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»Ein schöner Ort«, murmelte ich leise und schlang meine Arme um mich, weil mir auf einmal ein schrecklich kalter Schauer über den Rücken lief, der mit Sicherheit nicht nur an den kalten Temperaturen lag.

Stumm nickte Alec, während er sich hinab beugte und die erste Kerze anzündete.

Ich blinzelte, während ich versuchte, den Kloß in meinem Hals hinunter zu schlucken.

Mein Blick glitt über das stahlgraue Wasser, das sich vor uns erstreckte, über die großen Tannen, die sich ein Stück hinter dem See anschlossen.

Ein kleiner Kiesweg führte zu einem Parkplatz, von dem wir gekommen waren, doch sonst war niemand hier.

Vielleicht, weil es zu früh war. Aber das war gut so. Diesen Moment wollte ich mit niemandem teilen.

Mein Blick glitt gen Himmel, der von der aufgehenden Sonne rot gezeichnet wurde und ich stellte mir vor, dass sie alle in eben jenen Moment auf uns herab sahen.

Und vielleicht, vielleicht, sagte ich mir, lächelten sie. Genau in diesem Moment.

Alec zündete die letzte der vier schneeweißen Kerzen an, die auf kleinen, hölzernen Flößen befestigt waren.

Fragend hob er den Blick und sah mich an.

Ein leichter Wind kam auf, wehte mein Haar nach hinten, ließ die Tannen tanzen und machte das graue Wasser kurz unruhig.

Ich schluckte, hockte mich dann neben Alec und nickte. Alec seufzte und schenkte mir kurz ein kleines Lächeln, doch auch ihm sah man an, dass das hier alles andere als einfach war.

Sein Blick glitt zu der ersten Kerze, die direkt vor ihm stand, doch es verstrichen Sekunden, in denen er sich nicht rührte, sie einfach nur anstarrte.

Ich schloss meine Augen, versuchte meine Gedanken zu ordnen, mich daran zu erinnern, warum wir das hier taten.

Dann öffnete ich sie wieder, das Rauschen der umstehenden Tannen in meinen Ohren. Mein Blick glitt auf Alecs Hand hinab, die sich neben mir in den Boden krallte, vollkommen angespannt, wie er selbst.

Ohne zu zögern griff ich nach ihr, löste ihre krampfhafte Umklammerung und verflocht unsere Finger miteinander, überrascht, wie kalt sie sich diesmal anfühlte.

Alec sah mich an, sein Blick huschte kurz hinab auf unsere Hände, während er unglaublich blass aussah.

Und in diesem Moment wurde es mir klar. In diesem Moment wusste ich, dass ich diejenige war, die über die Monate ganz langsam mit dem Tod meiner Geschwister abgeschlossen hatte, die sich die Zeit dazu genommen hatte, als wir noch in Little Falls gewesen waren.

Doch das hatte Alec nicht getan. Er hatte seine Trauer mit Wut gefüllt, hatte sich nicht die Zeit genommen, wie ich sie mir genommen hatte.

Ich legte meinen Kopf schräg, während er mich mit fest zusammen gepressten Lippen betrachtete und brachte ein trauriges Lächeln zu Stande, wobei ich seine Hand noch ein wenig fester drückte.

»Du musst jetzt loslassen Alec«, hauchte ich und der Ven nickte, ruckelnd, fast mechanisch, ich war mir nicht einmal sicher, ob er in diesem Moment noch atmete.

Ich seufzte, griff dann einfach an Alec vorbei und umfasste das kalte Holz des kleinen Floßes, das langsam von der Kerze aufgewärmt wurde.

Vorsichtig hob ich es hoch, während ich Alecs Hand allerdings nicht losließ.

Ein letztes Mal blickte ich ihn über meine Schulter an, doch er starrte einfach nur wie hypnotisiert auf die Kerze, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.

Also sah ich wieder nach vorne, auf die Weiten des Sees und musste mir selbst einen kurzen Ruck geben.

Werd jetzt bloß nicht schwach Aruna. Alec braucht dich jetzt, ohne dich schafft er das nicht. Wenigstens ein einziges Mal bist du diejenige, die ihn tröstet.

