12

Als Ben bemerkte, dass ich ihm nicht mehr folgte, hatte er bereits die Hälfte des Klassenzimmers durchquert.

Verwirrt drehte er sich zu mir um, während ich wie erstarrt da stand.

Und dann sah Alec plötzlich auf. Als sein Blick meinen traf, zuckte ich beinahe zusammen.

Zum Glück wirkte ich hier gerade nicht wie ein bescheuerter Stalker oder so...

Okay, reiß dich zusammen... alles ist gut... er wird dich nicht umbringen.

Trotzdem schluckte ich schwer, als die Erkenntnis in sein Gesicht traf. Die wissende Überlegenheit.

Arschloch...

Als ich meinen Blick immer noch nicht von ihm abwandt, hob er eine Braue und als Mik dann auch noch verwirrt zu mir blickte, zuckte ich beinahe zusammen.

Okay... Unauffällig verhalten... Das durfte ja wohl nicht so schwer sein...

Okay, doch. Wem machte ich hier etwas vor? Das war schwer. Zumindest für mich.

»Kommst du?«, fragte Ben und riss mich somit aus meinen Gedanken.

Kurz schüttelte ich meinen Kopf, um wieder klar denken zu können und versuchte die beiden Ven, die mich nun beobachteten, zu ignorieren.

Toll.

Das mit dem Unauffällig hatte auf jeden Fall geklappt. Das musste ein Rekord sein. Wie lange hatte ich es geschafft? Eine Sekunde?

Hastig kam ich wieder in Bewegung und huschte an Bens Seite.

»Lass uns nach da hinten setzten«, murmelte ich ihm zu und deutete mit meinem Kinn an den hintersten Platz an der Wand, versuchte irgendwie, möglichst neutral auszusehen.

Gelang mir wohl eher semi-gut, denn jetzt runzelte Ben die Stirn.

»Aber wir sitzen doch immer...«

Er stockte. Sein Blick war zu unserem Platz gewandert und nun erkannte er das Problem.

Zu meiner Erleichterung waren Mik und Alec wieder dazu übergegangen, weiter leise miteinander zu sprechen. Erst jetzt bemerkte ich, wie sie von allen beobachtet wurden.

Die Mädchen tuschelten. Ich verdrehte die Augen. Das war ja wohl nicht deren ernst? Okay, vielleicht sahen die beiden ganz gut aus und hatten diese gewisse Ausstrahlung, aber sie waren eben... Ven.

Im nächsten Moment seufzte ich auf. Gut, das konnten sie nicht wissen, aber trotzdem...

Ben runzelte die Stirn, sah erst die beiden Jungen und dann mich an.

Ich erkannte den Zwiespalt in seinen Augen. Einerseits, würde es sein System durcheinander bringen, wenn wir nicht auf unseren eigentlichen Plätzen saßen (normalerweise blieben die nämlich immer frei, weil keiner Lust hatte, mit Ben zu diskutieren) und das bedeutete puren Stress für ihn, andrerseits wusste er um meine Situation mit den beiden.

Naja, oder zumindest glaubte er es zu wissen.

Flehentlich sah ich ihn an, Bens Hände begannen zu zittern. Er bekam Stress. Oh nein...

»Bitte«, formte ich mit meine Mund.

Ben schürzte die Lippen.

»Und wenn ich alleine hingehe und frage?«, flüsterte er, zweifelnd, ob das wirklich das richtige Ergebnis war.

Vehement schüttelte ich den Kopf.

»Geht nicht.«

»Eigentlich geht das schon, rein physikalisch betrachtet...«

Auf meinen harschen Blick verstummte er.

Er seufzte, seine Schultern sackten hinab.

»Ich weiß echt nicht, warum ich mich auf das hier einlasse.«

Zur verdeutlichung deutete er ausladend in den Raum hinein. Und dann marschierte er hoch erhobenen Hauptes auf den Platz an der Wand zu.

Ich wusste es auch nicht. Warum er sich auf diese ganze Sache einließ, meine ich. Aber ich war froh drum. Ehrlich.

Erleichtert folgte ich ihm und nahm es sogar hin, am Gang sitzen zu müssen.

Ben schaute auf seine Uhr.

