101
»Aruna.«
Ich zitterte. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie ich angefangen hatte zu zittern, noch hatte ich bemerkt, wie ich meinen Kopf gesenkt hatte, sobald sich ihre Lippen berührt hatten, sobald das Rot ruckartig um sie pulsieren zu begann.
Ich wusste nicht wieso, doch irgendwie hatte ich nicht weiter hinsehen können, laut dem Gefühl in meinem Magen hätte sich wohl eben jener in absehbarer Zeit entleert und mir war merkwürdig kalt und warm, kalt und warm.
Ich umklammerte meinen eigenen Körper, kniff meine Augen zusammen, während ich auf dem Boden hockte und nicht so recht wusste, was ich mit mir anfangen sollte.
Ich wusste, dass ich nicht mehr in diesem Raum war. Die Musik war verstummt, ich fühlte nicht mehr diese einzigartige Wärme und das Gefühl des Glücks war ebenfalls verschwunden.
Und ich war verwirrt.
Mein Körper reagierte absolut verwirrt und fing wohl langsam an, all die Emotionen, die Narratus in den vielen Etappen der Reise einfach wieder zurück gesteckt hatte, zu verarbeiten.
Das alles überforderte mich, dachte ich irgendwie resigniert.
Das alles war eine Geschichte gewesen, eine Geschichte mit Gold gemalt, tanzend und fallend, lachend und weinend, voller Glück und zur gleichen Zeit doch voller Grausamkeit.
Doch für einen Moment schaffte ich es einfach nicht, die Geschichte vernünftig zu lesen, irgendwie hatte mich der Raum betäubt, hatte mein Denken betäubt und ließ mich nun zugegeben ziemlich erbärmlich zurück.
»Aruna.«
Erneut ertönte ihre leise, sanfte Stimme, ich hörte, wie es raschelte, spürte, wie sie sich vor mich hinkniete und im nächsten Moment behutsam nach meinem Kinn griff. Bei der Berührung schauderte ich, obwohl ihre Finger, ganz anders als meine, angenehm warm waren. Vorsichtig drückte Aleyna mein Kinn hinauf und als sie mich musterte konnte ich ehrlich Besorgnis erkennen, während wir hier so auf dem Boden saßen.
»Alles in Ordnung?«, hauchte Aleyna fast fürsorglich und strich mir eine Träne von der Wange.
Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich angefangen hatte zu weinen. Und warum wusste ich auch nicht.
Ich weinte definitiv zu viel.
Dieser Raum hatte mein Fühlen ehrlich durcheinander gebracht.
Langsam nickte ich, brachte es aber dennoch nicht zu Stande, aufzustehen.
Es verging ein weiterer Moment, in dem ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, dann seufzte ich, resigniert bevor ich die Antwort hörte, weil ich meinte, sie bereits zu kennen.
»Das sind aber jetzt nicht alle Antworten, oder?«, fragte ich fast verzweifelt.
»Im Moment bin ich nämlich viel zu verwirrt um das alles einzuordnen.«
Ja... verwirrt von dem Pulsieren in Alecs Brust, dass beinahe von Anfang an da gewesen zu sein schien, dass viel kräftiger und länger schlug, als mein eigenes.
Zumindest bis er mich angelächelt hatte.
Mir wurde schlecht, als ich daran dachte, wie sich das kleine, glimmende Licht in meiner Brust immer weiter aufgetan hatte. Ich wusste - zumindest vermutete ich - was es bedeutete. Doch wie so vieles wollte und konnte ich es nicht wahrhaben.
Aleyna lächelte leicht, dann schüttelte sie den Kopf, richtete sich langsam auf und hielt mir auffordernd eine ihrer filigranen Hände hin.
»Nein, sind es nicht. Ich werde dir alles erklären, alle Fragen beantworten, die du hast.«
Mit einem plötzlichen Glücksgefühl in meiner Brust griff ich nach ihrer Hand und ließ mich hinauf ziehen, konnte nicht verhindern, dabei zu grinsen wie eine Irre.
Wie verdammt lange hatte ich auf diesen einen beschissenen Satz gewartet?
Zum ersten Mal sah ich mich in dem Raum, in dem wir nun standen um. Überrascht hob ich die Augenbrauen. Kein Raum. Ein Balkon.
Und was ich sah, raubte mir den Atem.
Es war nicht der helle, hölzerne Boden, die wunderschönen, beigen Sofas oder der storchbeinige Beistelltisch mit der Blumenvase.
Es war nicht der hölzerne Ramen, der den Balkon umgab, die Balken, die mich an ein Fachwerkhaus erinnerten, oder die unzähligen Blumen und Ranken und Rosen, die an dem Holz hinauf kletterten und ein wunderschönes Bild abgaben, während sich Efeu von den paar Dachbalken hinab seilte.
Nein, das war es alles nicht.
Es war diese Aussicht, die mir für einen Moment den Atem raubte.
Und da überkam es mich. Plötzlich und ohne Vorwarnung.
Ein unglaubliches warmes, einlullendes Gefühl. Ein Gefühl der Heimat.
Fast zittrig trat ich an den Rand des Balkons, ein Wind kam auf, doch keineswegs kalt, obwohl ich unglaublich weit oben stehen musste, wie mir sowohl mein Ausblick als auch die steinerne Mauer unterhalb des Balkons verriet, die unendlich weit nach unten zu reichen schien.
Durch das Holzgestell konnte ich nicht mehr sehen und durch die unglaubliche Höhe wagte ich es nicht, mich vorzubeugen, doch ich war mir sicher, dass dieser Balkon Teil eines riesigen Schlosses sein musste.
Ich wusste es. Irgendwie.
Fasziniert blinzelte ich, als ich das magische Spiel vor mir betrachtete.
Riesige, gigantische Tannen, wohin das Auge nur reichte und es schien, als würde ein sachtes, liebliches Summen geradewegs aus ihrer Richtung kommen. Wie Papas Sommerlied.