Und dann ließ ich das Floß vorsichtig in das kalte Wasser gleiten, gab ihm einen kurzen Anstoß und ignorierte, wie klamm und kalt meine Finger sich anfühlten.

»Für Mik«, hauchte ich mit schwerer, belegter Stimme und blaffte mich selbst an, die Tränen zurückzuhalten, während ich an den blonden Jungen mit den braunen Augen dachte, der es doch so sehr geliebt hatte, zu lachen, der der allererste gewesen war, der mich - mein wahres Ich - vollkommen und ohne Einschränkung akzeptiert hatte, auch wenn ihm durch Wölfe schreckliches Leid zugefügt worden war.

Ich vermisste ihn. Ich vermisste ihn schrecklich, auch wenn ich ihn nur ein paar Monate gekannt hatte.

Doch genau in diesem Moment wurde mir klar, dass ich ihn, Mik Venatores, als erstes ins Herz geschlossen hatte, aufrichtig und ehrlich, noch vor Alec, noch vor irgendjemandem sonst.

Und während ich dem Floß hinterhersah, wie es langsam auf das Wasser hinaus getragen wurde, umklammerte ich Alecs Hand noch fester.

Um ihn zu stützen. Aber auch mich.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit verging, wie lange wir dem Floss hintergestarrt hatten, ohne uns zu rühren, doch irgendwann zwang ich mich dazu, den Blick abzuwenden, immerhin brannten in eben jenem Moment drei weitere Kerzen.

Mein Blick glitt zu Alec und was ich sah, brach mir mein Herz.

Er saß da, die zitternden Lippen fest aufeinander gepresst, vollkommen blass, während er mit aller Macht versuchte, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Doch er schaffte es nicht.

Und während er Miks Kerze zitternd hinterhersah, benetzten die klaren Tränen seine Haut.

Ein Anblick, den ich zuletzt vermutlich unmittelbar nach Miks Tod gesehen hatte.

Er wollte es nicht, er wollte nicht weinen, das sah ich ihm an.

Vielleicht weil er dachte, er könnte es sich nicht erlauben, weil er dachte, dass es ihn schwach aussehen ließ, Schwäche, die er ganz bestimmt nicht zeigen konnte.

Doch in diesem Moment wurde mir etwas klar, wie mir vieles klar wurde an diesem Tag.

Es war wichtig. Es war wichtig, dass er weinte. So viele Monate hatte er alles zurück gehalten, hatte alles in sich hinein gefressen, weil er meinte, er könnte es sich nicht erlauben, zu weinen. Doch nur mit diesen Tränen, die er krampfhaft versuchte, zurückzuhalten, konnte er vollends loslassen.

»Ein weiser Mann sagte mir einmal«, hauchte ich und musste selber heftig blinzeln, während Alec seinen Blick zittrig zu mir wandt.

Ich atmete tief durch, schloss für einen Moment die Augen, spürte seinen Blick klar und deutlich auf mir.

»Er sagte, manchmal zeugt es von mehr Stärke und Mut, wenn man es einfach zulässt, zu weinen, anstatt es zurückzuhalten.«

Alec ließ den angehaltenen Atem raus, gab ein ersticktes Geräusch von sich und diese unglaubliche Traurigkeit in den grauen Augen brachte mich fast um.

»Er ist weg Aruna«, keuchte er mit bebenden Lippen.

»Mik ist weg.«

Ich verstand seine Worte kaum, so leise und zittrig klangen sie, doch in diesem Moment schien sich ein Schalter in seinem Kopf umzulegen, in diesem Moment hörten seine Lippen auf zu zittern, auch wenn sein Körper weiterhin aus purer Anspannung bestand.

Denn in diesem Moment ließ er es zu. Zumindest ein bisschen.

Ich seufzte schwer und nickte dann langsam, wenn auch ein wenig stockend.

»Und jetzt lassen wir ihn los. Damit er seinen Frieden findet. Genau wie wir«, hauchte ich und wandt mich dann langsam ab, strich die Träne weg, die mir die Wange hinunter lief.