»Wir haben noch zwanzig Minuten Pause«, erklärte er und bewegte seine Lippen, während er die Sekunden zählte, voller Konzentration blickte er auf das silberne Ding hinab.

Aus irgendeinem Grund musste ich bei diesem Anblick grinsen. Die Tatsache, dass mich Alec und Mik nun wieder vollkommen ignorierten, ließ mich etwas entspannen.

»Was glaubst du, machen wir heute?«, fragte ich, während ich meine Lunchbox rauskramte, die Fenris mir gemacht hatte. Da war ich ja jetzt mal gespannt...

Ben zuckte mit den Schultern.

»Malen«, meinte er trocken, als sich plötzlich ein großgewachsenes, blondhaariges Mädchen zu uns umdrehte. Skeptisch musterten ihre braunen Augen uns.

»Der richtige Ausdruck lautet zeichnen.«

Verdattert sahen wir sie an, ich hielt in meinem Vorhaben inne, die Brotdose zu öffnen.

Mit einem abschätzigen Gesichtsausdruck drehte sie sich wieder um und dann hörte ich es plötzlich leise lachen. So leise, dass ich es nur mit meinem Lykanthropengehör hören konnte.

Verwirrt sah ich mich um, dann erfasste ich seinen Blick. Sobald er bemerkte, dass ich in ansah, hörte er auf zu lachen und drehte sich hastig mit finsterer Miene wieder um.

So ein Idiot...

Hatte er grad tatsächlich gelacht? Über mich?

»Schräg«, kommentierte Ben und musterte den Rücken des Mädchens.

Da konnte ich ihm nur zustimmen.

So ein Klugscheißer. Oder Klugscheißerin? Keine Ahnung.

»Ich hab keine Lust«, quengelte Ben, während ich meine Lunchbox öffnete.

Ich verdrehte die Augen, konnte mir ein Grinsen aber nicht verkneifen. Fenris hatte sogar die Rinde des Erdnussbuttermarmeladensandwich abgeschnitten.

So hatte ich es früher immer gegessen. Und auch nur SO.

»Irgh«, beschwerte sich Ben und hielt sich die Nase zu.

»Ich verstehe nicht, wie jemand Erdnussbutter mögen kann... Also klar, ich weiß, dass die Geschmacksinne verschieden reagieren, aber...«

Und ab da schaltete ich ab.

Ben hielt oft und gerne Vorträge und mit der Zeit hatte ich gelernt, sie zu ignorieren. Sonst wäre mein Kopf vor lauter Informationen mit Sicherheit schon geplatzt.

Zufrieden mampfte ich mein Brot und blickte mich gedankenverloren im Klassenraum um.

Naja, auch wenn meine Augen einen riesigen Bogen um zwei gewisse Personen machten. Wieder stellte ich mir die Frage, warum der Raum 628b hieß, jetzt, wo ich ihn genauer betrachtete.

Eigentlich nichts Besonderes. Das Lehrerpult, die Tafel, die Tische der Schüler...

»Warum eigentlich b?«, schmatzte ich, woraufhin Ben das Gesicht verzog.

»Hä?«, machte er und schüttelte dann seinen Kopf.

»Man spricht nicht mit vollem Mund, weißt du das? Das ist widerlich.«

Schulterzuckend schluckte ich den letzten Bissen hinab.

»Der Raum meine ich. Warum heißt er 628b? Ich habe keine anderen Räume gesehen, die einen Buchstaben hinter der Zahl hatten.«

Ehrliche Überraschung trat in Bens Gesicht, er runzelte die Stirn. Perplex hob ich meine Augenbrauen. Er wusste es nicht.

Benvenuto De Angelis wusste etwas nicht. Dass ich das noch einmal erleben durfte...

Nun stahl sich Frustration in sein Gesicht. Es wurmte ihn, dass sah ich ganz genau.

»Ich...«, wollte er ansetzen.

»Vielleicht...«, er unterbrach sich.

Ben hatte absolut keine Ahnung.

Gerade, als ich ihn damit aufziehen wollte, schlug die Tür plötzlich auf. Ich zuckte zusammen, wie nicht wenig andere und starrte dann überrascht nach vorne.

Die Lehrerin kannte ich noch nicht. Die anderen offenbar auch nicht.

Sie war jung. Mitte zwanzig. Das glänzende, braune Haar hatte sie zu einem festen Knoten gebunden, der Hosenanzug schien makellos, ebenso wie die dunkle Aktentasche.