Im Osten spaltete ein funkelnder Fluss die Bäume und die Sonne, die hoch am Himmel stand, schien ihn geradezu golden anzumalen, wobei sie auch die Berge nicht vergaß, die sich weit im Norden anschlossen, eine gigantische Kette bildeten und bald schon im Nebel verschwanden.
Wald. Nichts mehr als Wald. Doch für mich schien dieser Anblick so viel mehr als Wald.
Ich konnte es nicht einordnen, konnte es nicht beschreiben, doch das... das hier war der Ort, an den ich hingehörte.
Ich spürte, wie Aleyna neben mich trat, ließ den weiter aufkommenden Wind mich umtanzen und beobachtete die unendlichen Weiten, die Tannen, die so viel majestätischer aussahen, als es natürlich zu sein schien, der Fluss, der die Landschaft durschnitt wie ein scharfes Messer und dann doch so sanft, die Berge, die Abenteuer versprachen, kantig und spitz und doch weich.
Fasziniert hob ich den Blick, als auf einmal der Schrei eines Vogels zu hören war und im nächsten Moment schwebte ein gigantisches Tier von einem der Balken des Balkons hinab.
Noch nie hatte ich ein schöneres Tier gesehen und es schien mir fast so, als würde es mir aus seinen tiefen, schwarzen Augen einen fast auffordernden, vertrauten Blick zuwerfen.
Ein Adler? Nein, viel zu groß. Und sein Kopf wirkte vollkommen anders.
Solch ein Tier hatte ich noch nie gesehen.
Es streckte die gigantischen Flügel weit von sich und ließ sich für einen Moment einfach von dem Wind tragen, der seine roten Federn zerzauste, die aussahen, als hätte man geradewegs einen goldenen Tropfen der Sonne auf sie hinab getröpfelt, anders konnte ich mir die hellen Sprenkler einfach nicht erklären.
Er ließ einen weiteren, vergnügten Schrei aus dem goldenen Schnabel hören und der lange Federkamm an seinem Hinterkopf legte sich eng hinab, als würde er ihn sonst beim fliegen stören.
Und wie auch der Schnabel waren sie golden, zumindest an ihren Enden.
Er machte einen kräftigen Schlag mit den gigantischen Flügeln, die langen Federn, die seinen Schweif bildeten, wirkten fast wie ein Feuerstreif auf dem Hintergrund des klaren Himmels und als er erneut einen verführerischen Ruf hören ließ, sich drehte und einen kunstvollen Tanz aufführte, hatte ich das Bedürfnis nach ihm zu greifen, wusste selber nicht warum.
Die tiefschwarzen Augen blitzten mich schelmisch und doch liebenswert an und als er erneut mit den Flügel schlug, veranstaltete er eine kleine Drehung, nur, um dann wieder in die Nähe des Balkons zu segeln.
Ich war fasziniert. Gefesselt von dem Spiel des gigantischen Vogels, der Schwinge besaß, so lang wie ein ausgewachsener Mann.
»Er freut sich, dich wieder zu sehen«, hauchte Aleyna dann plötzlich und ich wagte es nicht, meinen Blick von diesem unglaublich schönen Tier zu nehmen, konnte meiner Neugierde allerdings nicht wiederstehen.
»Wer ist er?«, hauchte ich, verzaubert von dem Tier.
Wenn ich so darüber nachdachte, hatte mich heute ziemlich viel verzaubert.
»Regulus«, erklärte Aleyna, woraufhin ich leicht schmunzeln musste.
»Regulus? Ein komischer Name für einen Vogel.«
Doch kaum hatte ich das gesagt, gab das Tier doch tatsächlich ein fast beleidigtes Krächzen von sich, wendete sich wieder ab und flog ein paar Meter weiter fort.
Überrascht zuckte ich etwas zurück, woraufhin Aleyna lächeln musste.
»Reg war schon immer der Eigensinnigste von ihnen. Aber er passt zu dir. Namen haben Bedeutungen, wie dein eigener, schon vergessen Aruna?«
Ich runzelte die Stirn.
»Was heißt denn Regulus?«
Keine Antwort.
Verwirrt warf ich einen Seitenblick zu Aleyna, die nachdenklich in die weite Ferne der Landschaft blickte und nicht wirklich aussah, als würde sie mir gleich antworten.
»Ally?«
Fast erschrocken sah sie auf und warf mir einen entschuldigenden Blick zu.
»Was?«
Ich seufzte.
»Regulus. Was bedeutet Regulus?«
Sie wandt ihren Blick wieder von mir ab und blickte in den weiten Himmel hinauf, als würde sie in eben jenem Moment etwas sehen, was ich nicht sah.
»Der hellste Stern im Löwenbild«, murmelte sie dann einfach und anhand ihres abwesenden Blickes wusste ich, dass ich wohl keine direkte Übersetzung mehr erhalten würde.
Seufzend stützte ich mich an dem Holzgestell ab und betrachtete den anmutigen Vogel, der fast so wirkte, als wolle er jemandem ganz besonders gut gefallen.
»Was meinst du damit, dass er sich freut, mich wiederzusehen? Ich war doch noch nie hier?«, fragte ich schließlich nach einer Weile des Schweigens, immerhin standen da noch ein paar Fragen aus.
Aleyna seufzte leise, während wir den prächtigen Vogel betrachteten, der stolz und ein wenig eingeschnappt in der Luft segelte und krächzte.
»Naja, nicht direkt. Aber irgendwie schon. Reg ist der Begleiter der Roten, ein treuer Freund und Beschützer.«
Wie als hätte man ihn gerufen, drehte der Vogel wieder, warf seinen Kopf stolz in die Lüfte und krächzte einmal. Ich musste lachen.
»Der Begleiter der Roten also?«, fragte ich fast entzückt, woraufhin Ally nickte.
Mit solch einem Begleiter konnte ich gut und gerne leben, viel besser als so ein bescheuertes Pferd oder so. Ein Vogel war ein viel coolerer, treuer Begleiter, als ein Pferd.