Ich wollte jetzt nicht in Tränen ausbrechen, was ich ganz sicher tun würde, würde ich Alec weiter ansehen.

Egal, was ich gerade zu ihm gesagt hatte. Das galt für ihn. Nicht für mich. In diesem Moment war es nämlich meine Rolle, Alec zu zeigen, dass es weiter gehen würde, dass das Leben jetzt nicht endete.

Ich war die Hoffnung, die er in diesem Moment brauchte.

Mit zittrigen, klammen Fingern griff ich nach dem nächsten Floß, die Kerze war schon etwas abgebrannt.

Reiß dich zusammen Aruna, ermahnte ich mich, während ich das tanzende Flämmchen kurz betrachtete, das mir Tränen in die Augen trieb.

Ich drückte Alecs Hand noch ein wenig fester, als wollte ich ihm zeigen, dass ich noch da war und ließ dann auch dieses Floß in das Wasser gleiten, schubste es leicht an, damit es Miks folgen konnte.

»Für Aleyna.«

Aleyna, die ihr Leben gegeben hatte.

Ihr Leben. Zwei Mal.

Zum ersten Mal für mich. Zum zweiten Mal für Alec.

Und in diesem Moment hörte ich ein unterdrücktes Aufkeuchen, fast Wimmern hinter mir, das mir für den Moment den Atem nehmen wollte.

Ich presste meine Lider aufeinander, mein Mund öffnete sich in einem erstickten Geräusch, während mein Herz schwerer und schwerer pochte.

Meine Umklammerung wurde nur noch fester und in diesem Moment hätte ich nichts lieber getan, als den Ven in die Arme zu nehmen, doch ich musste das hier beenden.

Denn wir mussten loslassen, wir beide.

Zittrig griff ich nach den letzten beiden Flößen, kniff die Augen fest zusammen und hörte, wie das Blut in meinen Ohren rauschte.

Nur noch eine Bewegung Aruna, sagte ich mir. Eine Bewegung, dann ist es vorbei.

Ich atmete tief durch, spürte, wie Alec zitterte und ließ die beiden Flöße dann in das kalte Wasser gleiten.

»Für Ylva und Fenris«, hauchte ich, doch anders, als erwartet, schlug mein Herz nicht schwer wie nie, als ich dabei zusah, wie die Flöße sich durch meinen Stoß von mir entfernten.

Es war, als würde mir ein Gewicht von der Brust genommen werden, dass mein Herz zu lange hinab gedrückt hatte.

Denn in diesem Moment ließ ich los, je weiter sich die flackernden Kerzen entfernten.

Ich gab ein ersticktes Geräusch von mir, doch meine Mundwinkel zuckten nach oben, ich sah ihnen mit einem Lächeln hinterher.

Und dann, ohne zu zögern, drehte ich mich wieder zu Alec um, der mit starren Blick an mir vorbei sah, stumm weinte und zitterte, als wäre ihm furchtbar kalt.

Und das war das einzige, was mich in diesem Moment mit Schwere erfüllte. Alecs Trauer.

»Komm«, hauchte ich mit zittriger Stimme und zog ihn dann vorsichtig mit mir hoch, hatte irgendwie Angst, seine Beine würden nachgeben.

Und dann, plötzlich, kaum hatten wir uns aufgerichtet, sackte er beinahe nach vorne, ließ sich in meine Arme fallen und vergrub seinen Kopf tief in meinem Hals, während immer heftigere Schluchzer seinen Körper durchzuckten.

Ich seufzte schwer, doch legte meine Arme ohne zu zögern um ihn, drückte ihn tröstend an mich und stützte mein Kinn auf seiner Schulter ab, konnte die brennenden Kerzen so immer noch beobachten.

Alecs Zittern übertrug sich auf meinen Körper, während ich die warmen Tränen an meinem Hals spürte und meine Füße fest in den Boden stemmte, weil der Ven für den Moment nicht in der Lage war, sein Gewicht auszuhalten.