Sie wirkte mal so gar nicht, wie eine Kunstlehrerin. Zumindest nicht so, wie ich mir eine Kunstlehrerin vorgestellt hatte.

Und trotzdem funkelten ihre braunen Augen in dieser gewissen, freundlichen Art. Sie musste bestimmt nicht einmal lächeln, um Herzen für sich zu gewinnen.

Kurz um, sie faszinierte mich. Irgendwie. Keine Ahnung, warum.

Und das war auch der Grund, warum ich sie gebannt ansah, diesmal mit ehrlicher Neugierde. Ich bemerkte, dass es nicht wenigen anderen genau so ging.

Naja, ausgenommen Ben. Der blickte mich verwirrt an.

Und Alec. Der runzelte die Stirn.

Alle Anderen schienen der Frau zu verfallen. Mich eingeschlossen.

Sie lächelte. Ein Lächeln das einen umwerfen konnte.

Gott, was war denn auf einmal mit mir los?

Trotzdem schaffte ich es nicht, meinen Blick abzuwenden.

»Guten Tag. Mein Name ist Ms. McClair, ich werde das Kunstprojekt an dieser Schule leiten.«

Ich wusste nicht was sie an sich hatte, oder wie sie das machte, aber aus irgendeinem Grund hing ich ihr voll und ganz an den Lippen.

Beinahe gruselig...

Meine Bedenken wurden allerdings im Keim erstickt, als sie weiter sprach (naja, eigentlich wurden sie so einfach unterbrochen, aber egal...)

»Gut, zunächst werde ich die Namensliste durchgehen.«

Ich stockte.

Oh nein. Nein verdammt!

Ich war mir sicher, dass ich bleich wie ein Gespenst wurde.

Alec würde es erfahren. Naja, er ahnte es, das wusste ich, aber...

Unbarmherzig begann Ms. McClair vorzulesen.

Alice Johnson.

Jack Down.

Nora Clark.

Nacheinander hoben sie ihre Hände.

Und dann ertönte plötzlich sein Name, der mich unwillkürlich zusammenzucken ließ

»Alec Venatores... Mik Venatores.«

Mein Mund klappte auf.

Ernsthaft? Ich meine jetzt im Ernst? Sie nannten sich wirklich, wirklich Venatores?

Ich wusste nicht, wieso diese Erkenntnis mich so schockte. Echt nicht, aber...

»Aruna Davis.«

Ich schluckte schwer, Ben sah mich fragend an, während sich die Lehrerin suchend umsah.

Ich konnte es ja doch nicht verhindern...

Zittrig hob sich meine Hand, sie hakte meinen Namen ab.

Ich spürte Alecs Blick nur all zu deutlich auf mir, den Triumph darin.

So gut ich konnte, versuchte ich ihn zu verdrängen und starrte den Rest der Auflistung mucksmäuschenstill an die Tafel.

Als Ms. McClair geendet hatte, räusperte sie sich.

»Wie ihr mit Sicherheit wisst, handelt es sich um ein Projekt, das sich vor allem mit dem Wald beschäftigt. Daher werden wir die wöchentlichen Treffen auch im Wald abhalten. Wir treffen uns an der Sporthalle und werden dann gemeinsam in den Wald hinter ihr gehen. Am Ende des Monats findet eine dreitägige Exkursion statt, in der wir im Wald zelten werden.«

Mit einem Mal ratterte sie den Plan hinunter und während sich aufgeregtes Getuschel breit machte, stockte ich.

Ein Zeltlager? Drei Tage im Wald? Mit zwei Ven im Gepäck?! Ich widerstand der Versuchung, meinen Kopf mit voller Wucht auf die Tischplatte zu donnern. Ehrlich.

Gott, wie sollte ich das aushalten? Das würde Stress pur bedeuten, immer ein Auge auf diese beiden Idioten zu haben...

Trotzdem hörte ich beinahe von automatisch zu, wie die Frau weiter redete, dass man nur so überzeugende Zeichnungen von Wäldern und Tieren hinbekommen würde. Wenn man sie auch wirklich bildlich vor sich hatte, meinte sie.

