12

»Hey Benni.«

Mit zittrigen Händen schloss ich die dunkle Holztür hinter mir und ließ meinen Blick kurz über den kleinen, bekannten Raum schweifen.

Gott, wie viele Stunden, wie viele Nachmittage, hatte ich wohl schon hier verbracht, einfach, um mit Ben zu reden.

Und dann fiel mein Blick auf eben jenen.

Ich musste schlucken.

Da lag er. Gott, wie blass er doch war...

Das braune Haar schien länger und ließ seine Haut nur noch heller wirken und durch die entspannten Gesichtszüge könnte man beinahe denken, er würde bloß schlafen.

Doch sein dürrer, eingefallener Anblick vernichtete diesen Gedanken dann wieder vollkommen.

Wenn er wieder wach war würde ich ihn erst einmal mästen, nur, damit das klar war.

Langsam ging ich auf ihn zu und musste kurz mit meinen Gefühlen kämpfen, während ich ihn so ansah, blass und schwach.

Ich ließ mich auf den Stuhl neben seinem Bett fallen und griff seufzend nach seiner Hand, die einfach vollkommen erschlafft in meiner lag.

Kopschüttelnd beugte ich mich vor, strich ihm behutsam ein paar der dunklen Strähnen von der Stirn und hauchte einen kleinen Kuss hinauf.

»Du glaubst gar nicht, wie leid mir das alles tut Ben«, murmelte ich und lehnte meine Stirn für einen Moment gegen seine.

»Das alles hätte niemals passieren dürfen... Ich wollte dich da nicht mit hinein ziehen, gerade dich...«

Ich seufzte und strich ihm ein letztes Mal sanft über die eingefallene Wange, dann lehnte ich mich etwas zurück.

»Du wirst nicht glauben, was für verrückte Sachen passiert sind. Vielleicht bin ja diesmal ich diejenige, die dich mit Vorträgen löchert. Aber jetzt ist erstmal Zeit, um aufzuwachen, findest du nicht?«

Ein leichtes Grinsen schlich sich auf mein Gesicht, während ich die goldenen Schnallen der Tasche aufklappen ließ.

»Wer hätte gedacht, dass das erste Geburtstagsgeschenk, das du wohl jemals in deinem Leben gemacht hast, eine so große Bedeutung haben würde?«, murmelte ich und griff das kalte Glas mit meinen Fingern, um die Kugel dann ganz behutsam herauszzuziehen.

Für einen Moment betrachtete ich sie. Den heulenden Wolf, die kleine Amsel, den Bach, die Bäume.

Dann stellte ich sie seufzend auf Bens Nachttisch, ganz dicht an seinen Kopf dran, als hätte ich Angst, es würde sonst nicht funktionieren.

Erwartungsvoll sah ich auf Ben herab.

»Zeit zum aufstehen Benni«, flüsterte ich, ließ meinen Blick zwischen Ben und der Kugel hin und her wandern.

Eine Sekunde. Zwei. Drei.

Nichts. Es geschah absolut gar nichts.

Ich zwang mich, meine Nervosität hinunterzuschlucken und drückte Bens Hand stattdessen nur noch ein bisschen fester.

»Keine Sorge. So lange wie du geschlafen hast, braucht das ein bisschen«, murmelte ich, vielmehr um mich selbst zu beruhigen, als den schlafenden Jungen.

Sekunden verstrichen. Minuten.

Nichts geschah.

Langsam wurde ich nervös, rückte die Kugel zur Sicherheit noch etwas zurecht.

»Das braucht ein bisschen«, versicherte ich Ben wieder und strich nervös über seinen Handrücken.

Doch seine Augen ruhten weiterhin stumm, während seine Wimpern dunkle Schatten auf seine eingefallenen Wangen warfen.

Weitere Minuten.

Nichts.

Und langsam bekam ich Angst.