»Was ist das hier überhaupt für ein Ort?«, fragte ich schließlich, das Gefühl der Heimat nicht vergessend.
Als Aleyna allerdings zunächst wieder nicht antwortete, fügte ich hastig erklärende Worte hinzu.
»Es ist nur... Es wirkt irgendwie so vertraut...«, versuchte ich meine Gefühle in Worte zu verpacken, wobei ich mich natürlich wieder reichlich ungeschickt anstellte.
»Die Heimat der Roten Göttin.«
Überrascht sah ich auf, richtete meinen Blick zu Aleyna, die vollkommen ernst in die Ferne sah.
»Die Heimat?«, hauchte ich mehr oder minder schlau, die Ven nickte.
»Ja, die Heimat der Göttin. Die Rote Göttin, Ursprung aller Götter, Mutter, Großmutter, Weisheit und Frieden und Liebe geeint.«
Überrascht hob ich meine Augenbrauen und fragte mich im gleichen Moment, in welcher Verbindung ich nun zu dieser Göttin stand.
Doch gerade, als ich auch nur zu meiner Frage ansetzen konnte, traf mich plötzlich ein heftiger Windschlag, ich zuckte erschrocken nach hinten, nahm eine Bewegung zu meiner Linken wahr und als ich mich umwandt, als ich sah, wie sich dieser gigantische Vogel genau neben mich auf das Holzgestell gesetzt hatte, mich überragte wie ein gigantischer Felsen und trotzdem fast liebevoll auf mich hinab blinzelte, blieb mir der Atem weg.
»Ich sag doch«, lachte Aleyna leise, ich merkte nicht einmal, wie sie einen Schritt zurück trat.
»Er hat dich vermisst.«
Doch ich konnte mich nicht auf sie konzentrieren. Generell konnte ich überhaupt nichts anderes tun, als den gigantischen, majestätischen Vogel vor mir anzublinzeln, der ein leises, fast begrüßendes Krächzen von sich gab und ein Schlagen seiner unnatürlich langen Flügel andeutete.
»Hey Reg«, antwortete ich so leise, dass ich mich sicher war, Aleyna hatte es nicht hören können.
Ein unheimliches Gefühl der Vertrautheit kam in mir auf und ich konnte nicht anders als dieses wunderschöne Geschöpf vor mir anzulächeln.
Reg krächzte wieder leise, dann senkte er plötzlich den Kopf, beugte sich hinab.
Vermutlich wäre es eine vollkommen normale, menschliche Reaktion gewesen, jetzt ziemlich respektvoll zurückzuweichen - um nicht zu sagen zu flüchten - angesichts dieses riesigen Vogels, der sich hinab beugte, wobei sein scharfer Schnabel gefährlich aufblitzte.
Doch ich blieb einfach stehen. Ich spannte mich nicht einmal an. Warum auch? Denn ich fühlte mich sicher...
Und als das Tier seinen gigantischen Kopf dann fast liebevoll auf meine Schulter niederlegte und ihn dicht an meinen Hals heran schmiegte, musste ich automatisch Lächeln.
Mein Körper fing an zu Kribbeln bei der Nähe des Tieres. Ich schloss meine Augen, lehnte meinen Kopf vorsichtig gegen seinen eigenen und hob behutsam eine Hand, um über seinen fedrigen Hals zu streichen, woraufhin er ein wohliges Krächzen von sich gab.
»Es ist schon eigenartig«, ertönte dann plötzlich Aleynas Stimme, die merkwürdig weit zurückgetreten war.
Ich öffnete meine Augen nicht, genoss diesen Moment viel zu sehr, während ich den gigantischen Vogel liebevoll kraulte.
»Was meinst du?«, hauchte ich, komplett verzaubert von dem Tier, das mich vermutlich mit einem Flügelschlag hätte umbringen könnte und doch so sanft wie ein kleiner Welpe war.
»Reg ist einer von ihnen, der Wild geblieben ist. Meistens gelingt es, sie zu zähmen, seine Art meine ich, doch dieser Vogel war schon immer speziell. Würde ich auch nur einen Schritt näher treten, würde er mich vermutlich sofort angreifen, egal wie lieb er aus der Ferne wirkt. Aber wenn es um die Rote geht, wird er zahm wie ein Lämmchen.«
Anscheinend gefiel dem Vogel dieser Vergleich nicht wirklich, denn er krächzte fast eingeschnappt auf, woraufhin ich nur leise lächeln musste und meinen Kopf irgendwie noch ein wenig gerührter gegen seinen schmiegte.
Danke für dein Vertrauen, kleiner Löwenstern.
»Wollen wir uns vielleicht hinsetzen? Die Zeit wird knapp, zu lange hier zu bleiben kann gefährliche Folgen haben, wir haben vermutlich schon viel zu lange getrödelt. Und du willst deine Antwort doch noch, oder Vogelzähmerin?«
Bei dieser liebevoll spöttischen Bemerkung musste ich lachen und nickte dann leicht, während sich Regulus Kopf behutsam von meiner Schulter löste.
»War schön dich kennenzulernen Löwenstern«, murmelte ich und strich ihm über die gefederte Stirn, woraufhin er wieder krächzte.
Dann wandt ich mich zu Aleyna, die bereits auf einem der Sofas platz genommen hatte.
Erst jetzt fiel mir der Eingang auf, der bloß mit einem dicken, samtig Roten Vorhang verdeckt war und keinen Blick auf das innere dieses gigantischen Gebäudes zuließ.
»Wessen Zimmer ist das?«, fragte ich neugierig und machte einen Schritt auf Aleyna zu und anders, als erwartet, hüpfte der Vogel einfach leichtfüßig von dem Holzgestell und sprang an meine Seite.
Überracht sah ich zu ihm herab und erst jetzt wurden mir die Ausmaße seiner Größe richtig bewusst.
Wenn er genau neben mir stand, reichte er mir tatsächlich bis zur Hüfte.
Ein großer, wilder Löwenstern.
Aleyna grinste leicht.