Und dafür wäre so ein Ausflug geradezu perfekt. Das bezweifelte ich zwar, aber immerhin hatte sie auch keine zwei Kerle im Nacken, die sie alleine mit einer Berührung umbringen konnten...

Ms. McClair begann, Blätter und Kohlestifte zu verteilen.

»Damit ich sehe, was ihr bereits könnt, und wo ich ansetzen muss, möchte ich euch bitten etwas zu zeichnen. Aber nicht einfach irgendetwas. Es muss euch etwas bedeuten, ihr müsst direkte Gefühle damit verbinden. Liebe, Hass, völlig egal.«

Sie legte dem Mädchen vor mir ein Blatt hin und hob dann den Zeigefinger ihrer rechten Hand.

»Denn nur so kann eure Zeichnung wirklich Leben bekommen«, erklärte sie beinahe belehrend.

Ben verzog missmutig das Gesicht, während es in meinem Kopf zu rattern begann. Was konnte ich zeichnen?

»Ich weiß nicht, was mir etwas bedeutet«, meinte Ben ehrlich nachdenklich neben mir und ich sah ihn bereits neckisch grinsend an, wollte etwas erwidern, als mir jemand zuvor kam.

Ms. McClair stand nun genau vor uns.

»Nicht?«, fragte sie überrascht und Ben wurde blass.

Die ganze Klasse hörte zu.

Dann traf mich plötzlich der Blick der Lehrerin. Sie musterte mich und schien über irgendetwas nachzudenken. Ein merkwürdiger Ausdruck trat in ihr Gesicht.

Aus irgendeinem Grund hielt ich den Atem an. Was war denn jetzt los?

Dann sah sie plötzlich wieder zu Ben. Und dann zu mir. Und dann zu Ben.

Ohoh.

Schließlich nickte sie mit dem Kinn in meine Richtung.

»Deine Freundin?«, fragte sie nachdenklich.

Ich hätte mich beinahe an meiner eigenen Spucke verschluckt.

»Nein!«, rief ich hastig.

»Ja...?«, erwiderte Ben unsicher.

Die Klasse lachte, Ms. McClair schmunzelte. Ich lief Puterot an. Ben sah verwirrt zu mir.

»Aber du bist doch meine Freundin«, nuschelte er verwirrt.

Das Gelächter wurde immer lauter. Ich war mir sicher, dass man auf meinem Gesicht hätte Spiegeleier braten konnten. Ich konnte das Blut in meinen Ohren rauschen hören.

»Ja«, meinte ich leise und versuchte Ben zu verstehen zu geben, dass er ja die Klappe halten sollte.

»Aber sie meinte Beziehung - Freundin.«

Zugegeben, meine Stimme klang wohl etwas zu scharf, als nötig gewesen wäre, was mir im Nachhinein leid tat.

Nun trat das Verstehen in Bens Gesicht.

»Oh«, murmelte er.

Am liebsten hätte ich mir die Hände vors Gesicht geschlagen. Oder wäre einfach im Boden versunken.

Ms. McClair schmunzelte immer noch, entschied sich allerdings dazu, uns, oder besser gesagt mich, aus der Situation zu erlösen.

Ben schien nicht ganz zu verstehen, warum sie alle lachten.

Warmherzig sah sie mich an, wandt sich dann an Ben.

»Naja, du kannst trotzdem versuchen, sie zu zeichnen. Freundschaft verbindet man auch mit gewissen Gefühlen«, erklärte sie und bemühte sich, so leise zu sprechen, dass nur Ben es hören konnte.

Sie konnte nicht wissen, dass mein Gehör ihr da einen Strich durch die Rechnung machte.

Oder Miks.

Oder Alecs.

Ich spürte seinen brennenden Blick auf mir.

Gott, konnte der sich bitte einfach wieder umdrehen? Langsam hielt ich sein Gestarre echt nicht mehr aus...

Wo war bitte das Loch im Boden, in dem man versinken konnte, wenn man es brauchte?

Ben nickte und als Ms. McClair sich endlich mir widmete, war ich mir sicher, dass mein Kopf immer noch glühte.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie lächelnd.

Wortlos nickte ich.

Sie schenkte mir ein weiteres, warmherziges Schmunzeln, dann teilte sie mir die Materialien aus.

»Na dann viel Spaß.«

»Danke«, nuschelte ich und starrte dann auf mein Blatt.