Beruhigend strich ich ihm über den breiten Rücken und hauchte ihm einen kleinen Kuss auf die bebende Schulter.

»Sie sind jetzt an einem besseren Ort Alec«, flüsterte ich, weil mir selbst dieser Gedanke unglaublich half.

Ich spürte, wie der Ven versuchte, sich zu einem Nicken durchzuringen, doch seine unterdrückten Schluchzer schienen das zu verhindern.

Ich seufzte schwer, strich weiter in kreisenden Bewegungen über seinen Rücken, während Alec es zum ersten Mal vollständig zuließ, dass ich ihn tröstete.

Und ich war ihm dankbar dafür, unglaublich dankbar. Wie hätte er mich auch besser zeigen können, wie sehr er mir vertraute?

Seufzend schloss ich die Augen, spürte Alecs Wärme auf meiner Haut, die langsam die Kälte vertrieb.

Und ohne, dass ich es richtig bemerkte, fing ich an zu summen. Ein beruhigendes Lied, das mir meine Mutter immer vorgesungen hatte, wenn ich traurig war.

Und ich summte es, während ich Alec unaufhörlich über den Rücken strich, summte es, während ich ihn tröstete, summte es, während ich ihn auffing.

Und dann, plötzlich, spürte ich die erste, kalte Berührung auf meiner Nasenspitze.

Blinzelnd öffnete ich die Augen und als ich mich umsah, schien mein Herz mit einem Mal unglaublich leicht zu werden, während sich meine Mundwinkel hoben, auch wenn Alec und ich für dieses Wetter vielleicht ein wenig ungeeignet gekleidet waren.

Immerhin hatten wir immer noch bloß Alecs Lederjacke und meine Strickjacke.

Doch das war in diesem Moment irgendwie seltsam egal. Denn es schneite. Der erste Schnee am Ende dieses Jahres.

Es waren keine großen Flocken. Ganz feine, die sofort wieder schmolzen, wenn sie den Boden berührten.

Doch sie waren da. Sie waren da, klar und wunderschön und umtanzten unsere Körper und ließen alles so unglaublich magisch wirken.

Außerdem, dachte ich mit einem Lächeln, denn es hätte nicht passender sein können, außerdem läuteten sie einen Neuanfang ein.

Eine neue Jahreszeit. Ein Neustart.

Fast glücklich seufzte ich, während Alecs bebender Körper sich langsam beruhigte.

»Es schneit«, hauchte ich leise und als Alec langsam aufsah, fiel mein Kopf auf seine Brust hinab, während er nun über meine Schulter sah, für einen Moment die tanzenden Flocken beobachtete.

Dann hob ich meinen Kopf, drückte mich etwas von ihm und musterte ihn prüfend.

Sein Blick fiel auf mich hinab. Kleine, weiße Flocken verfingen sich in seinem dunklen Haar, während seine Augen ziemlich rot wirkten, doch noch nie schien mir das Grau durchdringender, als in diesem Moment.

Und dann plötzlich zuckten seine Mundwinkel. Ein Stück, nur ein ganz kleines Stückchen, doch da war er wieder, mein Mundwinkelzuckender Alec.

»Wenn du das hier irgendjemandem erzählst, bring ich dich um Davis«, drohte er dann mit leiser, brüchiger Stimme und ich konnte es nicht verhindern, breit zu Grinsen.

So gefiel er mir gleich viel besser.

»Na was ein Glück, dass ich nicht Davis heiße«, erwiderte ich feixend und als Alec dann sogar leise lachte, konnte ich die Erleichterung, die in der Luft lag, geradezu spüren.

»Idiot«, murmelte Alec nur kopfschüttelnd, doch ungeachtet unserer Worte standen wir da und grinsten, egal, was gerade passiert war.

Oder vielleicht gerade deswegen. Vielleicht machte uns dieser Abschied leichter, als wir beide jemals vermutet hätten.

◊♠

»Doch, ganz bestimmt, es war der Moment damals im Zeltlager.«

»Ach halt doch die Klappe.«

Entnervt verdrehte ich meine Augen und ärgerte mich zum gefühlt hundertsten Mal darüber, dass ich Alec davon erzählt hatte, dass Aleyna meinte, ich hätte mich auf ihn geprägt.