»Ich fürchte, bis du wieder gehen musst, wird er dir nicht mehr von der Seite weichen.«
Wie, als wolle er diese Aussage bestätigen, gab der Vogel ein lautes Krächzen von sich und als ich grinsend über seinen Kopf strich, schnurrte er zufrieden.
Schnurrte? Seit wann konnten Vögel denn Schnurren?
Unwichtig Aruna, wie war das mit der Zeit?
Aleyna deutete mir, mich auf die andere Couch zu setzen, damit der Löwenstern nicht vielleicht auf die Idee kam, ihr doch noch die Augen auszukratzen und kaum hatte ich mich gesetzt, rollte er sich mit einem zufriedenen Krächzen neben mir zusammen, legte seinen großen Kopf in meinen Schoß und blinzelte mich auffordernd von unten an.
»Und du sollst wild sein?«, lachte ich zärtlich und begann seinen großen, weichen Kopf zu kraulen, woraufhin er mir, fast um zu demonstrieren, dass er nicht so harmlos war, in den Finger zwickte, doch keinesfalls böswillig oder schmerzhaft, eher neckend.
Dann blieb er still und holte sich mit halb geschlossenen Augen seine Streicheleinheiten ab.
»Deins«, ertönte dann plötzlich Aleynas Stimme, woraufhin ich verwirrt aufsah, zunächst ziemlich auf dem Schlauch stand.
»Meins?«, entgegnete ich also einfach nur sehr geistreich, Aleyna nickte und rückte unter einem misstrauischen Blinzeln Löwensterns etwas näher.
»Ja. Deins. Deine Frage. Das hier ist dein Zimmer.«
Überrascht hob ich meine Brauen, meine Finger glitten durch Regs Federn.
»Das wüsste ich aber«, entgegnete ich, Aleyna lachte leise, schüttelte dann den Kopf.
»Nicht so wichtig. Vielleicht erklär ich es dir das nächste Mal, jetzt müssen wir uns etwas beeilen. Also? Wie viel hast du von der Geschichte verstanden?«
Ich runzelte die Stirn, wusste nicht so recht, wo ich ansetzen sollte, während ein erneuter Wind aufkam, mich allerdings wieder keineswegs frösteln ließ, was vermutlich auch an dem gigantischen Vogel dicht neben mir lag.
»Fang einfach von vorne an. Erklär mir, was du gesehen hast, und ich erkläre dir, was es bedeutet.«
Das klang zumindest etwas machbarer. Trotzdem blieb ich für einen Moment noch stumm und überlegte.
»Zwei Mädchen...«, setzte ich schließlich an.
»Die erste Rote und eine Ven. Merah und Ophelia hießen sie. Sie haben getanzt und dann... dann haben sie sich getroffen.«
Aleyna nickte und beugte sich ein wenig nach vorne, nur, um einen weiteren, misstrauischen Blick des Löwensterns zu ergattern.
»Das erste Paar, richtig? So wie es sein soll. Beide geschaffen von der Roten Göttin, wie du selbst. Ich sagte ja, es wäre unser Schicksal gewesen uns zu begegnen. Und so ist es. Die Rote Göttin erschafft die Rote und erwählt die Ven, die ihre Seelenverwandte sein soll. Das Band, das diese beiden Menschen verbindet ist so stark, dass es mit Worten nicht zu beschreiben ist und das Schicksal fordert nun einmal, dass sich Seelen, die zueinander gehören, auch treffen. Das ist vermutlich der Grund, warum ich hier sitzen und mit dir sprechen kann.«
»Also bist du... meine Seelenverwandte?«
Es war eigentlich nicht beabsichtigt, dass ich dieses Wort so skeptisch aussprach, ich wusste nicht, warum ich es tat, doch Aleyna schien nicht wirklich gekränkt.
Sie nickte einfach und lächelte fas stolz, was sofort ein warmes Gefühl in meinem Herzen los trat. Eine Seelenverwandte... Wenn ich darüber nachdachte, welches Gefühl immerzu in mir hochkam, wenn Aleyna bei mir war, schien es plötzlich unheimlich logisch.
Und dieser Gedanke gefiel mir. Irgendwie.
»Also hat die Rote Göttin uns alle geschaffen? Eine Rote nach der anderen? Aber warum?«
Fragend blickte ich Aleyna an, diese allerdings schüttelte bloß mit dem Kopf.
»Was ist danach geschehen? Nachdem die Mädchen sich trafen? Was hast du gesehen?«
Ein Schauer überkam mich, als ich an die glühenden Monster zurück dachte, die sich aus dem Schwarz aufgetan hatten und sich gnadenlos auf die Mädchen stürzten.
Ich senkte den Blick und sah auf meine Finger hinab, hörte allerdings nicht auf, Löwenstern zu kraulen. Einfach, weil es mich irgendwie seltsam beruhigte.
»Monster«, hauchte ich dann einfach nur.
»Sie sind gekommen... und... und...«, ich brachte es nicht zu Stande, weiterzureden.
Nicht, nach all diesen Erinnerungen, die diese schrecklichen Wesen mit sich brachten. Nicht, nach allem, was sie getan hatten.
Aleyna seufzte.
»Und genau das ist der Grund. Für deine Existenz und für meine, ob ich nun lebe oder nicht. Die Hybriden waren seine Vorboten, schon immer. Manchmal schafften es die Roten zu siegen, manchmal nicht. Er setzt alle Mittel ein, damit sie ihn nicht erreichen kann, die Rote, ihn töten kann, wofür die Rote Göttin sie schuf. Dich und mich und all diese anderen Aruna. Sie schuf uns, um die Welt von diesem grausamen Wesen zu befreien, das langsam immer mehr in den Vordergrund zu rücken droht. Und bis jetzt schaffte es nie eine von ihnen, auch nur nah genug an ihn heran zu kommen. Sie alle starben, egal welche mächtigen Kräfte die Rote Götting ihnen gab, egal welches feurige Innere.«
Ich schluckte schwer, mein Kopf brummte seltsam, tausende von Fragen schossen mir durch den Kopf und ich wusste nicht, welche von ihnen ich als erstes stellen sollte.
