23
Es war dunkel.
Okay, vielleicht war es normal, dass es dunkel war, wenn man die Augen geschlossen hatte.
Trotzdem fühlte ich mich irgendwie merkwürdig... schwer. Im nächsten Moment wurde mir klar, dass das an der großen Decke lag, die über mir ausgebreitet worden war.
Ich wollte mich bewegen, doch es gelang mir nicht.
Es tat weh... Gott, wieso tat es weh?!
Wo war ich? Was war passier? Und wieso pochte mein Kopf so sehr? Wieso schien jeder einzelne Teil meines Körpers zu brennen?! Immerhin war ich doch ein Lykanthrop...ich sollte doch nicht... aber warum tat es so weh?
Noch nie in meinem Leben, hatte ich gespürt, was Schmerz wirklich bedeutete. In diesem Moment schon.
Dann hörte ich plötzlich das Piepen. Ich wusste nicht, was es war. Aber es war nervig. Mein Kopf brummte sowieso schon genug - war das ein Verband?
Und dann bemerkte ich die Kabel. Waren das überhaupt Kabel? Ich hatte keine Ahnung, jedenfalls hingen sie an mir.
Und diese Vorstellung ekelte mich so sehr, dass mir schlecht wurde.
Okay nein, ich war mir ziemlich sicher, dass das nicht nur diese Vorstellung war.
Der beißende Geruch von Desinfektionsmittel stieg mir in die Nase, mein Magen drehte sich um, mir war so unendlich schlecht, dass es alles andere auszublenden schien.
Keuchend schoss ich hoch und würgte, das helle Licht blendete mich und auf einmal hielt mir jemand eine Schüssel hin.
Ich war nicht in der Lage, meine Umgebung wahrzunehmen, das einzige, was da war, war diese Übelkeit, die mir Tränen in die Augen trieb.
Es dürfte kein schöner Anblick sein, wie ich da saß und würgte und auch noch den letzten Rest meines Mageninhaltes loswurde.
Hätte ich mich selbst so gesehen, wäre ich vermutlich schnurstracks aus dem Zimmer rausgestürmt.
Erschöpft ließ ich meinen Kopf nach hinten fallen, der kalte Schweiß bedeckte meinen Körper, es piepte laut und nun spürte ich diese vermaledeiten Kabel klar und deutlich.
Und die Verbände.
Ich wollte meine Augen öffnen, doch ich drohte langsam wieder in die Lacken des Bettes hinabzurutschen, so viel Anstrengung hatte mich die Aktion von gerade gekostet.
»Du solltest langsam machen.«
Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich im nächsten Moment schmerzvoll aufkeuchte und das Piepen im Hintergrund einen wütenden Aufschrei tat.
Ich wusste nicht, woher ich diese Kraft nahm, doch ich riss meine Augen auf und da erblickte ich ihn.
Für einen Moment drehte sich der Raum um uns herum, alles schien zu verschwimmen, dann festigte sich mein Blick.
Sah er... erschöpft aus?
Vielleicht spielten mir meine Augen einen Streich, aber es wirkte, als lägen tiefe Schatten unter seinen Augen und selbst in der Dunkelheit schien sein Gesicht fahler. Das tiefschwarze Haar stand zu allen Seiten ab und er saß angespannt in dem Stuhl neben meinem Bett.
Alec.
Was machte er hier verdammt?
Und erst jetzt verstand ich, dass ich in einem Krankenhaus lag.
Es musste tiefste Nacht sein.
»Gut, dass du endlich wach bist«, redete der Ven dann plötzlich weiter, schien wohl bemerkt zu haben, dass ich nicht gerade in der Lage war, zu sprechen, zumal ein dutzend glühende Kohlen gegen meinen Schädel drückten und es hinter meinen Augen pochte.
Gut? Endlich?
Ich wusste nicht, welche Aussage mich mehr verwunderte, doch ehe ich etwas erwidern konnte, wurde mir mit einem Mal unglaublich schwindelig, meine Rippen schienen zu bersten - ernsthaft - und mein Schädel explodierte.
Keuchend sank ich in das Bett hinab und eine erneute Welle des Schmerzes überkam mich, ich kniff die Augen zusammen.