Denn das war irgendwie das einzige Thema, das Alec seit Stunden beschäftigte.

Mir hingegen war es irgendwie peinlich, auch wenn das absolut keinen Sinn machte.

Alec zuckte mit den Schultern, während wir auf den Reisebus zuschlenderten, der uns nach Little Falls bringen würde.

Naja, zumindest in einen Nachbarort, ab da würden wir dann laufen müssen, aber um den Kopf klar zu kriegen war das vermutlich ganz gut.

Ich hatte Alec nämlich verboten, den Rückweg selber zu fahren, weil ich fürs erste wirklich genug davon hatte, deshalb hatten wir ihn mit Bussen angetreten, wofür Mysti und das Geld gegeben hatte.

Überrascht keuchte ich auf, als ich plötzlich heftig von hinten angerempelt wurde und hätte Alec mich nicht geistesgegenwärtig an meinem Arm gepackt, wäre ich ganz bestimmt hingefallen.

»Entschuldigung«, keuchte ein dicklicher, kleiner Mann gehetzt, der wohl noch mit aller Macht versuchte, seinen Zug zu bekommen.

Ich hasste es, wie voll es an diesem Bahnhof war.

»Idiot«, murmelte Alec, doch ich zuckte bloß mit den Schultern.

»Er hat sich entschuldigt«, kommentierte ich, beschloss dann allerdings, dass es allerhöchste Zeit war, das Thema zu wechseln.

»Was meinst du, wie es Gabe gerade geht?« Bei dem Gedanken an den blonden Jungen überkam mich direkt wieder ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht mehr dafür getan hatte, um ihn davon zu überzeugen, mit uns zu kommen.

Es war schrecklich gewesen, damals in dieser Lagerhalle und für einen Moment hatte ich wirklich gedacht, Gabe wäre tot.

Doch dann, als Alec mir bereits vorsichtig zu erklären versuchte, dass wir nichts mehr für diesen blassen, ausgemergelten Körper tun konnten, hatte eben jener Körper nach Luft geschnappt wie ein Ertrinkender.

Er war am Leben.

Wir hatten ihn zu Mysti gebracht und sie hatte es zwar nicht ausgesprochen, aber dort hatten wir Gabe beinahe verloren, weil er so schwach gewesen war.

Ich hatte darauf bestanden, bei ihm zu bleiben, bis er wieder aufwachte, was der Grund war, warum wir Wohl oder Übel noch zwei Wochen länger bei Mysti verbracht hatten, egal, wie sehr es uns beide nach Hause zog.

Und dann war Gabe endlich aufgewacht.

Er hatte sich bemüht, hatte sich wirklich bemüht, möglichst normal mit mir zu reden, doch ich hatte es an seinen Augen gesehen. Sie waren leer gewesen. Gabe war erschöpft. Von allem.

Ich hatte ihn fast angefleht, mit uns nach Hause zu kommen, doch er hatte sich geweigert.

Er würde es nicht schaffen, hatte er gemeint. Noch nicht. Er würde es noch nicht schaffen, an diesen Ort zurück zu kehren.

Alec seufzte und legte mir beschwichtigend eine Hand auf die Schulter, während er einer Truppe Touristen auswich.

»Du solltest dir nicht so viele Gedanken machen. Der Junge hat schreckliches erlebt, kein Wunder, dass er nicht sofort heimkehren möchte. Mysti hat uns versprochen, dass sie auf ihn aufpassen wird, Gabe braucht diese Zeit einfach noch. Außerdem: Hat er dir nicht versprochen, er würde nachkommen?«

Ich seufzte schwer, nickte dann allerdings. Ja, das hatte er. Trotzdem machte ich mir Sorgen.

Zufrieden nickte Alec.

»Na also.«

Wir kamen bei dem Bus an, vor dem sich schon einige andere Reisende tummelten und ich zog unsere Fahrkarten aus meiner Jackentasche.