Geschaffen um zu töten? Mächtige Kräfte? Feuriges Innere?
Doch tief in meinem Innern wusste ich ganz genau, was als erstes ausgesprochen werden musste.
»Wer ist er, Ally?«, hauchte ich und hob den Blick, nur um in Aleynas bedauernde Miene zu sehen.
»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es.«
Ich musste schwer schlucken, schüttelte ganz leicht den Kopf, während es schien, als würde sich Reg fast tröstend noch ein wenig enger an mich schmiegen.
Niemand weiß es. Ihre Worte hallten merkwürdig in meinem Kopf wieder. Niemand. Niemand. Niemand.
Und trotzdem sollte ich ihn töten. Trotzdem sollte ich dazu bestimmt sein.
Aber wenn sie doch nicht wussten, wer er war, wieso wurde ich dann erschaffen?! Sie mussten es doch wissen! Sonst machte das doch überhaupt keinen Sinn!
Oh Gott. Oh mein Gott. Erst jetzt schienen ihre Worte vernünftig zu mir hindurch zu dringen.
Ich sollte ihn töten, obwohl er , wer auch immer er war, schon so viele, so unendlich viele getötet hatte?! All diese Roten? All diese Ven?
Und auf einmal wurde mir so unendlich schlecht, dass ich das Bedürfnis hatte, mich zu krümmen.
»Was ist dann passiert?«, fragte Aleyna dann plötzlich mit sanfter Stimme, ahnte wohl, was in mir vorging. Ich schüttelte wie in Trance mit dem Kopf, während dieses eine Wort nicht aus meinem Kopf verschwand.
Tod. Mein Leben, bestimmt um grausam zu Enden. Sterben.
»Aruna!«, erschrocken sah ich auf und bei meinem überraschten Zusammenzucken warf der Löwenstern seinen Kopf gefährlich krächzend in die Höhe und funkelte Aleyna an.
»Hör mir zu«, sprach sie dann auf einmal wieder sanfter und auf die Gefahr hin, Reg würde sie ihr abhacken, legte sie ihre Hand auf die Lehne der Couch, auf der ich saß, mich zu berühren wagte sie allerdings nicht und anhand des Funkelns in den Augen des Vogels konnte ich klar und deutlich erkennen, dass sie gerade tatsächlich mit der Existenz ihrer Hand spielte.
»Keiner ist bis jetzt so weit gekommen, wie du! Sie sagt, du bist unglaublich stark, stärker als die anderen! Sie sagt, dass du es dieses Mal schaffen wirst, du bist deinem Ziel ganz nah! Also? Was ist weiter passiert? Die Zeit läuft uns davon.«
Ich fühlte mich nicht stärker als die anderen. In diesem Moment seltsam erbärmlich.
Doch dann fuhr ich mich selber an, gefälligst dieses bescheuerte Selbstmitleid, das ich neigte an den Tag zu legen, zu vertreiben.
Jetzt war nicht die Zeit dazu.
Ich atmete tief durch, schob den Gedanken an Mord und Totschlag ganz weit zurück und bemühte mich dann möglichst ruhig zu atmen.
»Nachdem... nachdem die Hybriden verschwunden sind, sind die Überlebenden wieder aufgestanden.«
»Ein paar überlebten nicht einmal den Angriff der Hybriden, doch trotzdem schafften es einige«, nickte Aleyna bestätigend.
Tiefe Falten legten sich auf meine Stirn, als ich daran dachte, was nach dem wieder aufgenommenen Tanz der Mädchen geschehen war.
»Weiter?«, forderte Aleyna.
Ich zögerte.
Doch schließlich seufzte ich ergeben, ließ nicht von Regs anmutigem Kopf ab.
»Es war... also... Ich hab Ophelia und Merah beobachtet... Ophelia hat sie mit sich gezogen und dann war da dieser Junge... auch ein Ven... Auf einmal hat ein Licht in Merahs Brust angefangen zu schlagen... und in der des Jungen! Aber Ophelia ist immer weiter zurück gegangen... Dann hat Merah mit den Jungen getanzt, immer weiter... er hat sie... er hat sie geküsst.«
Wieder nickte Aleyna verstehend, während mich bei dieser Erinnerung ein Schauer überkam.
Sie schien einen Moment darüber nachzudenken, was sie als nächstes sagen sollte. Schließlich seufzte Ally und strich sich eine tiefschwarze Strähne aus dem Gesicht.
»Die Rote findet ihre Seelenverwandte zwar in dem Venmädchen, doch außer diese ungalubliche Verbindung gibt es da noch eine Aufgabe, weshalb die Ven eigentlich da ist. Ihr Zwilling... Sie ist dazu bestimmt, die Rote und ihren Zwilling zusammen zu führen, so, wie es die Rote Göttin wollte. Nur zusammen sind sie stark genug, sich ihm zu stellen.«
Ich blinzelte verdutzt. Eine Verkupplerin der Roten Göttin?
Und erst da wurde mir die Bedeutung ihrer Worte vollends bewusst.
Jegliche Farbe wich mir aus dem Gesicht, meine Gesichtszüge entglitten mir, Löwenstern spannte sich merklich an und dann spührte ich mit einem Mal, wie die Hitze in meinen Kopf schoss.
»Also...«, stammelte ich etwas außer Atem und blinzelte heftig, wobei mein Herz wieder Dinge aufführte, die es nicht sollte.
»Also heißt das... der Zwilling und die Rote... sind dazu... dazu bestimmt...«
Ich brachte es nicht über mich. Ich schaffte es einfach nicht. Es war wie eine Blockade in meinem Kopf, die mich daran hinderte, dieses Wort auszusprechen.
Doch ich musste es auch nicht tun. Denn Aleyna wusste, was ich sagen wollte. Sie nickte.
»Ja. Sie sind dazu bestimmt, sich zu lieben.«
Keine Ahnung, was in diesem Moment mit mir geschah.