Dann hörte ich plötzlich ein Rascheln, während sich meine Hände in die Lacken gruben, um wenigstens irgendwo halt zu finden.
Und dann bewegte sich mein Bett plötzlich, bis ich halb saß, halb lag.
Zu meiner großen Erleichterung verschwand der Schwindel etwas, ich hustete.
»Warte«, murmelte Alec.
»Du solltest etwas trinken.«
Ich öffnete blinzelnd meine Augen, er hielt mir ein Glas mit Wasser hin.
Erst jetzt bemerkte ich, wie durstig ich eigentlich war, mein Hals schien vollkommen ausgetrocknet.
Ich wollte meine Arme heben, doch sie hörten aus irgendeinem Grund nicht auf meinen Befehl. Ich versuchte es. Und versuchte es. Und versuchte es. Und schließlich war ich so verzweifelt, dass mir die Tränen in den Augen standen.
Ich wusste, wie erbärmlich ich aussehen musste, aber in diesem Moment fühlte ich mich einfach nur... widerlich. Nicht in der Lage klar zu denken.
Alec seufzte, dann hielt er mir das Glas an die Lippen, ich fühlte mich wie ein dummes kleines Kind.
Trotzdem trank ich gierig und sobald die klare Flüssigkeit meine Kehle hinab ran klärte sich mein Kopf wieder etwas.
Seufzend schloss ich meine Augen, verdrängte die bohrenden Kopfschmerzen, während sich Alec wieder hinsetzte.
Ich holte tief Luft, sammelte meine rotierenden Gedanken und blinzelte den Ven dann wieder an.
Am liebsten wäre ich augenblicklich aufgesprungen, hätte mich in der nächsten Ecke des Zimmers verkrochen und ihn angefaucht, was zum Teufel er mitten in der Nacht in dem Zimmer machte, in dem ich ganz offensichtlich hier in diesem Krankenhaus lag.
Aber das ging aus vielerlei Gründen nicht, ich musste mich erst einmal beruhigen und wenn ich überhaupt irgendwelche Antworten bekommen wollte, wäre es wohl vorteilhaft, bei Bewusstsein zu bleiben.
»Was ist passiert?«
Ich wäre beinahe zusammengezuckt, so rau und kratzig und leise meine Stimme klang, doch ihm schien das nicht einmal wirklich aufzufallen.
Beinahe überrascht sah er mich an, fuhr sich durch das wüste Haar und ich war mir sicher, dass er das in den letzten Stunden oft getan hatte.
Wie lang er hier wohl schon saß? Und warum saß er hier überhaupt?
»Weißt du das denn nicht mehr?«, fragte er mit gesenkter Stimme und wäre er kein Ven, so hätte er mit Sicherheit besorgt geklungen.
Ich wollte den Kopf schütteln, allerdings ließ ich das dann doch lieber bleiben, angesichts des brodelnden Schmerzes, der in ihm aufkommen wollte.
Trotzdem schien Alec zu verstehen.
»Der Bus? Du bist nach der Schule eingestiegen und...«
Doch da kniff ich mit einem Mal die Augen zusammen, verzog mein Gesicht und plötzlich kamen all diese Bilder zurück.
Der tote Busfahrer... überall dieses Blut... das wahnsinnige Gegacker des Fahrers... North Carolina... und schließlich dieser unendliche Schmerz.
Und mit einem Mal krachten auch die Erinnerungen an ihn auf mich ein. Er hatte mich aus diesem brennenden Wrack gezogen, mich nicht losgelassen, bis der Krankenwagen da war und... warum?
Warum war er dort gewesen? Warum war er hier?
Alec wollte weiterreden, doch ich unterbrach ihn.
»Stopp...ich weiß...«, krächzte ich und zuckte bei dem Stich, der meinen Hals durchfuhr, zusammen.
»Ich bin im Krankenhaus?«, fragte ich weiter, ignorierte das Brennen meines Körpers.
Alec nickte.
»Ja. Die Ärzte sind sich ziemlich sicher, dass du ein medizinisches Wunder bist, so einen Unfall hättest du gar nicht überleben dürfen. Ich habe sie belauscht. Sie meinten, es gäbe kaum einen Knochen, der nicht gebrochen wäre, aber ich denke durch deine...Gene hast du das Gröbste überstanden.«
Ich musste mich mit voller Kraft auf irgendeinen Fleck im Raum konzentrieren (in diesem Fall Alecs Nasenspitze) um alles verstehen zu können, was er da erzählte.
