palme. Man erkannte es an dem kecken Funkeln in den rehbraunen Augen. Aber genau dafür liebte ich sie so sehr.
Auch jetzt grinste sie mich fröhlich an, wobei sich ihre Nase kräuselte.
Ylva sah wie gewohnt unglaublich hübsch aus in dem dunklen Kleid. Immerhin war sie eben Ylva. Und Fenris verdrehte ja sowieso allen Mädchen den Kopf. Da stach ich wohl ein bisschen hervor.
Es war nicht so, dass ich besonders hässlich war, ich war nur eben auch nicht eines dieser superschlanken Modelmädchen, wie es Ylva war.
Mein Haar war nicht so seidig und geordnet wie ihres, meist stand es in wirren Locken ab und meine Narbe hätten viele vielleicht für nicht wirklich schön gehalten.
Aber das war eben ich.
»Das ich dich noch mal so sehe«, scherzte Fenris, woraufhin Ylva ihm in die Seite knuffte und ihn warnend ansah.
Dann grinste sie mich breit an.
»Du siehst klasse aus«, versicherte sie, was mein Unbehagen allerdings nicht gerade besserte.
»Wir müssen los.«
Gemeinsam traten wir aus dem Alphahaus. Schon von weitem konnte ich das aufgeregte Geplapper der anderen hören.
Die sechzehnjährigen mussten sich zunächst noch vor dem Versammlungssaal treffen, bevor sie rein gingen.
Als sie meine Familie kommen sahen, wurden sie alle still. Wie immer hielt ich mich im Hintergrund, ich mochte diese Aufmerksamkeit nicht.
Hastig verabschiedete ich mich von meiner Familie und huschte dann zu den Sechzehnjährigen, auf der Suche nach Eza und Cole oder vielleicht Lily und Liam.
Ab und zu warfen die anderen mir Blicke zu, doch ich suchte unbeirrt weiter, an die Blicke hatte ich mich mittlerweile gewöhnt.
Der Platz vor dem Versammlungssaal war gerammelt voll und es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis ich Ezas Afro in der Menge erkannte.
»Eza!«, rief ich erleichtert und kämpfte mich zu ihr durch, hinter ihr blitzten Coles dunkelblaue Augen auf.
Freudig winkte ich ihnen zu und kam dann neben Eza zum Stehen. Mit hochgezogenen Augenbrauen musterten sie mich und ich verdrehte die Augen.
»Sagt nichts«, warnte ich und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich weiß, dass ich bescheuert aussehe.«
Sie grinsten dämlich.
Eza hatte es besser getroffen, als mich. Sie trug ein unauffälliges, dunkelrotes Kleid und von Cole mal ganz zu schweigen. Ich hätte jetzt auch lieber ein einfaches, weißes Hemd angezogen.
»Man könnte meinen, wir alle heiraten heute, so aufgeregt wie die sind«, meinte Eza, um ein anderes Thema einzuschlagen, ich schnaubte.
»Aber das ist fast genau so wichtig! Stell dir nur einmal vor, wir kommen zu den Novizen und dann könnten wir...«, plapperte ich aufgeregt drauf los, die beiden unterbrachen mich allerdings lachend.
»Gardisten werden«, grinsten sie unisono.
»Wir wissen, dass du dir dafür eine Hand abhacken würdest Ary«, grinste Cole, doch ehe ich sie anblaffen konnte, das ganze mal ernster zu nehmen, ertönte das Signal und die Sechzehnjährigen machten sich auf den Weg in die Halle.
Meine Aufregung stieg ins unermessliche, denn, auch wenn ich meinen Eltern gesagt hatte, dass ich gerne zu den Novizen würde, war das keine Garantie. Erstens war Mum - zumindest was mich anging - übervorsichtig, was unglaublich nervig war, und zweitens nahmen die Novizen - Alphatochter hin oder her - nur die Besten auf.
Immer wenn sie bei den Jungwölfen zugesehen hatten, hatte ich mich extra bemüht, war bis zur restlosen Erschöpfung gesprintet und hatte alles gegeben, damit sie mich bemerkten.
Doch hatte das gereicht?
Die Halle war erfüllt von hunderten Stimmen, das gesamte Rudel war anwesend, was mein Herz immer und immer schneller schlagen ließ. Ich war nicht mehr in der Lage, zu reden.
Ganz anders als Cole und Eza, die links und rechts von mir gingen und sich lachend über meinen Kopf hinweg unterhielten. Dass ich nicht ansprechbar war, interessierte sie kein Stück.