»Okay Benni, wenn du mich hören kannst, konzentrier dich einfach auf meine Stimme, ja? Du musst ihr nur folgen und deine Augen öffnen. Ich weiß, das ist vielleicht nicht leicht nach all der Schwärze, aber welche Aufgabe gäbe es schon, die mein Ben nicht lösen könnte, hm?«

Am Ende lachte ich nervös auf, keine Ahnung ob ich so mich oder Ben beruhigen wollte.

Vermutlich keinen von uns. Denn Beruhigen war alles aber nicht das.

»Ich erzähl dir jetzt einfach ein bisschen was, ja?«

Kurz überlegte ich, was ich ihm so erzählen könnte und dachte darüber nach, irgendwelche Harry Potter Anekdoten bezüglich Percy Weasley auszupacken, weil das Bens unumstrittener Lieblingscharakter in dieser Saga war, doch entschied mich dann doch dagegen, weil ich dafür jetzt bestimmt keinen Nerv hatte.

»Die letzten Wochen waren verrückt Benni... Du erinnerst dich ja bestimmt an Alec? Ich habe dir ja schon erzählt, was mit Ylva, Fen und Gabe passiert ist, oder? Naja, Alec und ich haben uns auf den Weg gemacht, mysteriösen Ihn zu finden. Ein Vampir Ben, stell dir das doch mal vor. Vollkommen verrückt seit dem Tod seiner Tochter. Aber weißt du was Ben? Gabe lebt. Und bald wird er zurück kommen. Wenigstens das kann ich dir zurück geben wenn schon nicht alles andere. Achja. Und vielleicht noch ein bisschen mehr. Erinnerst du dich an Siren? Naja, also an ihren Namen bestimmt nicht, aber das war das Mädchen mit den schwarzen Haaren, die immer so an Alec hing. Weißt du was sich herausgestellt hat?«

Lächelnd strich ich ihm wieder ein paar Strähnen von der Stirn und erwischte mich selbst dabei, wie ich nach Ähnlichkeiten zwischen ihm und Siren suchte.

Die Nase? Nein. Sirens war schmaler.

Die Haare? Bens waren heller.

Die Augen? Siren hatte grüne Augen, Ben hingegen Braune.

Die Lippen? Ich stockte. Jetzt, wo ich so drüber nachdachte fiel mir tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit auf.

Ich musste Grinsen. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, aber warum sollte das denn so abwegig sein?

»Sie ist deine Schwester Ben. Gabes und deine«, hauchte ich schließlich und es war immer noch vollkommen komisch, diese Tatsache so offen auszusprechen.

Siren, Gabe und Ben. Die De Angelis.

Ich runzelte die Stirn. Aber wie war es geschehen, dass Siren ganz offenbar schon in jungen Jahren zu den Ven gekommen war?

Wusste Gabe, dass Siren seine Schwester war, oder woher wusste es der Vampir sonst? In dem ganzen durcheinander hatte ich vollkommen vergessen, Gabe zu fragen, was ich allerdings definitiv nachholen würde, wenn er wiederkam.

Ben für seinen Teil hatte es ganz sicher nicht gewusst. Im Schauspielern war er eine absolute Null und so oft wie er Siren in der Schule gesehen hatte, hätte er ganz sicher auf sie reagieren müssen.

Seufzend ließ ich meinen Kopf auf die weiche Matratze fallen, Bens Hand immer noch fest umklammert.

»Ben?«, murmelte ich und wartete für einen Moment tatsächlich auf eine Antwort.

Doch der blasse Junge blieb vollkommen still. Also schloss ich die Augen und redete einfach weiter.

»Bitte wach auf. Ich vermisse dich.«

◊♠

Eine Berührung an meiner Schulter. Dann ein behutsames Ruckeln.

»Aruna?«

Ich war eingeschlafen. Und plötzlich begann mein Herz heftig gegen meine Brust zu schlagen.

Ben!

Mein Kopf schnellte in die Höhe, ich hörte ein erschrockenes Aufjapsen, dann riss ich meine Augen auf.