Ich schluckte.
Ich hätte tot sein sollen...
Und im nächsten Moment wunderte ich mich.
Seit wann sagte er Gene? Und seit wann klang es so, als würde er mir im nächsten Moment nicht direkt den Kopf abreißen wollen? Höchstens den kleinen Finger. Vielleicht.
Jetzt musste ich mich allerdings zusammenreißen, denn ich hatte da noch so einige Fragen.
»Wie lange?«, fragte ich leise und im nächsten Moment musste ich anfangen zu husten, meine Brust schien zu explodieren.
»Etwa eineinhalb Wochen, schätze ich.«
Ich schluckte schwer und da kam mir plötzlich ein Gedanke, schoss durch mein Innerstes wie ein messerscharfer Pfeil.
Ben.
Cole.
Eza.
Ylva.
Fenris... alle.
Lupa und Phelan und Mum und Dad.
Wo waren sie? Hatten sie sich verraten, hatte Alec die ganze Zeit hier gesessen? Wusste er über sie Bescheid?
All diese Fragen wollten am liebsten einfach aus mir heraus platzen, doch ich zügelte mich mit aller Macht.
»Was machst du hier?«, krächzte ich stattdessen, vielleicht kam ich ja auf diesem Weg an Antworten.
»Keine Sorge, tagsüber sind sie da. Dieser Ben und der Blonde, die mit dem Afro, manchmal auch eine kleine braunhaarige - Lily glaube ich - und ein großer Rothaariger, hieß auch irgendetwas mit L. Dein großer Bruder und sein Zwilling - Ylva oder? Und deine kleinen Geschwister. Echt süß die Beiden, haben nur Unfug im Kopf. Und schließlich deine Eltern. Lumina und Tenebris, wenn ich mich nicht irre. Du bist ganz schön beliebt, weißt du? Ich komme nur nachts, wenn sie alle nach Hause gehen, um aufzupassen. Sind echt ziemlich erschöpft«, erzählte er so beiläufig, als würde er über das Wetter reden.
Nein.
Alles in mir erschlaffte. Mein Herz hörte auf zu schlagen, das Piepen klang eindringlich in meinen Ohren, ich hatte nicht mehr die Kraft, zu atmen, alles schien plötzlich... einzustürzen.
Die Decke war mindestens zwei Meter von mir entfernt und dennoch hatte ich das Gefühl, von ihr erdrückt zu werden.
Mein Puls fing an zu rasen, meine Kehle schien zugeschnürt, die kalte Erkenntnis traf mich.
Nein.
Er wusste es.
Nein.
Er wusste alles.
Mein Mund öffnete sich, ich versuchte Luft zu bekommen, mein Blick richtete sich starr gegen die Decke, alles drehte sich.
»Du weißt es.«
Meine Stimme war leise, nicht mehr als ein Hauchen, mehr eine Feststellung, als eine Frage.
Und ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich angefangen hatte, zu weinen.
Das war das Ende... er wusste es... er wusste alles.
Ich spürte seinen brennenden Blick auf mir.
»Ja.«
Er nickte.
»Ich weiß es. Ich weiß von dir und deinen Eltern und Geschwistern und dem Dorf in dem ihr lebt.«
Seine Stimme klang nicht kalt. Seine Stimme klang nicht wütend. Er klang nicht aufgebracht, nicht triumphierend.
Er wirkte vollkommen neutral.
Meine Unterlippe begann zu beben, ich wollte es mit aller Macht verhindern, doch der Kloß in meinem Hals schien zu erdrückend.
Jetzt war alles vorbei... mein ganzes kleines Kartenhaus stürzte in sich ein, vergrub mich unter sich und ließ mich nicht mehr auftauchen.
Und dann traf ich eine Entscheidung.
Vielleicht war sie mutig, vielleicht dumm, vielleicht naiv, doch es war meine Schuld. Meine eigene ganz alleinige.
Sie sollten nicht sterben. Ich würde es nicht zulassen. Niemals.
