31
Stumm saß ich da.
Mein Blick war starr auf die blanke Wand des Raumes gerichtet. Ein Krankenzimmer.
Ich wusste nicht genau, welcher Tag heute war.
Bens Brust hob sich kaum.
Seit vier Tagen lag er im Koma. Werte sinkend. Kein Lebenszeichen.
Ich schluckte schwer, mein Körper schien nicht mehr genug Flüssigkeit zu besitzen, um zu weinen.
Ich wollte einfach nur, dass es aufhörte. Dieser unglaubliche, nagende Schmerz, das Gefühl versagt zu haben....
Ich wollte nicht mehr... ich konnte nicht mehr... ich konnte es nicht mehr ertragen...
Sonntag war ich in den Wald zurückgekehrt. Wie Alec es gesagt hatte. Die Polizei hatte mich gefunden, der Ausflug war lange abgebrochen.
Und da rann doch eine verräterische, kleine Träne meine Wange hinab.
Ich hatte... ich hatte ihnen sagen müssen, dass Ben... dass er... dass er in den Fluss gestürzt war und...
Ich schluchzte auf, mein Blick fiel auf Ben. Mein Ben... Ben...
Montag war ich nicht in der Schule gewesen. Ebenso wenig wie Dienstag. Oder Mittwoch.
Meine Lippen zitterten. Er war so blass...
Unsere Ärzte taten alles, aber... er... er wurde einfach immer schwächer.
Sie wussten nicht, was es für ein Wesen war, was ihn angegriffen hatte, ich selber trug immerhin immer noch diesen elendigen Verband um die Schulter, den ich, seitdem ich wieder aufgewacht war, besaß...
Aber Ben heilte nicht. Nicht so wie ich.
Seine Lippen hatten ihre Farbe verloren. Sein Gesicht wirkte fahl und eingefallen, sein Haar schien wirr.
Mein Ben... Er war doch... Er konnte doch nicht...
Ich hätte alles dafür gegeben, ein letztes Mal in diese treuen, braunen Augen zu schauen, zu sehen, wie sich seine Mundwinkel zu einem leichten Lächeln verzogen, zu sehen, wie er die Stirn krauszog, wie er sich über May ärgerte oder mich oder Wasserflaschen...
Ich brauchte seine Vorträge, seine Belehrungen, seinen Blick, wenn er etwas nicht verstand...
Dieses unverkennbare Lachen, seine Liebe zu Superman...
Einfach alles.
Ich erzitterte.
»Ben...«
Meine Stimme war nicht mehr als ein Wimmern.
Ich konnte nicht mehr.
Und seit die Polizei mich aus dem Wald gebracht hatte, Mum mich abgeholt hatte, hatte ich Ben nicht mehr verlassen. Ich würde es nie wieder tun...
Nie, nie wieder...
Das schwor ich mir... nie wieder...
»Ich lass dich nicht alleine, keine Angst«, hauchte ich, umklammerte seine Hand nur noch fester, die ich nicht mehr losließ.
Ich wollte ihm Wärme spenden, wenigstens das wollte ich tun...
Wenn ich doch sonst nichts konnte...
Zittrig ließ ich meinen Kopf auf seine Brust fallen, hielt für einen Moment die Luft an.
Da war er...
Mein Herz erzitterte in seinem Takt. Ganz schwach, man hörte es kaum, doch er existierte. Sein Herz schlug.
»Es tut mir leid«, wimmerte ich, nun kamen doch wieder die Tränen.
Und ich dachte, ich konnte nicht mehr weinen.
Wie ein kleines Kind kuschelte ich mich an Bens Brust - er würde mich dafür hassten - wollte mich an das letzte schwache Heben und Senken seines Körpers klammern.
»Ich wollte das nicht«, murmelte ich.
»Ich wollte das nicht Benny... bitte...«
Meine Stimme brach. Erstickte einfach.
Und ich hatte das Gefühl, sie nie wieder hören zu können. Ich ertrug mich nicht.
Er antwortete nicht. Natürlich nicht.
Er blieb stumm und kalt und regungslos.
Bitte Ben, ich brauch dich doch...
Ich schloss die Augen, meine Tränen benetzten sein Hemd und ich wünschte mir, Ben würde wo anders liegen.
Nicht in diesem elendigen, sterilen Krankenzimmer. Nicht hier und nicht so und nicht jetzt.
Ben hatte so viel mehr verdient... Er hatte alles verdient.
Ich würde ihm alles geben. Ich würde ihm alles geben, auch wenn das bedeuten würde, dass ich nichts hätte. Denn irgendwie stimmte das nicht. Ich hätte immerhin ihn. Den lieben, naiven Ben, der für mich da war ohne es wirklich zu bemerken, der mich aufbaute, ohne es wirklich zu merken, der einfach da war, aufrichtig und ehrlich und treu, ohne es zu merken.