Für einen Moment war ich noch vollkommen orientierungslos, doch voller Vorfreude, endlich wieder in diese braunen Augen sehen zu können.

Doch als sich meine Sicht langsam wieder klärte, fiel mein Blick auf das Bett vor mir.

Da lag er. Vollkommen regungslos. Die Augen fest geschlossen. Weiterhin gefangen in seinem tiefen Schlaf.

Ich blinzelte heftig und konnte den Kloß, der sich in meinem Hals hinauf bahnte, nicht verhindern.

»Ben?«, hauchte ich mit krächziger Stimme und musste heftig blinzeln.

Er schlief... Er schlief immer noch.

»Tut mir leid«, murmelte plötzlich jemand hinter mir und erst jetzt schien ich richtig zu realisieren, dass noch jemand anderes in diesem Raum sein musste.

Erschrocken wirbelte ich herum. Und da stand er. Cole, mit einer fast schuldbewussten Miene.

Ich blinzelte heftig, während er sich nervös das verwuschelte Haar noch hinten strich.

»Cole?«, fragte ich verwirrt und vermutlich etwas zu zittrig.

Langsam nickte er.

»Deine Mutter meinte, ich sollte dich rein holen. Du sitzt jetzt schon seit zwei Stunden hier.«

Doch ich schüttelte entschlossen den Kopf.

»Nein! Ich lasse ihn doch jetzt nicht alleine! Ich muss bei ihm sein, wenn er aufwacht!«

Cole seufzte schwer und kniete sich dann auf einmal vor mich hin, sah mir fest in die Augen.

»Hör mal Aruna, ich kann verstehen, wie schwer das für dich ist und wie sehr du dir wünschst, dass er endlich wieder aufwacht. Aber du weißt nicht, wie lange es braucht, bis diese Schneekugel überhaupt wirkt. Findest du nicht, dass du nach all den Wochen wenigstens einmal ein wenig erholsamen Schlaf verdient hast?«

Ich senkte den Blick während er die Hände auf meine Knie stützte und schüttelte dann langsam den Kopf.

»Aber ich kann ihn doch nicht einfach alleine lassen Cole... Er wird ganz sicher schreckliche Angst haben und wenn ich nicht da bin... Ich muss bei ihm sein...«

Cole griff nach meinen Händen.

»Mindestens ein Arzt hat Nachts Wachdienst und sie werden augenblicklich zu uns kommen, wenn dein kleiner Freund hier aufwacht, okay? Sie werden dich sofort holen. Du wirst bei ihm sein. Aber bitte Aruna, ruh dich nach all dem erst einmal aus.«

Ich blieb still, während Cole nicht von meinen Händen abließ und mich eindringlich ansah. Er hatte ja Recht...

Aber Ben jetzt einfach hier zu lassen kam mir wie halber Verrat vor.

»Bitte«, hauchte Cole dann plötzlich.

»Komm mit mir Aruna.«

Ich seufzte, warf einen letzten Blick auf Ben und nickte dann müde. Immerhin war ich wirklich unglaublich erschöpft und von der ungemütlichen Position, in der ich geschlafen hatte, tat mein Rücken furchtbar weh.

»Er wird aufwachen«, murmelte ich, während ich mich müde aufrichtete und mir über die Augen rieb.

»Das weiß ich Cole... er wird aufwachen...«

Cole nickte und legte mir sanft einen Arm um die Schulter, drückte mir einen kleinen Kuss auf den Scheitel.

»Das wird er«, bestätigte er, während er mich vorsichtig aus der Hütte lotste.

Vollkommen stumm liefen wir über den großen Platz, auf dem nun die Statue thronte und ich verspürte nicht wenig Lust, meinen Kopf einfach gegen Coles Schulter sinken zu lassen und hier und jetzt einzuschlafen.

Ein merkwürdiges Kribbeln machte sich in meinem Bauch breit, während wir die Stufen zu unserer hölzernen Veranda hinauf stiegen.