Langsam drehte ich meinen Kopf zu Alec, die Tränen vernebelten meine Sicht.
Es war einfach alles vorbei...
Ich konnte den Blick nicht deuten, mit dem er mich ansah, doch in dem Moment war er mir egal. Ich hatte nur diesen einen Gedanken, der sich beinahe schützend um mich legte.
Sie würden nicht sterben.
Ich öffnete meinen Mund, meine Lippen bebten, mein Herz setzte aus, alles in mir schrie laut auf, empört und wütend und verzweifelt.
»Bring mich um.«
Meine Stimme zitterte, meine Hände ballten sich zu Fäusten, mein Herz begann schmerzhaft zu pochen.
Es tut mir Leid...
Alec zuckte beinahe zurück, zog die Augenbrauen zusammen und diesmal erkannte ich die Verwirrung - vielleicht war es der Schock? - in seinem Gesicht.
»Was?«, fragte er, seine Stimme schien lauter als sonst.
Ich spürte, wie die warmen Tränen meine Wangen hinab liefen, die Schrammen auf meiner Haut brannten durch ihre Berührung.
»Bring mich um«, wiederholte ich, dieses Mal fester, doch trotzdem musste ich das Schluchzen unterdrücken.
Ich wollte nicht sterben. Eigentlich.
Doch noch bevor Alec weiter reden konnte, fuhr ich fort.
»Bei allem, was mir wichtig ist, bei allem, was ich liebe. Bring mich um. Hier und jetzt, wenn du willst. Folter mich. Aber...«, ich stockte, dieses mal schluchzte ich wirklich, doch der Gedanke an meine Familie, mein Rudel, die Leute die ich liebte, trieb mich an.
»Aber...«, ich stockte erneut, Alec sah mich vollkommen ungläubig an, jetzt konnte ich nicht mehr an mich halten.
Mein ganzer Stolz schien auf einmal zu verschwinden, ich weinte hemmungslos.
»Aber bitte, bitte tu ihnen nichts an...«
Ein heftiger Schluchzer schüttelte mich.
»Verrat sie nicht, lass sie leben, ich flehe dich an. Töte mich dafür, bring mich zu deinem Clan, erzähl ihnen von mir, aber...«
Ich musste erbärmlich aussehen.
Mein gesamter Körper erzitterte, meine Locken klebten Nass in meinem Gesicht, das Piepen wurde lauter.
Doch in diesem Moment konnte ich an nichts anderes denken, ich musste sie beschützen...
Ich musste doch... ich...
»Bitte...«, ich schluchzte auf.
»Lupa...Phelan...sie sind doch erst fünf Jahre alt... sie sind Kinder, bitte...«, meine Stimme brach, mein Mund öffnete sich, ich schnappte nach Luft, Alec sah mich völlig ungläubig an.
Verstand er denn nicht? Wieso tat er denn nichts? Er musste verstehen!
Oh Bitte, lass ihn verstehen!
Ich zitterte so sehr, dass ich mir sicher war, irgendwo musste irgendein Arzt mitbekommen, dass etwas nicht stimmte.
Trotzdem hörte ich nicht auf. Ich musste sie beschützen...
Meine Augen erfassten Alecs, er saß wie erstarrt da.
»Reiß mir die Kehle raus... brich mir das Genick... das Rückgrat... es ist mir egal... bitte... aber...«
Für einen Moment konnte ich nicht reden, zitterte so sehr, dass ich meine Zähne nicht auseinander bekam.
»Aber bitte, bitte lass meineFamilie am Leben... Ich flehe dich an, mit allem was ich habe... töte mich, aber...«
»Hör auf!«
Ich zuckte so heftig zusammen, dass das Gerät hinter meinem Bett wütend aufkreischte.
Meine Augen weiteten sich, als sich Alec vorbeugte, mir fest in die Augen sah.
Wollte er es jetzt tun? Würde es weh tun?
Ich hatte Angst. Ich konnte es nicht leugnen. Ich hatte Angst. Natürlich hatte ich Angst, Angst um mich, doch die Angst um meine Familie überwog alles. Würde immer alles überwiegen.
»Hör auf«, wiederholte Alec, leiser diesmal und gefasster.
Noch nie hatte ich seine grauen Augen so ernst gesehen.