Und plötzlich wurde mir klar, dass ich ebenfalls keine Ahnung hatte, was ich zeichnen konnte.

»Am Ende der Stunde gebt ihr mir eure Zeichnungen bitte ab, ich werde sie mir dann bis zur nächsten Stunde angucken.«

Klar, es gab einiges, was mir etwas bedeutete.

Fenris und Ylva zum Beispiel. Oder Lupa und Phelan, Mum oder Dad. Cole und Eza, Lily und Liam. Lilith.

Aber die konnte ich alle schlecht zeichnen.

Erstens, sollte ich so tun, als würde ich Eza, Cole, Lily und Liam gar nicht kennen und das Risiko, dass Alec sie auf meiner Zeichnung erkannte, war einfach zu groß.

Immerhin sollte er denken, dass ich alleine lebte. Und ich war mir durchaus bewusst, wie genau er mich beobachtete.

Ich biss mir auf die Lippe.

Ben?

Aber nein, so leid es mir tat, diese Peinlichkeit wollte ich mir nun wirklich ersparen. Okay, das klang fies.

Während Ben also neben mir fluchte (wann hatte er das denn gelernt?), dachte ich weiter nach.

Was bedeutete mir etwas, was nicht zu auffällig war?

Etwas, was ich hasste, konnte ich auch nicht malen. Erstmal wäre es vielleicht komisch, wenn ich Ms. McClair ein Bild von einem Apfel unterjubeln würde (ernsthaft, ich hasste diese Dinger) und es wäre mit Sicherheit auch keine gute Idee, Alec zu malen.

Oder Mik. Oder irgendeinen anderen Ven.

Neben allen anderen, plausiblen Gründen, warum ich das kaum tun konnte, würde die Lehrerin nachher noch etwas Falsches denken. Und das wollte ich nicht.

»Hast du keine Idee?«

Ich zuckte zusammen und sah erschrocken auf.

Mit nachdenklicher Miene blickte Ms. McClair auf mich hinab. Ich wurde blass.

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass bereits zehn Minuten vergangen waren (in denen Ben es erfolgreich geschafft hatte, seine Hände inklusive Hemd mit Kohle voll zumatschen und doch nichts als merkwürdige Flecken aufs Papier zu bringen. Also wenn das wirklich ich sein sollte...)

Ich schüttelte dennoch ehrlich den Kopf.

»Was ist mit deiner Familie?«

Wenn das überhaupt möglich war, wurde ich noch blasser.

»Habe ich nicht«, nuschelte ich noch leiser und bei dieser erneuten Verleugnung meiner eigenen Familie, meines Rudels, verspürte ich einen schmerzhaften Stich im Herzen.

Ms. McClair zog die Augenbrauen zusammen.

»Das tut mir leid.«

Sie musste davon ausgehen, dass sie tot waren. Besser so. Okay, das klang ziemlich hart, jetzt, wo ich so darüber nachdachte.

Kurz huschte ihr Blick zu Ben, doch sie verwarf den Gedanken offensichtlich genau so schnell, wie die Panik in mir aufkam. Auf noch so eine Aktion konnte ich ehrlich verzichten. Und das sah sie anscheinend genau so.

»Was ist mit deinem Lieblingstier? Vielleicht sogar eins aus dem Wald?«

Sie sah mich fragend an.

Und da kam mir eine Idee. Gut, das war vielleicht auch nicht komplett sorgfältig durchdacht, aber irgendetwas musste ich ja abliefern können.

»Der Wolf«, antwortete ich dann.

Zufrieden nickte die Lehrerin, während ich mit aller Kraft auszublenden versuchte, wie Alec in seiner Zeichnung inne hielt.  Er lauschte.

Mik regte sich zum Glück nicht, sondern stierte weiterhin Böse auf seinen Kohlestift hinab. Offensichtlich war er genau so gerne hier, wie Ben.

»Gut«, die Lehrerin klatschte in ihre Hände, »dann zeichnest du jetzt einen Wolf.«

Dann setzte sie ihre Runde durch das Klassenzimmer fort.

Nun machte ich mich also an die Arbeit und irgendwie spornte mich Ms. McClairs Anwesenheit dazu an, mir wirklich Mühe zu geben.