Sechs Stunden. Sechs Stunden würden wir fahren. Und ich betete, dass ich diese Stunden überstehen würde, weil mein Magen bekanntlich ja nicht so der Freund von Bussen war.

Nichts desto trotz besser, als mit Alec im Auto zu fahren. Nicht, weil er ein schlechter Fahrer gewesen wäre, sondern einfach, weil mir weitere illegale Aktivitäten für einen Neuanfang irgendwie nicht passend erschienen.

»Bis wo fährt der Bus nochmal?«, fragte Alec mit Blick auf die Karten und runzelte die Stirn, während irgendeine Gruppe von Mädchen hinter mir kicherten, die ganz offensichtlich auch mit unserem Bus fuhren.

»Eastraven«, murmelte ich gedankenverloren und drehte die Karten fast nervös in meinen Händen.

Eastraven. Da, wo Ben einst lebte.

Ich wusste nicht, welches Gefühl bei dem Gedanken überwog. Ein schlechtes Gewissen, weil er nie wieder in sein altes Leben zurück kehren würde? Oder die Freude, dass ich ihn in wenigen Stunden wiedersehen würde?

Bei dem Gedanken umklammerte ich die Tasche, die Mysti uns mitgegeben hatte, noch ein bisschen fester und spürte die runde Wölbung der Schneekugel unter meinen Fingern.

Bald Benni, bald bin ich wieder da.

»Ab da müssen wir dann laufen«, erzählte ich weiter, auch wenn Alec und ich das schon mindestens drei Mal durchgesprochen hatte.

Aber vermutlich lag diese steife Unterhaltung hauptsächlich an unserer Nervosität. Denn in wenigen Stunden würden wir auf unsere Familien treffen.

»Du hast gestern noch mal mit Lila telefoniert?«

Eine unnötige Frage, weil wir auch das schon durchgesprochen hatten. Alec nickte steif.

»Ja. Sie und die anderen werden unsere Clans auf die große Lichtung östlich der Schule führen. Im Moment herrscht eine angespannte Waffenruhe. Lila meinte ja, der Kampf zwischen unseren Familien hätte beinahe begonnen, die Ven waren bereits in den Wald vorgedrungen und standen den Lykanthropen gegenüber, als die Hybriden kamen. Sie haben gemeinsam gegen sie gekämpft und als du den Vampir besiegt hattest, sind sie so wie er alle zu Asche zerfallen. Lila hat es ihnen allen noch im Wald erklärt, dass du lebst und was wir beide vorhatten. Irgendwie hat sie es geschafft, beide Seiten zu überzeugen, die Waffen niederzulegen, auch wenn die Hybriden schon so einiges an Arbeit dafür geleistet hatten. Und irgendwie hat sie selbst meinen Vater überzeugt, sodass er auf das Treffen mit deinem Rudel, meinem Clan und uns beiden eingewilligt hat.«

Ich seufzte schwer, nachdem ich Alecs mechanischer Erzählung gelauscht hatte, die ich gestern schon einmal gehört hatte.

Ich versuchte die Übelkeit zu unterdrücken, die aufkam, als ich daran dachte, was gewesen wäre, wenn die Hybriden nicht gekommen wären, doch gleichzeitig grauste es mich vor der Tatsache, dass sie da gewesen waren, was sie alles angerichtet hatten.

Es gab Tote. Natürlich gab es die.

Doch Alec versicherte mir, dass es meiner Familie, sowie meinen Freunden gut ging, da Lila sonst etwas gesagt hätte.

»Das wird nicht einfach«, seufzte ich.

»Sie davon zu überzeugen, dem Frieden zuzustimmen.«

Alec seufzte schwer und nickte. Dann versuchte er ein möglichst optimischisches Lächeln.

»Aber hey, Lila und die anderen haben wir zumindest schon einmal überzeugt und die werden noch andere überzeugen, außerdem meintest du, Eza und Cole werden sich auch für dich einsetzen und der Kampf gegen die Hybriden hat sie alle sowieso ein wenig mehr zusammengeschweißt, ob sie nun wollen oder nicht.«

Ich nickte, doch anders als er, konnte ich mich nicht zu einem Lächeln durchringen, einfach, weil der Schatten des Treffens viel zu sehr auf mir lastete.