Es war so vertraut. Alles. Die dunkelrote Tür, das gewundene Geländer, die kleine, goldene Glocke, die eine Klingel ersetzte.

Cole öffnete die Tür.

Und da war es. Unser Wohnzimmer mit der offenen Küche. Der große, hölzerne Esstisch an dem meine Familie und ich aßen. Die helle Couchgarnitur und die Topfpflanzen meiner Mutter.

Dutzende Kinderfotos von meinen Geschwistern und mir. Das absolute Lieblingsfoto meiner Eltern, dass sie in Großausgabe und im goldenen Rahmen an die Wand gehängt hatten.

Eine kleinere, pummligere Version meiner Selbst, gerade einmal drei Jahre alt und pausbäckig. Ich saß in Mitten einer riesigen Matschpfütze, von oben bis unten voll mit dem Zeug, sodass man nicht einmal mehr erkannte, dass die kleinen Locken auf meinem Kopf rot waren.

Als hätte ich mich in der Pfütze gewälzt, was ich vermutlich auch getan hatte. Aber ich strahlte. Strahlte so breit dass ich meine Fröhlichkeit von damals jetzt noch spüren konnte, während die sieben, vielleicht achtjährigen Zwillinge, die man im Hintergrund sehen konnte, lauthals lachten, sich die Bäucher hielten und ganz offenbar versuchten, mich mit einem Stock, an dem ein kleiner Fischcracker dranhing, aus der Pfütze herauszulocken, die ich wohl zu meinem neuen Lieblingsplatz auserwählt hatte.

Ich konnte ihr Lachen jetzt noch hören und musste augenblicklich anfangen, etwas zu grinsen.

Keine Ahnung, wie viele Bilder von mir und meinen Geschwistern insgesamt existierten, aber quasi das ganze Haus war damit tapeziert. Ein Haus voller Erinnerungen.

Wie die Erinnerung, die direkt neben dem Bild von mir und der Pfütze hing. Mein elfjähriges Ich mit rot gequollenen Augen und dem stolzesten Lächeln, das ich wohl jemals gelächelt hatte, während die Tränen immer noch meine Wangen hinab liefen.

Denn das war das erste Mal, in dem ich Lupa und Phelan auf meinen Armen gehalten hatte. Die beiden waren so winzig gewesen, eingewickelt in meinen Armen wie kleine Würmchen. Beide schliefen.

Ganz anders als ich waren sie nämlich absolut ruhige Babys gewesen. Ich war das komplette Gegenteil, ein Schreibaby durch und durch.

Ich musste grinsen. Und da waren Ylva und Fenris mit sechs Jahren, wie sie sich gegenüber saßen und ein kleines, Lockenköpfiges Mädchen dazu ermutigen wollten, zu laufen.

Ich hingegen hatte wohl nicht sonderlich viel Lust darauf gehabt und schmiegte mich einfach mit zufriedenem Gesichtsausdruck in Ylvas geöffnete Arme, nachdem ich von Fenris zu ihr vielleicht zwei wacklige Schritte gelaufen war und allem Anschein nach keine Lust mehr hatte.

Mein Blick wanderte zum Anfang dieser riesigen Bildergalerie. Ylva und Fenris als kleine Babys und meine stolze Mum, wie sie sie kurz nach der Geburt hielt.

Fotos, wie sie immer mehr wuchsen, welche vom ersten Brei folgten, wie sie laufen lernten, Grimassen schnitten, die ersten Worte, zumindest nach der Beschriftung der Bilder.

Und dann war ich da gewesen. Ein schreiendes, rosanes Ding, unglaublich winzig.

Die Bilder bekamen nun einen deutlichen roten Anteil. Und schließlich waren da Lupa und Phelan.

Ich musste kurz schlucken. Das letzte Bild war etwa ein halbes Jahr her. Erschreckend, wenn ich daran dachte, dass ich Alec damals schon gekannt hatte. Denn es war mein siebzehnter Geburtstag gewesen.