Und aus irgendeinem Grund schien es mir unendlich leicht zu fallen. Denn ohne, dass ich es tatsächlich beabsichtigt hatte, setzten sich die Striche und Linien und Schattierungen langsam zu einem ganz bestimmten Bild zusammen.

Ein Bild von gestern Morgen.

Coles grauer Wolf mit der gelassenen Haltung und dem frechen Funkeln in den Augen, während er darauf wartete, dass wir endlich zur Jagd aufbrechen konnten.

Ms. McClair hatte recht. Es war so viel einfacher, etwas zu zeichnen, dass man mit bestimmten Gefühlen verband.

Ich hatte Kunst eigentlich tatsächlich nie wirklich gemocht, aber irgendwie war das hier etwas anderes.

Und nur, weil ich es nicht mochte, hieß das nicht, dass ich eine gewisse Begabung in dieser Richtung leugnen konnte.

Okay, das klang arrogant.

Es war nur eben immer so, dass ich nie die Geduld dazu gehabt hatte.

Ich konnte kaum verleugnen, dass ich meinen Gefallen an diesem rhythmischen Kratzen der Kohlen fand. Es war merkwürdig.

»Ich wusste nicht, dass du so gut zeichnen kannst«, grummelte Ben irgendwann plötzlich, kurz bevor die Stunde zu Ende war.

»Hä?«, machte ich und sah auf.

Ich war so konzentriert, dass es erst seine Zeit brauchte, bis seine Worte zu mir durchdrangen.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ich auch nicht«, murmelte ich und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.

Und das meinte ich ernst.

Dann sah ich auf Bens Blatt. Überrascht hob ich die Augenbrauen.

Auch wenn man vorher nichts als dunkle Flecken erkannt hatte, so sah einem nun tatsächlich ein Mädchen mit glattem Haar entgegen.

Gut, man erkannte mich nur an der Narbe und vor lauter Verzweiflung darüber, dass er keine Locken hinbekam, hatte er mir einfach glatte Haare verpasst, aber es war erstaunlich... gut.

»Aber deins sieht auch nicht schlecht aus«, meinte ich ehrlich überrascht.

Nun war es Ben, der mit den Schultern zuckte.

»Mum hat mich in Italien immer zu so einem Workshop mitgeschleppt...«

Ben seufzte und wandt sich wieder seinem Bild zu, ich sah auf mein eigenes hinab.

Für andere war es nicht zu erkennen, aber mir strahle Cole entgegen.

Cole, mit dem etwas zu langen, grauen Fell und dem kecken Wolfsgrinsen und den funkelnden Augen. Okay, gut, zugegeben, ich war schon stolz auf mich. Das war mehr, als ich erwartet hatte.

Die Schulglocke ertönte und sofort machte sich ein Rascheln breit, Blätter wurden abgegeben und Kohlekästen zugeklappt.

»Ich mach das«, murmelte ich und nahm Ben sein Bild ab.

Gemeinsam mit meinem brachte ich sie nach vorne, doch kurz bevor ich am Lehrerpult ankam, stockte ich.

Meine Augen weiteten sich.

Alec war der Einzige, der noch zeichnete und was ich da sah, ließ mich erstarren. Mr. Callahan strahle mir geradewegs entgegen, das braune Haar nach hinten gekämmt und ich konnte mir nicht helfen, aber ich war unheimlich beeindruckt.

Auch wenn ich das niemals zugeben würde. Ja, es war verdammt gut.

Jedes einzelne Detail stimmte. Angefangen von dem kleinen Muttermal an seinem Kinn, hin zu den Praes und dann schließlich diese gewisse Form seiner Augen.

Es war beeindruckend.

Ich hatte niemals erwartet, dass Alec so gut zeichnen konnte.

Ich meine, er war ein Ven und Ven standen für Kampf und Blut und Tod und... und dabei vergaß ich ihre menschliche Seite.

Kaum hatte ich das gedacht, war ich erschrocken über mich selbst und dann sah der Ven plötzlich auf.

Finster funkelte er mich an, zog das Bild aus meinem Blickfels und rauschte dann gemeinsam mit seiner Zeichnung an mir vorbei, um sie Ms. McClair zu geben.

Zugegeben etwas perplex starrte ich ihm hinterher. Okay, heute war ich definitiv nicht auf der Höhe...

Echt nicht.

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