Wollte er, dass ich die Klappe hielt, damit er es schneller hinter sich bringen konnte?
Ich versteifte mich. Ich wollte nicht sterben.
»Ich werde dich nicht töten«, erklärte Alec so unglaublich ruhig, als würde er mit einem kleinen Kind reden, dass er irgendwie zu beruhigen versuchte.
Heftig schüttelte ich den Kopf, alles drehte sich.
»Bitte«, hauchte ich.
»Nicht meine Familie...«
Noch nie hatte ich mich so erbärmlich angehört. Da war ich mir sicher.
Immer weiter schüttelte ich den Kopf, das Piepen wurde lauter und lauter und dann legte der Ven plötzlich die Hand auf meine Schulter, damit ich aufhörte, wie eine verrückte zu zucken.
Mit großen Augen starrte ich ihn an.
»Beruhig dich.«
Seine Stimme klang gefasst - er war gefasst.
»Ich werde weder dich töten, noch deine Familie.«
Mein Mund öffnete sich, ich starrte ihn mit großen Augen an, während er meine Schulter weiterhin umklammerte.
»Was?«, hauchte ich, einige seiner schwarzen Strähnen fielen ihm ins Gesicht, als er den Kopf hinabsenkte und die Augen schloss, als müsse er sich erst einmal wieder sammeln, als könne er selber nicht glauben, was er da tat.
»Ich werde niemanden umbringen. Und ich werde niemanden verraten. Ich habe niemanden verraten.«
Seine Stimme war so leise, dass ich sie beinahe nicht gehört hätte und als er die Augen öffnete, als er mich ansah, wusste ich, dass er die Wahrheit sagte.
Ich verstand es nicht. Ich verstand es einfach nicht und während ich einfach da lag und ihn anstarrte, weinte ich einfach ungehemmt weiter.
Ich wusste nicht einmal warum.
War es Erleichterung? War es Unglaube?
»Warum?«, hauchte ich.
Sein Blick huschte über mein Gesicht, als suche er dort die Antwort.
Dann seufzte er und lehnte sich langsam wieder zurück, was mich auf merkwürdige Weise erleichtert ausatmen ließ.
Er verschränkte die Arme vor der Brust, atmete dann tief ein.
»Wie ich bereits sagte, ich habe deine Familie gesehen. Ich habe sie gehört.«
Unwillkürlich versteifte ich mich wieder, so dass meine Rippen schmerzhaft aufbrannten. Doch Alec redete ungerührt weiter.
»Zuerst wollte ich etwas sagen. Ich wollte es wirklich tun.«
Er stockte. Ich hielt die Luft an.
»Aber dann habe ich mich an deine Wort erinnert. Ich habe deine kleinen Geschwister gesehen, wie sie dir jeden Tag Bilder gebracht haben, damit du wieder gesund wirst. Ich habe deine Mutter, gesehen, wie sie um dich geweint hat, ich habe deinen großen Bruder gehört, wie er an deinem Bett saß und dir von seinem Tag berichtet hat, ich habe Ylva gesehen, wie sie deinen kleinen Bruder im Arm gehalten hat und ihm versprochen hat, dass du bald wieder aufwachen würdest, während er geweint hat. Ich habe Lily gesehen, wie sie beinahe vor der Tür deines Zimmers zusammengebrochen wäre, habe deinen Vater gesehen, wie er sie aufgefangen hat. Wie er alle aufgefangen hat. Ich habe deine Freunde gesehen - Cole und Eza - wie sie dir keine Sekunde von der Seite weichen wollten. Und da habe ich verstanden, was du einmal zu mir gesagt hast. Es gibt Unterschiede. Es gibt die Guten und es gibt die Bösen. Und ich habe verstanden, was du damals sagtest. Wir beide sind Monster und erst da wurde mir richtig klar, dass du Recht hattest. Denn, das einzige was ich gesehen habe, war eine Familie, die um eine geliebte Person trauerte und jeden einzelnen Tag betete, dass sie aufwacht. Keine Bestien. Keine Monster. Und ich wusste, würde ich sie - euch - verraten, wäre ich das Monster für das du mich hältst. Du und dein Rudel, euer einziges Verbrechen sind eure Gene, ich weiß was ihr tut, ich weiß, dass ihr die Inbecs beschützt. Ich habe es gehört. Und ich wollte ihr Blut nicht an meinen Fingern kleben haben.«
Ich war sprachlos.