»Aruna?«, ertönte Coles behutsame Stimme dann plötzlich neben mir.

»Kommst du?«

Hastig blinzelte ich die Tränen weg, weil mich all diese Erinnerungen irgendwie überwältigten. Wir waren eine perfekte kleine Familie gewesen, wir sieben, in unserer kleinen Welt, in unserer kleinen Seifenblase voller Glück.

Und jetzt waren wir nichts mehr davon... Und das alles nur, weil ich dieses beschissene Zeichen auf meinem Rücken trug...

Als Cole bemerkte, dass ich heute wohl nicht mehr viel zu Stande bringen würde, packte er seufzend meine Hand und zog mich in den Flur, der zu dem Schlafzimmer meiner Eltern, einem Badezimmer und ihrem Arbeitszimmer führte.

Natürlich war auch der mit Bildern tapeziert.

Auf einem davon war ich mit meiner Patentante Rey abgebildet. Ich war vielleicht sechs und thronte mit stolzem grinsen auf ihrem Schoß, während sie mir kleine Blumen ins Haar flocht.

Sie hatte erschreckende Ähnlichkeiten mit meinem Vater, aber immerhin war sie auch sein Zwilling.

Tante Rey führte gemeinsam mit ihrem Mann und zwei Kindern, die beide ein Jahr älter waren als ich, ein abgeschiedenes Leben irgendwo in Canada. Sie war immer schon ein Freigeist gewesen und hatte sich nicht mit dem Stress eines Rudels belehnen wollen, genau so wenig wie der Zwilling meiner Mutter, Onkel Vi.

Meines Wissens nach lebte er irgendwo in Europa, wechselte immer mal wieder seine Frauen, egalb ob nun Inbec oder Wolf. Aber er war der lustigste Onkel, den man sich vorstellen konnte, unglaublich cool, wenn ihr mich fragt. Einer jener Typen von Onkel, die mit einem all den Scheiß machten, den die Eltern einem verboten.

Die Zwillinge meiner Eltern lebten also ein ziemlich unbeschwertes Leben. Aber immerhin hatten weder Vi noch Rey wirklich Pflichten und konnten sich solch ein Leben erlauben, da ihre älteren Geschwister die Rudel ihrer Eltern übernommen hatten.

Nur meine Eltern hatten sich dazu entschieden, ein Rudel zu gründen, welches mittlerweile fast doppelt so groß war wie die ihrer älteren Geschwister.

Um ehrlich zu sein sah ich meine Familie nicht wirklich oft, weil sie überall verstreut war.

Einmal in zwei Jahren bemühten wir uns zwar, zusammen zu kommen, doch meine Patentante hatte ich das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen.

Sah man ja, wie gut das klappte.

Ich seufzte und folgte Cole die Treppe hoch.

Insgesamt vier Türen. Mein Zimmer ganz am Ende des Ganges, daneben das Bad und schließlich zwei Türen, die jeweils zu Ylvas und Fenris Schlafzimmer führten.

Eine weitere, schmale Treppe führte nach oben unter ein geräumiges Dachzimmer, dass sich Lupa und Phelan teilten.

»Ich geh nochmal eben ins Bad«, murmelte ich, während Cole sich schon auf den Weg in mein Zimmer machte.

Mum hatte absolut Recht gehabt, dass sie sich alle bei mir einquartieren würden. Aber wie könnte ich nach all dem jemals etwas dagegen haben?

Er nickte, lächelte mir kurz zu und verschwand dann durch die letzte Tür.

Seufzend warf ich den Zimmern meiner älteren Geschwister einen Blick zu.

Alles wirkte so normal, als würden sie jeden Moment aus ihren Türen heraus kommen, mir das Haar verwuscheln und gemeinsam zum Frühstück gehen.

Ich musste schwer schlucken. Während Alec und ich quer durch Amerika gereist waren, war es einfach gewesen, ihren Verlust zu verdrängen, aber hier mit all diesen Erinnerungen...