In der Mitte der Halle trennten Eza und ich uns dann von Cole und stellten uns in die Reihe der Mädchen.
Weiter vorne konnte ich Lilys zierliche Statur erkennen, doch darauf konnte ich mich nun nicht konzentrieren.
Mit bedächtigen Blick und gerunzelter Stirn stand Bane vor den zwei Schlangen, in seiner Hand ein Stück Pergament.
Ich glaubte, er konnte mich noch nie wirklich leiden, was mit Sicherheit etwas mit dem roten Mal zwischen meinen Schulterblättern zu tun hatte.
Ich schluckte.
Und dann wurde es mucksmäuschenstill.
Ich hörte kaum auf Banes Worte, meine Hände zitterten so sehr, dass ich sie vor dem Körper falten musste, ich bekam kaum noch Luft.
Und dann wurde der erste Junge aufgerufen.
Meine Ohren rauschten, aus irgendeinem Grund konnte ich nichts verstehen, bekam die Zeremonie kaum mit, alles drehte sich.
Noch nie in meinem Leben war ich so aufgeregt gewesen, für mich stand hier richtig viel auf dem Spiel. Denn jetzt - zum ersten Mal in meinem Leben - konnte ich mich wirklich beweisen. Zeigen, dass ich nicht nur die Rote war.
Nur am Rande bekam ich mit, wie Lily aufgerufen wurde, wie zu erwarten kam sie zu den Fabern, also auch zu den Nähern.
Liam wurde den Nutrix, den Ärzten, zugeteilt und dann erklang plötzlich Coles Name, der mich auf seltsame Weise wach rüttelte.
»Cole Lewis, Captator.«
Ich erstarrte.
Ezas entsetzter Blick traf meinen.
Kein Novize?! Ein Jäger?! Aber Cole musste einfach ein Novize sein! Er war immerhin Cole, der, der bei den Kämpfen der Jungen immer gewann! Sie mussten einen Fehler gemacht haben!
Wie in Trance sah ich zu, wie Cole mit steifem Schritt nach vorne trat und der Alphafamilie die Hand schüttelte, den Kopf leicht hinab beugte.
Er war sauer. Sehr sauer sogar. Unheimlich wütend. Ich sah es ihm an.
Auch wenn er es nie an die große Glocke gehängt hatte, wollte auch er unbedingt zu den Novizen. Wir alle hatten fest damit gerechnet.
Und vor lauter Schreck bekam ich fast nicht mit, wie mein Name aufgerufen wurde. Aber nur fast.
»Aruna, Tochter des Alpha...«
Bane stockte kurz, bevor er weiterlas. Als gefiele ihm nicht, was er da auf dem Pergament sah.
Meine Familie besaß so etwas wie einen Nachnamen übrigens nicht. Wir waren die Alphafamilie, mehr nicht. So einfach war das.
Ich hielt die Luft an, ballte die Hände zu Fäusten und spürte die brennenden Blicke des Rudels auf mir. Eza starrte Bane an, als wolle sie ihn warnen, nichts Falsches zu sagen.
Vielleicht war es egoistisch, dass Cole nun beinahe zur Nebensache wurde, aber ich konnte mir einfach nicht helfen. Beim besten Willen nicht.
Und gerade, als ich mir sicher war, mein Herz würde mir aus der Brust springen, ertönte Banes kalte Stimme.
»Novizen.«
Seine Stimme klang beinahe verbittert, doch ich atmete voller Erleichterung auf.
Sein Unmut war mir egal, sollte er doch schmollen.
Es war, als würde ein Stein von meinem Herzen fallen, meine Mundwinkel hoben sich fast von alleine.
Ja! Verdammt ja!
Ich war bei den Novizen! Sie hatten mich tatsächlich genommen!
Und bei jedem weiteren Schritt, den ich nach vorne machte, fühlte ich mich leichter und leichter, spürte Ezas Grinsen im Nacken und selbst Cole rang sich zu einem kleinen Lächeln durch.
Trotzdem sah ich seine Enttäuschung und ich nahm mir fest vor, mit meinen Eltern zu reden.
Bane sah mich nicht gerade begeistert an, doch als ich die Hand meines Vaters schüttelte, der mich stolz anlächelte, hätte ich vor Freude anfangen können zu heulen.
Ich konnte es nicht glauben.
Ich war nun offiziell und unwiderruflich bei den Novizen!
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