Ehrlich und wirklich und vollkommen sprachlos.
Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich aufgehört hatte zu atmen.
Alec saß da, die Augen starr auf mich gerichtet, die Stirn in tiefe Furchen gelegt.
Und mir war klar - ich wusste - soeben war es so ehrlich zu mir, wie er es nie vorgehabt hatte. Soeben hatte er mir etwas offenbart, was er nie wollte.
Und trotzdem hatte er es getan.
Ich wusste nicht, woher es kam, aber ein merkwürdiges, prickelndes Gefühl machte sich auf meinem Körper breit, ich erschauderte, mein Herz raste und er... er wirkte beinahe unsicher, als hätte er Angst, wie ich reagieren würde.
Ich schluckte - wieso verdammt musste ich denn auch die ganze Zeit heulen? - und für einen Moment vergaß ich sogar meinen Schmerz.
Da war nur er, der Ven mit den stahlgrauen Augen.
»Nein«, antwortete ich schließlich leise.
Alec zog die Augenbrauen zusammen.
»Was?«, fragte er verwirrt.
»Nein«, wiederholte ich mich.
»Du bist kein Monster.«
Alec erstarrte.
»Ich habe mich geirrt.«
Und ich meinte jedes einzelne Wort, wie ich es sagte. Jedes einzelne.
Alec senkte seinen Blick, lachte humorlos auf.
»Da haben wir uns wohl beide geirrt, Emma.«
Ich konnte nicht anders, als meine Augen zu verdrehen und in diesem Moment packte mich unendliche Erleichterung.
Ich konnte es nicht fassen... Ich fasste es einfach nicht.
»Nenn mich nicht so«, murmelte ich leise, viel zu erschöpft, um wirklich wütend zu sein.
»Aber denk jetzt bloß nichts falsches von mir. Das heißt nicht, dass ich nicht trotzdem bereit wäre, etwas zu tun, wenn ihr euch etwas zu Schulden kommen lasst.«
Und dieses Mal lachte ich tatsächlich leise auf. Auch dieser Satz kam mir furchtbar bekannt vor.
Verwirrt sah Alec auf.
»Ich hätte nichts anderes erwartet«, erwiderte ich und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich beinahe versucht gewesen, zu glauben, dass sich seine Mundwinkel für den Bruchteil einer Sekunde hoben.
»Du solltest jetzt lieber noch etwas schlafen. Jetzt wo du wach bist, bin ich mir sicher, dass die Heilung schnell voranschreiten wird. In ein paar Tagen bist du draußen. Dein Freund Ben kommt morgens übrigens immer als erstes, ich glaube er war seit dem Unfall nicht mehr in der Schule.«
Er erhob sich, doch da fiel mir etwas ein.
Ich streckte die Hand aus, bekam ihn bei seiner Jacke zu packen und war im nächsten Moment überrascht über mich selbst.
»Warte«, keuchte ich, allein diese kleine Bewegung schien mir alles abzuverlangen.
Er erstarrte, ich spürte förmlich, wie er sich anspannte. Trotzdem riss er sich nicht los.
»Was meintest du mit: du kommst nur nachts, um aufzupassen? Warum aufpassen?«, fragte ich, seine Miene verhärtete sich.
Und da ließ er sich tatsächlich wieder in den Stuhl fallen.
Erwartungsvoll sah ich ihn an.
»Als du in den Bus gestiegen bist. Ich habe den Fahrer gesehen. Ich weiß nicht... er hatte diese Ausstrahlung. Etwas Böses. Nur deshalb bin ich deinem Bus gefolgt. Hätte ich es nicht getan, ich weiß nicht wie es jetzt aussehen würde...«, er stockte, fing sich aber schnell wieder.
»Das war kein normaler Mensch, da bin ich mir sicher. Und ich hatte die Befürchtung, es würden mehr von seiner Sorte kommen.«
Bei dem Gedanken an dieses... Wesen wurde mir schlecht.
Ich nickte.