Das war eben eine Wunde, die niemals vollständig verheilen würde, immerhin waren sie meine großen Geschwister gewesen, meine Vorbilder, meine Beschützer, Menschen die ich bedingungslos liebte und das seit Stunde null.

Ich seufzte schwer und zwang meine Füße dann, ins Bad zu gehen, zwang meine Hände, die Tür hinter mir zu schließen, einfache Tätigkeiten, die mir auf einmal merkwürdig schwer fielen.

Ein paar Mal blinzelte ich heftig, um mich wieder zu fangen, stützte mich am Waschbecken ab und hob dann den Blick.

Beinahe wäre ich zusammengezuckt.

Ich sah grauenvoll aus. Aber das war in letzter Zeit nichts neues.

Meine Haut war kalkweiß, mein Haar vollkommen wirr und die tiefen Augenringe bildeten einen starken Kontrast zu meiner blassen Haut.

Wie spät war es überhaupt?

Mein Blick fiel auf den kleinen Wecker, den Lupa immer dazu benutzte, die Zeit zu stoppen, wenn sie die Zähne putzte.

Halb drei.

Ich würde definitiv so lange ausschlafen, wie ich es seit Wochen nicht mehr getan hatte.

Um ehrlich zu sein wusste ich selbst nicht genau, warum ich noch kurz ins Bad hatte gehen wollen.

Vermutlich um für einen Moment meine Ruhe zu haben. Versteht mich nicht falsch, ich liebte die Anwesenheit dieser ganzen Menschen und wollte sie nie wieder missen, allerdings konnte das mitten in der Nacht nach der aufwühlenden Erkenntnis, dass Ben nicht sofort aufwachen würde, ziemlich überfordernd wirken.

Ben... Ich schluckte schwer.

Reiß dich zusammen Aruna! Morgen wird er wach sein. Ganz sicher!

Und dann spürte ich plötzlich ein schmerzhaftes Ziehen an meinem Oberarm.

Überrascht zischte ich auf, das Ziehen verwandelte sich in ein Brennen und trieb mir die Tränen in die Augen.

Was zum...?

Heftig blinzelnd zog ich den Reißverschluss meiner Strickjacke nach unten und warf sie unachtsam auf den Boden.

Das Ziehen verwandelte sich in ein heftiges Pochen, als wäre in eben diesem Moment ein zweites Herz in meinem Arm erwacht, was eine absolut bizarre Vorstellung war, wenn ihr mich fragt.

Behutsam krempelte ich den Ärmel meines T-Shirts hoch.

Und dann erstarrte ich. Für einen Moment blieb mir die Luft weg, ich wagte es nicht, zu atmen, mein gesamter Körper fing an wie wild zu zittern.

Denn da war es. Tiefschwarz hob es sich von meiner Haut ab, geschwungene Linien, die ich unter anderem Umständen wohl als wahres Kunstwerk bezeichnet hätte.

Doch das war es nicht. Denn es war ein Prae.

Schweratmend und mit heftig wummerndem Herzen musste ich mich wieder am Waschbecken abstützen, meine Augen weit aufgerissen.

Ein verdammtes, weiteres Prae.

Durch das ganze Chaos in North Carolina, die Sache mit dem Kuss und Mysti und dem Vampiren und einfach allem, hatte ich kaum Zeit gehabt, großartig weiter über das erste Prae nachzudenken.

Doch nun krachte die Realisation wieder mit voller Wucht auf mich ein, ließ mich heftig blinzeln und nach Luft schnappen.

Ein verdammtes, weiteres Prae.

»Nein«, hauchte ich und rieb heftig über das neu entstandene Schwarz, als könnte ich es einfach wegwischen, doch die gereizte Haut antwortete mir bloß mit einem wütenden Stechen, dass mich zischend zurückzucken ließ.

Meine Knie wurden weich und drohten nachzugeben.

Was passierte mit mir?

Ich musste schwer schlucken, versuchte meine zitternden Glieder zu beruhigen.