Ich gab ein ersticktes Geräusch von mir und auf einmal schien jegliche Kraft meinen Körper zu verlassen, während ich seltsam zitternd in die Couch zurück sank, das Kribbeln auf meinen Lippen und in meinem Körper verfluchte.
Mir wurde schlecht. Mein Herz machte dumme, dumme kleine Sprünge und mir wurde unglaublich heiß.
Nein... das konnte nicht wahr sein... Ich? Ich sollte dazu bestimmt sein... diesen... diesen Jungen?! Aber das wollte ich nicht! Ich wollte doch selber wählen können.
Aber das hast du doch, genau in diesem Motelzimmer, zischte mir eine verräterische kleine Stimme zu. Du hast dich entschieden...
Klappe!
Mir wurde schwindelig.
»Alec hat dich geliebt«, ertönte dann plötzlich Aleynas sanfte Stimme, sie sah, welcher Kampf gerade in mir entbrannte doch ihre Worte machten mich nur schwindeliger, während ich sie ansah, mit dem Kopf schüttelte, sie stumm flehte, nicht auszusprechen, was sie gerade aussprach.
»Er hat dich geliebt, seit er dich zum ersten Mal gesehen hat. Zumindest hat er diese Anziehung gespürt und das hat ihn verrückt gemacht. Ich weiß nicht, wieso du sie nicht auch sofort gespürt hast, wie es eigentlich sein sollte. Vielleicht, weil ich nicht mehr da war, um es dir zu zeigen. Deshalb hat mein Bruder sich auch am Anfang benommen wie ein absolutes Arschloch. Er hat nicht auf den Cupid reagiert, den die Rote Götting geschickt hat, damit ihr euch näher kommt, weil ich diese Aufgabe nicht mehr erledigen konnte, weil seine ganzen Gedanken sich von dem ersten Tag an um dich drehten und diese Anziehung hat ihn in den Wahnsinn getrieben. Wenn es nicht von Anfang an Liebe war, so hat er sich jeden Tag mehr in dich verliebt, mit jedem Schritt den du tats, mit jedem Wort das du sprachst, mit deiner ganzen Art. Und es war nicht schlimm, dass du diese Anziehung von Anfang an nicht gespürt hast, denn du hast dich genau wie er von Tag zu Tag mehr und mehr in ihn -«
»Nein!«
Rasend fuhr ich zwischen ihre Worte, schüttelte so heftig mit dem Kopf, dass es schmerzte, bekam keine Luft mehr, wollte nicht wahrhaben, was sie mir da offenbarte. Fast erschöpft sank ich wieder in die Couch zurück, schloss meine Augen und konnte meine Lippen nicht am Beben hindern.
»Bitte«, hauchte ich so verzweifelt, das ich spürte, wie Aleyna fast verletzt zurück zuckte.
Und wieder und wieder tauchte vor mir dieses Bild auf, wie Alecs Rot von Anfang an hell erstrahlt war, während meines erst gekommen war, als er mich angelächelt hatte.
»Bitte Ally, sag das nicht...«
Er liebte mich... Er hatte mich geliebt... seit Little Falls.
Nein...nein! Falsch! Er musste mich lieben. Weil die Rote Göttin es so wollte, weil es das bescheuerte Schicksal war.
Doch so eine bescheuerte Mate Sache! Aber das wollte ich nicht! Sowas wollte ich nicht!
Ja ich war definitiv verzweifelt, während Reg fast tröstend an meinem Finger knabberte, doch mein Herz schien schwerer und schwerer zu werden...
Und sie hatte ihn geschickt. Diesen verdammten Cupid?! McClair hatte mich und Alec von Anfang an zusammen bringen wollen?! Deshalb hatte sie es uns immer in die Selbe Gruppe gesteckt... Deshalb...
Und er hatte diese Gefühle... von Anfang an.
Ich hatte das Gefühl, eine ganze Welt würde in eben jenem Moment über mir zusammen brechen.
Hatte diese Gefühle, als er mich hinter der Sporthalle mit dem Messer bedroht hatte, hatte diese Gefühle, während er mich kalt angeblickt hatte, wieder und wieder, während ich an dem Tag, an dem ich erfahren hatte, dass ich nie eine Gardistin werden würde, zusammengebrochen war und er bei mir geblieben war.
Aleyna seufzte schwer, rückte ein Stück näher, während ich das Bedürfnis hatte, einfach anzufangen zu heulen.
»Aruna«, hauchte Aleyna ganz leise, sanft wie eine Mutter.
»Du hast dich auf ihn geprägt, weil du es wolltest, ob nun unterbewusst oder nicht. Während du dich in ihn verliebt hast, hast du dich immer weiter auf ihn geprägt. Völlig ohne Zwang. Das war deine freie Entscheidung. Es ist nicht so, dass - «
»Nein! Das stimmt nicht! Ich habe mich nicht auf ihn geprägt!«
Nein. Nein! Sie log! Das stimmte nicht! Das hatte ich sicher nicht gewollt! Ich...nein! Nein, ich hatte mich nicht auf ihn geprägt! Niemals!
Mit bebenden Lippen schüttelte ich vollkommen wirr dem Kopf, konnte mit diesen Gefühlen einfach nichts anfangen.
Und Aleyna machte einfach weiter, während mein Herz schmerzte, verschonte mich nicht.
»Hast du dich denn nie gefragt, warum er deine Gedanken lesen kann? Warum du seine Erinnerungen siehst? Das liegt nicht an dem Gebräu, mit dem er dir damals das Leben gerettet hat. Es liegt an eurer Verbindung. Alec ließ sich nur als erstes darauf ein, auch wenn er wusste, wie unmöglich alles schien. Und als du langsam anfingst, ihn...«
Ich keuchte auf, schüttelte flehenden den Kopf, wollte nicht hören, was sie sagte.
Das war alles nicht wahr... ich hatte mich nicht auf ihn geprägt... Ich war nicht dazu bestimmt... wir waren nicht dazu bestimmt, uns zu... zu...
»Liebe«, hauchte Aleyna dann plötzlich.