»Ich weiß. Er hat den Busfahrer getötet und... die ganze Zeit wirres Zeug geschrien... und...«
Meine Stimme brach.
Ich wusste nicht einmal, warum ich ihm das alles anvertraute.
Vielleicht, weil er Minuten zuvor so ehrlich zu mir gewesen war, wie es selten geschah.
»Was hat er gesagt?«, fragte Alec interessiert.
Ich runzelte die Stirn und versuchte mir seine Worte ins Gedächtnis zu rufen.
»Die meiste Zeit hat er nur vollkommen wahnsinnig rumgeschrien, Sachen gesagt wie: Bye Bye kleines Vögelchen oder so...«
Ich stockte.
»Aber da war was. Kur vor dem Aufprall. North Carolina. Er hat immer wieder North Carolina geschrien.«
Die Stimme des Fahrers hallte in meinem Kopf wieder, das unmenschliche Kreischen.
Alec nickte.
»Ich werde mal sehen, was ich herausfinden kann.«
Einen Moment war es still.
Keine unangenehme Stille, einfach eine Stille, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachhing.
Dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.
»Ist er... also der Fahrer... ist er tot?«
Hoffnungsvoll sah ich Alec an - sollte ich mich jetzt grausam fühlen? - doch der zuckte beinahe bedauernd mit den Schultern.
»Man hat nur die Leiche des echten Busfahrers gefunden, schwer zugerichtet, quasi komplett verbrannt.«
Ich seufzte schwer und sank tief in meine Kissen.
»Was war das für ein Wesen?«, fragte ich leise.
Wieder zuckte Alec mit den Schultern.
»Ich weiß es nicht. Am besten wäre es, wenn du versuchst, mehr bei deinem Rudel heraus zu finden. Ich mache meine Nachforschungen. Dem sollten wir auf jeden Fall nachgehen, denn das was passiert ist darf auf keinen Fall noch einmal vorkommen.«
Es war komisch. Komplett banal. Vollkommen makaber.
Denn auf einmal hieß es wir.
Aber Alec hatte Recht, je mehr wir heraus finden konnten, desto besser, denn dieses Wesen... es bedeutete Gefahr.
Und da man ein Rudel voller Lykanthropen und ein Clan Ven wohl kaum dazu bringen konnte, zusammenzuarbeiten - ihre Informationen zu teilen - hing es wohl oder übel an uns...
Egal wie komisch das klang.
Dieses Mal erhob sich Alec endgültig und während er auf die Tür zusteuerte starrte ich auf merkwürdige Weise komplett zerstreut gegen seinen Rücken.
Kurz bevor er die Klinke hinunter drücken konnte, hielt ich ihn ein letztes Mal auf.
»Alec.«
Er drehte sich um, sah mich fragend an.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, atmete tief durch.
»Danke.«
Ich stockte.
»Für alles.«
Alecs Miene regte sich nicht, er starrte mich weiterhin vollkommen... neutral - regungslos - an.
Und dann nickte er.
Im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Ich seufzte schwer, mein Blick glitt an die Decke.
In was war ich hier nur herein geraten...?
Verbündet mit einem Ven...
Naja, konnte man das denn überhaupt verbündet nennen?
Ich wusste es nicht, aber immerhin hatten wir jetzt endgültig geklärt, dass wir uns nicht gegenseitig umbringen würden.
Wir waren keine Freunde, wir waren quasi Fremde, aber trotzdem...
Das war zumindest etwas, ein kleiner Schritt.
Denn nun waren wir keine Feinde mehr. Zumindest nicht wirklich.
Ich meine, von mir aus konnte er mich weiterhin nicht leiden, aber er wollte weder mich noch meine Familie umbringen und das war in diesem Moment alles was zählte.
Ich verzog das Gesicht, als sich der Schmerz langsam wieder bemerkbar machte und kniff die Augen zusammen.
Und er hatte mich gerettet...
Seufzend versuchte ich, mich wenigstens etwas gemütlicher hinzulegen, das Piepen des Gerätes hatte sich lange wieder beruhigt.
Und in diesem Moment gesellte sich eine weitere Frage zu meinen restlichen, als hätte ich nicht sowieso schon genug.
Was war dieser Fahrer, dieses Wesen?
Und warum hatte es versucht, mich umzubringen?
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