Und da war sie. Diese eine, kleine Stimme, die mir immer wieder die gleichen Sätze zuflüsterte.

Weil du dich auf einen Ven geprägt hast. Weil seit damals, als er dich mit diesem Zauber gerettet hat, sein Blut durch deine Adern fließt.

Halleluja. Scheiße. Nein.

Ich meine, es konnten doch jetzt nicht vollkommen wahllos irgendwelche Zeichen auf meiner Haut erscheinen!

Erstens, war das vollkommen gruselig - ehrlich! - und zweitens, was wäre, wenn das nächste Prae auf einmal einfach auf meinem Hals auftauchte?!

Dann wars das mit Alecs und meinem Geheimnis.

So ein Scheiß!

Und wofür standen diese bescheuerten Linien dieses Mal bitte?! Ich meine, so wie das mit den Praes ablief konnten die quasi für alles erscheinen!

Du bist hingefallen und hast dein Knie aufgeschlagen?! OH! Wie wäre es mit einem Tapferkeitsprae! Das war doch krank!

Ich zwang mich, tief durchzuatmen und mir selber fest in die Augen zu sehen.

Ruhig. Ganz Ruhig Aruna. Beruhig dich.

Doch auf einmal wirkte unser kleines Badezimmer, in das gerade mal eine ziemlich enge Dusche plus Toilette und Waschbecken gepasst hatte, viel zu erdrückend.

Ich zwang mich, meine Augen zu schließen, zwang mich ruhig zu bleiben, doch ich hielt es einfach nicht mehr aus.

Keuchend riss ich mich von dem Waschbecken los und warf meine Strickjacke über die verräterische Stelle meines Armes.

Das konnte doch einfach nicht wahr sein...

Ein weiteres, verfluchtes Prae.

Fehlte nur noch, dass sich die Lykanthropen an meiner Haut verbrannten, wenn ich sie anfasste!

Meine Angst und Verwirrung mischte sich mit Wut und Frustration und dann herrschte nur noch vollkommenes Chaos in meinem Kopf.

Schwer atmend taumelte ich aus dem Bad, stützte mich an der Wand ab und hätte dabei beinahe eine von Mums geliebten Topfpflanzen umgeschmissen, die sie auch hier oben lagerte.

Okay Aruna, tief durchatmen oder willst du vielleicht das ganze Haus wecken?!

Für einen Moment schloss ich meine Augen, atmete tief durch und schaffte es so, mich zumindest für den Moment ein bisschen zu beruhigen.

Nichts desto trotz musste ich hier raus.

Mein Wolf war wieder viel zu lange eingesperrt und gerade jetzt, in dem ganzen Wirbel meiner Gefühle, bekam ich das unglaubliche Bedürfnis, einfach nur zu rennen.

Schwer atmend schlich ich auf meine Zimmertür zu, um mich zu vergewissern, dass Cole nicht vielleicht doch noch auf mich wartete und mich dann suchen würde.

So wie ich den Idioten allerdings kannte war der vermutlich schon längst wieder tief und fest am schlafen, denn er war einer jener wenigen Menschen, die einfach die Augen schließen konnten und sofort einschliefen.

Wirklich, dafür beneidete ich ihn ungemein...

Mit angehaltenem Atem stieß ich meine Zimmertür auf und bei dem Bild, dass sich mir da bot hoben sich meine Mundwinkel automatisch zu einem liebevollen Lächeln.

Während Lupa und Phelan dicht an dicht auf der einen Seite meines hölzernen Doppelbettes lagen und tief und fest schlummerten, hatten es sich Eza und Cole auf den Matratzen meiner kleinen Geschwister gemütlich gemacht, die auf magische Weise auf den Boden meines Zimmers gewandert waren.

Tja und so unperfekt perfekt sie auch waren, so sehr sie ihre Hassliebe zur Show stellten, in diesem Moment wirkten sie wie eines dieser perfekten Paare.