Cole und Eza hatten es lange aufgegeben herzukommen. Ylva und Fenris auch.
Fenris war blass in letzter Zeit. Seit Ben verunglückt war.
Ich umklammerte Bens linke Hand mit meinen beiden Händen und war nicht gewillt sie loszulassen.
Er würde es schaffen... mein Ben würde es schaffen. Er war doch Ben... Er war stark...
Und selbst, als ich langsam wegdämmerte, zum ersten Mal seit Tagen schlief, ließ ich ihn nicht los.
Ich würde ihn nicht alleine lassen...
Und wenn er irgendwo da drinnen wach war, so war er nicht alleine. Ich war da... er musste keine Angst haben...
Ich würde ihn beschützen...
Keine Angst Benny, dir passiert nichts... ich bin da...
◊♠◊♠◊♠◊
»Sie schläft.«
Unwillkürlich klammerte ich mich fester an Bens Hand, brauchte etwas, um zu verstehen, dass Cole es war, der gesprochen hatte.
»Das ist doch gut, oder?«
Eza klang unsicher, beinahe ausgelaugt.
»Sie hat seit Tagen nicht mehr wirklich geschlafen.«
Cole seufzte.
»Ich wünschte, ich könnte ihr helfen... sie liebt diesen Jungen.«
Langsam lichtete sich der Nebel in meinem Kopf.
»Sie liebt ihn nicht... sie hat sich nicht auf ihn geprägt, das weißt du.«
Ich spürte, wie sie mich anstarrten.
Ich wollte nicht aufwachen...
Noch nicht...
Diese Realität... ich wollte sie nicht sehen.
»Doch«, antwortete dann plötzlich Cole.
»Sie liebt ihn, so wie sie Fenris liebt, oder Phelan und Lupa. Wie sie Ylva liebt, so liebt sie ihn.«
Ich klammerte mich noch fester an Bens Hand.
Cole hatte Recht. Ich liebte diesen Jungen... auf dieselbe Art, wie ich ihn und Eza und meine Geschwister liebte...
»Es ist schrecklich«, murmelte dann plötzlich Eza und auf einmal spürte ich, wie sie sich auf den Stuhl neben mir fallen ließ.
Im nächsten Moment legte sie behutsam eine Hand auf meinen Rücken, ihre Wärme wirkte augenblicklich beruhigend, sie strich sanft mein Haar zur Seite.
»Sie sollte so etwas nicht durch machen müssen... Sie geht daran kaputt, so war sie schon immer. Alle anderen waren wichtiger als sie selbst...«
Und dann... schluchzte Eza plötzlich.
Nie, niemals weinte Ezaly Kayn. Jetzt tat sie es. Sie weinte. Sie weinte um mich. Und um Ben.
Und plötzlich legte sich eine weitere Hand auf meinen Rücken, genau auf die Stelle, auf der auch ihre Hand lag. Cole umschloss sie.
»Sie ist aber auch stark, das weißt du Ez. Aruna schafft das.«
Und so saßen wir da, ich hielt Bens Hand umklammert, ihre Hände ruhten auf meinem Rücken sie schwiegen, nicht in dem Wissen, dass ich wach war.
Ich stärkte Ben, sie stärkten mich, gaben sich gegenseitig Kraft.
Und ich hatte absolut keine Ahnung, warum ich ihnen nicht gezeigt hatte, dass ich wach war.
Vielleicht hatte ich die Kraft dazu nicht gehabt, doch in diesem Moment war ich irgendwie unheimlich erleichtert, dass sie da waren...
Sie waren da und sie schenkten mir Kraft. Und wie immer wussten sie, wann ich sie brauchte...
Als die Tür erneut aufging, war ich beinahe wieder weggedämmert.
Eza und Cole fuhren hoch, ihre Hände rissen auseinander, ich zuckte zusammen.
»Eza? Cole?«
Lumina.
Die beiden standen auf, ich blinzelte, zittrig rappelte ich mich auf.
Sofort richteten sich drei überraschte Augenpaare auf mich, meine Augen fühlten sich gequollen an, ich war mir sicher, jegliche Farbe verloren zu haben.
»Aruna«, murmelte Cole leise.
»Mein Liebling«, seufzte Mum.
Ich spannte mich an.
Sie sollten mich gefälligst nicht so ansehen.
Ben war nicht tot! Er lebte! Sahen sie das etwa nicht?!
»Ben lebt.«
Meine Stimme war rau und kratzig, doch sie mussten das verstehen!
Sie sollten mich nicht so ansehen, als wäre er lange tot!
Mein Ben lebte!
Vorsichtig trat Mum auf mich zu, legte ihre Hand behutsam auf meine Wange.
»Ja mein Schatz, er lebt.«
Sie strich mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht, ich sah müde zu ihr hinauf.
»Eza, Cole, ihr solltet euch lieber fertig machen, die meisten machen sich schon auf den Weg zur Schule.«
Meine Freunde verstanden den Wink, ich wollte nicht, dass sie gingen.