»Liebe ist nichts schlimmes Aruna. Nur weil du dich nicht an den Gedanken gewöhnen kannst, dass dich jemals jemand lieben könnte, weil dir dein ganzes Leben gezeigt wurde, das du anders bist, etwas, dass nicht sein sollte, etwas, das Unglück bringt, musst du dich jetzt nicht vor allem verschließen. Es ist in Ordnung, verstehst du? Es ist okay. Du darfst lieben und du darfst geliebt werden. Du hast es verdient.«
Ich schüttelte den Kopf, verstand selber nicht, warum ich diese unendliche Abwehrhaltung in mir trug, meine Lippen bebten.
»Aber es stimmt«, hauchte ich.
»Ich bringe Unglück. Es geht nicht, verstehst du denn nicht Aleyna? Wenn ich jemanden liebe... alle die ich je geliebt habe... sie wurden verletzt... getötet... ich kann doch nicht zulassen, dass er... dass er...«
Meine Stimme brach, ich zitterte unkontrolliert, Reg krächzte besorgt.
Ja. Ich gab es zu. Ich würde alles tun, damit diesem verdammten Ven nicht dsas gleiche Schichsal erreilte, wie all diesen anderen...
Doch Aleyna seufzte einfach nur, ließ den Blick nicht von mir.
»Du und Alec, ihr alleine seid dazu bestimmt, ihn zu besiegen und ihr werdet es auch nur zusammen schaffen, verstehst du? So will es das Schicksal. Und nur weil er es geschafft hat, mich vorher zu holen, damit all das niemals passieren konnte, heißt das nicht, dass es nicht mehr eure Aufgabe ist!«
Ich kniff meine Augen zusammen, konnte mein Zittern immer noch nicht verbergen und bekam keine Luft mehr.
Zu viele Informationen. Zu viele Gefühle.
Gefühle, mit denen ich nicht umgehen konnte, mit denen ich nicht klar kam, die ich ganz bestimmt nicht haben wollte.
Er hatte sie geholt... wegen mir... wegen mir hatte er Aleyna geholt...
Sah sie es nicht?! Genau deshalb würde das mit Alec und mir niemals klappen!
»Ihr müsst ihn besiegen. Dieses Mal müsst ihr es schaffen. Alle anderen haben versagt... aber ihr werdet das nicht. Ich weiß es. Dieses Mal werdet ihr es schaffen. Du, die Sospita, die Retterin und er, der Bellator, der Kämpfer, der Krieger.«
Meine Brust hob und senkte sich viel zu schnell, die schrecklichen Bilder rasten mir durch den Kopf, ich sah Merahs Jungen, wie er sie hinter sich gezogen hatte, während die grausamen Fänge genau auf ihn zuschnellten, sah, wie Royas Junge sie im letzten Moment weg gezogen hatte.
Und es war, als würde es mir jetzt zum ersten Mal richtig auffallen, als hätte mich diese grausame Lache so sehr gelähmt, dass ich es nicht gesehen hatte.
Nicht wirklich gesehen.
Doch jetzt sah ich es. Und das Grauen prasselte mit einem Mal auf mich ein.
Ich keuchte auf, riss mit einem Ruck meine Augen auf und krümmte mich, als würde mit einem Mal ein unheimlicher Schmerz durch meinen Körper jagen.
Nein. Nicht würde. Genau in diesem Moment geschah es. Ein Schmerz durchzuckte mich, wie ich ihn noch niemals gefühlt hatte, unheimlich quälend und so plötzlich, dass ich laut aufwimmerte, Reg krächzte erschrocken auf, schlug mit seinen Flügeln und fuhr hinauf.
»Oh Gott Aruna«, keuchte Aleyna, stürzte vor und packte meine Arme, während ich wimmernd den Kopf in den Nacken warf, selbst Reg wagte es jetzt nicht, die Ven anzugreifen, auch wenn er sie gefährlich anfauchte, die Flügel schützend hinauf hob.
Bilder durchzuckten mich, ich bekam keine Luft, bekam einfach keine Luft mehr.
Alec. Alec, wie er mit leblosen Augen auf dem Boden lag.
»Er wird sterben«, hauchte ich dann plötzlich, mein Körper bebte, ich krallte mich in die Couch, sah wieder und wieder, wie sich die Ven vor die Roten warfen, wie sie von dem Purpur getroffen wurden.
»Was redest du denn da?«, keuchte Aleyna und packte mein Gesicht, damit ich endlich still hielt.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich sie an, mein Mund öffnete sich voller Entsetzen, es schmerzte, immer noch schmerzte es so unheimlich.
»I-Ist es nicht so?«
Meine Stimme war kaum zu verstehen, so sehr zitterte sie, mir wurde unglaublich heiß, Löwenstern krächzte fast ängstlich, ein schreckliches Bild nach dem anderen durchfuhr mich, ließ mich jedes Mal wieder und wieder zucken und langsam trat die Verständnis in Aleynas Augen.
Sie wusste, wovon ich sprach.
»Er wird sterben... Weil er sich für mich opfern wird... so wie all die anderen.«
Die Erkentniss traf mich wie ein harter Schlag mitten ins Gesicht, ließ mich zitternd und bebend zurück, ich schnappte nach Luft, bekam sie doch nicht zu fassen und langsam, quälend langsam war es, als würde mein Herz untergehen.
Aleyna senkte den Blick, ließ mich allerdings nicht los und das war wohl der Moment, in dem ich vollkommen ausrastete.
»Nein!«, keuchte ich, sprang mit einem Mal auf und brachte so viel Abstand zwischen uns, wie nur irgends möglich, sah sie voller Entsetzen an, während sie unheimlich verletzt wirkte.
Mit einem empörten Krächzen kam Reg dicht en meine Seite, schmiegte sich eng an mich.
»Wie kannst du das von mir verlangen!?«, rief ich vollkommen außer mir.