Wange an Wange lagen sie da, während Cole ganz behutsam seinen Arm um Ezas ruhig atmenden Körper gelegt hatte, die Decke über die beide ausgebreitet.

Ich stemmte die Hände in die Hüften und musste grinsen. Wie viel sich innerhalb ein paar Wochen doch ändern konnte.

Ein letztes Mal sah ich zu meinen tief und fest schlafenden Geschwistern, die in diesem Moment einfach nur absolut goldig aussahen.

Ich erlaubte mir noch einen letzten Blick auf mein Zimmer, das so unglaublich bekannt schien.

Der hölzerne Kleiderschrank, in dem die linke Tür durch Fenris Geschick, Sachen aufzubauen, ziemlich schief hing und einem bereits ein wenig Einblick auf das Chaos in meinem Schrank gab.

Der dunkelblaue Teppich, sowie die Kommode in derselben Farbe, der angekritzelte Schreibtisch, der bereits Ylva gehört hatte und irgendwann ganz bestimmt Lupa gehören würde.

Die Wand, die auch ich mit Bildern vollgekleistert hatte.

Bilder von mir und meiner Familie, von Eza Cole und mir als Babys, Bilder, auf denen wir immer größer wurden. Bilder von Liam und Lily, wie ich breit grinsend neben ihnen stand. Und sogar ein paar Bilder von Ben und mir, die durch die Schule gezwungendermaßen gemacht wurden.

Und dazwischen noch alles mögliche andere Zeug, Bilder von Orten an die ich einmal reisen wollte, Bilder von Wölfen und Sonneuntergängen, von Schnee und Wiesen voller bunter Blumen.

Jep, vielleicht war ich in dieser Hinsicht genau so schlimm wie meine Eltern, dass ich alles vollkleistern musste.

Ich seufzte. Jetzt war ich also wirklich wieder Zuhause.

Langsam schloss ich die Tür wieder, weil der Wolf in mir langsam unruhig wurde.

So leise ich konnte ließ ich sie ins Schloss fallen und schlich dann die Treppe hinunter, warf einen schuldbewussten Blick in Richtung Schlafzimmer meiner Eltern und stieß dann die Tür nach draußen auf.

Und verdammt fühlte es sich gut an, einfach wieder vollkommen ungezwungen durch mein Dorf zu laufen. Zum ersten Mal seit langem fühlte ich mich einfach wieder frei, auch wenn in mir immer noch diese Unruhe war, die Verwirrung, fas Wut über die beschissenen, dunklen Linien auf meiner Haut.

Ich schnaubte.

»Das ist doch alles scheiße«, murmelte ich, ballte die Hände zu Fäusten, zog meine Schritte etwas an und zwang mich nicht mehr darüber nachzudenken.

Jetzt zählte einzig und allein das Rennen.

Vollkommen frei. Seit Monaten wieder vollkommen frei.

Ich brach durch die ersten Baumreihen, wurde immer schneller, joggte irgendwann, rannte.

Ich schloss die Augen, spürte, wie der Wind an mir vorbei heulte und vertraute einzig und allein auf meinen Instinkt, der mich die Bäume, denen ich auswich, auch mit geschlossenen Augen sehen ließ.

Und dann stellte ich mir meinen Wolf vor, die Wärme breitete sich in mir aus, es kribbelte.

Doch anstelle des kleinen, roten Wolfes, drängte sich ein anderer Wolf in den Vordergrund. Ein Wolf mit pechschwarzem, seidigen Fell und Augen so glühend rot wie die untergehende Sonne, größer noch als der Wolf meines Vaters, der Wolf eines Alphas.

Und als ich spürte, wie der Wind mein Fell erfasste und es hin und her wirbeln ließ, waren es tiefschwarze, riesige Pfoten, die auf den Boden donnerten und in Sekundenschnelle eine unglaubliche Geschwindigkeit aufbauten.

Mein Herz machte einen aufgeregten Aussetzer.

Denn in diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich nicht länger Aruna, die Rote Wölfin war.

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