Nicht sie auch noch...
Trotzdem sah ich stumm und mit trockener Kehle zu, wie sie das Krankenzimmer verließen.
Vorsichtig setzte sich Lumina neben mich, ich zitterte.
»Mum?«, krächzte ich, während ich Bens Hand weiterhin umklammert hielt.
Liebevoll strich sie mir über die Wange.
»Mein Engel?«, fragte sie so sanft, als würde sie mit einem kleinen Kind reden.
»Er wacht doch wieder auf, oder?«
Meine Stimme brach, für einen Moment bekam ich keine Luft mehr.
»Er wird wieder gesund... er wird doch wieder...«
Und dann konnte ich nicht mehr. Die Tränen kamen erneut, ich sackte gegen Lumina, die mich augenblicklich in ihre Arme schloss.
Und ich wünschte, wünschte von ganzem Herzen, bei allem was ich besaß, bei allem was ich liebte, dass ich dort liegen würde.
Nicht Ben. Nicht mein Ben.
»Schsch«, machte Mum und strich mir beruhigend über den Rücken, küsste meinen Scheitel.
»Nicht weinen mein Engel«, murmelte sie gegen mein Haar.
Ich erschauderte.
Wie konnte sie das sagen? Wie konnte sie das von mir verlangen? Immerhin war das doch Ben... mein Ben... er lag da... er starb.
Nein Aruna!
Er würde nicht sterben!
Hör auf so etwas zu denken!
Hör auf... hör auf... bitte...
Beruhigend hatte meine Mutter angefangen zu summen - ein Lied, das sie mir immer vorgesungen hatte, als ich früher schlecht geschlafen hatte, als ich von dem Gebissenen geträumt hatte, als er mich im Schlaf verfolgt hatte.
Das leichte Vibrieren ihrer Brust schien beinahe beruhigend.
Es lullte mich ein... gaukelte mir Sicherheit vor, während sie immer weiter über meinen Rücken strich.
Ich wusste nicht, wie lange wir so da saßen, doch irgendwann sah ich auf.
Es war, als verlangten diese Worte Auslass.
Ich sah meine Mutter an, sie lächelte beruhigend zu mir hinab.
»Er ist stark Mum«, murmelte ich, als müsse ich sie unbedingt davon überzeugen, mein Kopf brummte von dem ganzen Weinen.
»Ihr versteht das alle nicht, er ist stark... Ben schafft das... Er...«
Am Ende war meine Stimme nicht mehr als ein Hauchen.
Meine Mutter seufzte und legte ihre Stirn an meine.
»Ich weiß mein Schatz«, murmelte sie und schloss für den Moment ihre Augen.
»Ich weiß, dass er stark ist.«
Ich atmete tief aus, meine Augen fielen einfach zu.
»Mum?«
»Hm?«
»Ich vermisse ihn.«
Meine Stimme war nicht mehr als ein Hauchen und noch nie hatte ich mich selber so unglaublich schwach gehört.
»Ich vermisse ihn so sehr Mum...«
Meine Stimme brach. Ich weinte. Wieder.
Mein Ben... er... nicht er... bitte...
Lumina hielt mich noch fester.
»Ich weiß mein Engel... ich weiß...«
Ich schluchzte unterdrückt auf, alles in mir spannte sich an.
»Warum tut es so weh Mum? Warum tut es so unendlich weh?«
Und da erzitterte plötzlich mein gesamter Körper, ich klammerte mich an meine Mutter wie ein kleines Kind, brauchte einfach irgendjemanden, an dem ich mich festhalten konnte.
Wieder strich meine Mutter mir beruhigend über den Rücken.
»Man leidet immer mit denen, die man liebt...«, murmelte sie, ich schluchzte auf.
»Ich wollte nicht... es ist meine Schuld... ich hätte aufpassen müssen...«
Ich war vollkommen wirr im Kopf.
Eindringlich schüttelte meine Mutter den Kopf.
»Was hättest du den machen können? Es ist nicht deine Schuld, niemand hätte es verhindern können«, hauchte sie gegen mein Haar.
Und dann schluchzte ich nur noch, die Tränen schüttelten mich, meine Mutter hielt mich.
»Es soll aufhören«, wimmerte ich.
»Es soll endlich aufhören... bitte...«
Ich war ein Häufchen Elend. Nicht mehr. Ein erbärmliches Häufchen Elend.
Meine Mutter drückte mich nur noch enger an sich, ich schmiegte mich an sie wie eine Ertrinkende.
»Bald mein Engel... bald...«
Aber wann war dieses bald?
Hey. Sorry für dieses echt kurze Kapitel, aber ich musste heute so viel für die Schule machen, dass ich es einfach nicht mehr geschafft habe... Ich wollte trotzdem noch wenigstens irgendetwas hochladen, aber naja...
LG
Alou
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