»Du wusstest es! Wenn wir... wenn wir dahin gehen, wird er sterben! Dein Bruder! Wie kannst du nur! Er ist dein Bruder?! Dein Bruder Aleyna! Wie kannst du nur!«
Ich schrie. Am Ende kreischte ich. Voller Verzweiflung kreischte ich und deutete wieder und wieder anklagend auf sie, während Reg aufgebracht krächzte.
Doch dann hob Aleyna plötzlich ihren Blick. Es war das erste Mal, dass ich Tränen in ihren Augen funkeln sah.
»Nein«, hauchte sie dann plötzlich, schüttelte den Kopf und ich sah es, ich konnte erkennen, wie ihre Lippen zitterten.
»Ich liebe meinen Bruder, Aruna. Ich liebe ihn mehr, als ich es jemals in Worte fassen könnte, verstehst du das denn nicht?! Ich würde niemals wollen, dass ihm etwas passiert! Und ja verdammt, ja! Es wird gefährlich, so unglaublich gefährlich für euch beide und ich habe Angst, okay?! Scheiß Angst um euch beide weil ich euch so sehr liebe! Und ich bete, bete jeden einzelnen verdammten Tag, dass euch nichts geschieht, weil mein Herz das nicht ertragen würde, weil ich nie jemanden so sehr geliebt habe, wie euch! Aber es stimmt. Wenn sie starben, dann starb der Bellator zuerst, weil er der Kämpfer war, okay?! Weil er die, die er liebte, retten wollte! Aber dieses Mal wird das nicht passieren! Ich schwöre es! Ihr seid stark! Ihr werdet das schaffen! Zusammen! Und meinem Bruder wird nichts geschehen!«
Und dann, ohne Vorwarnung rannen ihr plötzlich die ersten Tränen die Wange hinab.
Aleyna weinte. Die tote Ven weinte, obwohl sie doch sonst immer so stark wirkte.
Ich hielt das nicht aus. Ich hielt das einfach nicht aus.
Ich spürte, wie die heißen Tränen meine Wangen hinab rannen und wie im Wahn, taumelte ich nach vorne.
Ohne zu zögern schlang Aleyna die Arme um mich, als ich auf sie zu stolperte.
Schluchzend vergrub ich meinen Kopf in ihrem dichten Haar, atmete schwer und schleppend, während wir in die Knie sanken.
Ich spürte, wie ihr Körper bebte und ertrug es nicht, ertrug es einfach nicht, dass sie weinte.
Vollkommen wirr schüttelte ich meinen Kopf, während Aleyna ihre Wange gegen meinen Scheitel legte und wenigstens versuchte, beruhigend über meinen Rücken zu streichen, auch wenn ich hörte, wie sie weinte.
»Das ist nicht fair«, keuchte ich völlig neben mir, mein Herz schmerzte und ich weinte und weinte.
»Das ist nicht fair Aleyna...«
Ich schüttelte meinen Kopf, krallte meine Hände in das Kleid, das sie immernoch trug.
»Wieso können wir nicht einfach normal sein...?! W-Wieso kannst du nicht leben und wieso konnten wir und nicht als verdammte, scheiß normale Inbecs begegnen?! Ich will das nicht! Ich will das alles nicht! Ich will keine Sospita sein und kein Lykanthrop und keine Rote und...«
Meine Stimme ging in einem erstickten Schluchzer unter, ich konnte nicht mehr sprechen, ich spürte, wie Reg argwöhnisch näher kam, sich dann doch nicht an Aleyna heran traute.
Und so saßen wir da, Sekunden, Minuten, vielleicht Stunden und weinten einfach nur, weinten und weinten und weinten, weil der Tod es war, der uns schelmisch grinsend betrachtete.
Sie bereits mit sich gezogen hatte und Alec und mich... bald... vielleicht bald...
Die Sonne neigte sich, Aleyna fing sich lange vor mir, während ich immer noch leise wimmernd da kauerte und weinte, ihren beruhigenden Worte lauschte, ihre Wärme spürte, wie sie sich langsam weiter und weiter fing.
»Aleyna«, hauchte ich irgendwann, vollkommen erschöpft und müde und fragte mich, warum ich immer noch hier war, obwohl die Ven doch so vehement behauptet hatte, wir hätten keine Zeit.
»Hm?«, machte sie und zeichnete weiter beruhigende Linien auf meinen Rücken.
»Ich will nicht, dass er stirbt «, hauchte ich erschöpft gegen ihren Hals.
Aleyna hielt inne. Dann drückte sie mich plötzlich ein Stück von sich weg, betrachtete mich, meine verweinte Gestalt für einen Moment.
Und dann lächelte sie plötzlich, so sanft, wie nur sie es konnte.
»Ich weiß«, hauchte sie und drückte mir einen federleichten Kuss gegen die Stirn.
»Und deshalb werdet ihr es schaffen. Du und er. Zusammen.«
Ich nickte.
Und es war das erste Mal, dass ich die Ven wirklich bewusst anlügte.
Nein Aleyna. Nein.
Deshalb würde ich es nicht zulassen. Ich würde nicht zulassen, dass er mich liebte, dass er so vielleicht auf die seltendämliche Idee kam, mich retten zu wollen.
Alecsander Venatores durfte mich nicht lieben.
Und dafür würde ich sorgen. Ich würde dafür sorgen, dass das, was im Motel geschehen war, nie wieder geschah.
Egal, wie sehr mein Herz in diesem Moment aufwimmerte, wie sehr es mich anflehte.
Egal, was es mir zurief.
Es durfte nie geschehen, nie wieder passieren.
Auch wenn das bedeutete, mein Herz hinter dicke Eisenketten zu legen.
Denn Alec würde leben. Und dafür würde ich sorgen.
Wir würden zu ihm, dem schrecklichen Wesen, fahren, okay, gut, vermutlich hatten wir zu zweit sogar eine Chance.
Doch nicht so zu zweit wie all die anderen Paare.
Denn vielleicht war genau das ihr Untergang gewesen.
Liebe war tödlich. Und deshalb durfte ich nicht lieben. Genau so wenig wie er.
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