Und da war noch etwas anderes. Etwas, was mir fast ebenso viele Bauchschmerzen bereitete, weil ich gezwungen war, meine Familie und Freunde wieder anzulügen.

»Es ist das beste so, das weiß ich, einfach, weil wir es erst einmal schaffe müssen, wenigstens ein bisschen Vertrauen zwischen Lykanthropen und Ven zu legen und sie nicht direkt mit sowas überfordern sollten, immerhin wissen wir ja nicht, wie sie reagieren würden, aber ich hasse den Gedanken, sie alle wieder anzulügen.«

Alec seufzte und nickte, ohne ein Wort zu sagen.

Noch bei Mysti hatten wir beschlossen, dass es das Beste wäre, unsere Beziehung zunächst aus all dem heraus zu halten, immerhin verlangten wir schon schier Unmögliches von ihnen, wenn wir forderten, dass sie all die Jahre der Gewalt und des Hasses vergessen sollten, um aus den Waffenstillstand Frieden zu machen.

Da direkt noch zu verlangen, uns zu akzeptieren, wäre einfach nicht fair, das war mir klar.

Trotzdem gefiel mir der Gedanke nicht, genau so wenig wie Alec.

»Sie müssen sich erst daran gewöhnen, die Feindschaften niederzulegen«, murmelte Alec, doch dann hellte sich seine Miene wieder etwas auf.

Grinsend legte er mir einen Arm um die Schulter und zog mich an seine Seite, was mich dazu brachte, fragend meine Brauen zu heben.

»Aber dann«, grinste er und blickte verheißungsvoll auf mich hinab.

»Dann machen wir es mindestens genau so spektakulär wie Gabe und Fenris.«

Bei dem Gedanken musste auch ich anfangen zu grinsen und als ich an den Tag zurück dachte, fing mein Herz glücklich an, ein wenig schneller zu schlagen, ungeachtet der Tatsache, was danach mit Bane passiert war.

Ja, ich musste zugeben, irgendwie gefiel mir der Gedanke. Und wie hatte ich damals so schön gesagt? Die Dramaqueen lag wohl in unserer Familie.

»Ist das ein Versprechen?«, feixte ich und blickte auffordernd zu ihm hinauf.

»Immer«, erwiderte er ebenso grinsend und deutete dann mit seinen Kopf zu den Türen des Busses, die sich geöffnet hatten, ohne, dass ich es gemerkt hatte.

»Und jetzt lass uns einsteigen, sonst starren die sich noch die Augen aus dem Leib.«

Verwirrt hob ich eine Braue, Alecs Arm immer noch um meine Schulter, doch da fiel mein Blick auf die Gruppe von Mädchen, die eben schon so gekichert hatten.

Als sie meinen Blick bemerkten, senkten sie alle hastig die Augen, doch ihr Getuschel konnte ich trotzdem noch hören.

Fast automatisch wurde mein Grinsen noch breiter. Ganz viele kleine Lucys also.

Gott, war es komisch, wenn ich sagte, dass ich selbst dieses braunhaarige, Alec anschmachtende Mädchen vermisst hatte? Vermutlich ja, aber das war mir so ziemlich egal.

Ich musterte die Mädchen für einen Moment, die Alecs Arm um meine Schulter wohl in helle Aufregung zu versetzen schien.

Dann blickte ich mit einem breiten Grinsen zu Alec hinauf, der mich prüfend musterte, als würde es ihn wirklich interessieren, wie ich auf die kichernden Mädchen reagierte.

»Tja«, meinte ich trocken und hob fast provozierend meine Brauen.

»Ich bin halt scharf.«

Und da brach Alec in schallendes, prustendes Gelächter aus, was die Mädchen überrascht aufblicken ließ, mich allerdings nicht wenig später ansteckte.

Er war ein Idiot. Aber das war ich auch. Und das war vermutlich auch gut so.

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